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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Bad Wilsnack

Wohnhaus der Familie Lewinsohn in Bad Wilsnack
Foto: Anke Sengespeck
Wohnhaus der Familie Lewinsohn in Bad Wilsnack

Bereits Mitte des 18. Jh. gab es erste Bestrebungen von Juden, sich in Bad Wilsnack anzusiedeln. So „bat 1742 der Jude Abraham Marcus, Schutzjude in Wörlitz (Anhalt), um Erteilung eines Privilegs für Wilsnack, wo jetzt kein Jude wohne, und wollte 30 rt. in die Rekrutenkasse geben. Das Gesuch ging an die Judenältesten zur Stellungnahme. 1743 versuchten es Berend Elias und Levin Moses, Schutzjuden aus Jerichow. Doch auch sie wurden in Wilsnack nicht aufgenommen.“ Erst nach dem Emanzipationsedikt änderte sich dies mit der 1814 erfolgten Ansiedlung eines jüdischen Händlers, der in Wilsnack auch eine Gastwirtschaft betrieb. Fünf Jahre später lebten schon vier Juden in der Mediatstadt, von denen einer das Bürgerrecht besaß. Vor 1823 gehörte mit dem Handelsmann Jacob Joel Behrendt, seiner Frau Marianne, geb. Abraham und Tochter Gerline auch eine junge jüdische Familie zu den ca. 1.500 Einwohnern.

 Zu einer nennenswerten Vergrößerung der jüdischen Gemeinschaft, kam es dann in den 1840er Jahren mit dem Zuzug der Kaufmanns-Familien Michael Warschauer, Bondi Kirschstein und Isidor Manasse. Bis 1875 folgten noch die Familien Hermann Selchow, Moses Sänger und Georg Schweitzer. Alle stammten sie aus der preußischen Provinz Posen. Mit Adolf Lewinsohn und dem Schneider Salli Sinasohn ließen sich zudem zwei Familien aus dem benachbarten Wusterhausen/Dosse in Wilsnack nieder. Und sie waren im Textilgewerbe unterwegs, handelten mit Pferden, Fellen, Wolle sowie mit Kolonialwaren. Und damit beteiligten sich die Wilsnacker Juden an der Versorgung der Stadt bei und integrierten sich in den Alltag der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung. Zwischen 1859 und 1900 wurden allein hier 32 jüdische Kinder geboren, die anschließend die örtliche Schule besuchten.

1857 beteiligten sich Abraham Behrendt, Isidor Manasse, Michael Warschauer und Bondi Kirschstein an der Gründung der Synagogengemeinde zu Havelberg, der außer ihren Familien elf Familien aus Havelberg und zwei Familien aus Sandau angehörten. Vorausgegangen war diesem Akt das bereits 1847 erlassene Gesetz über die Verhältnisse der Juden, um den rechtlichen Status der Juden in den preußischen Provinzen anzugleichen und ihre Gemeinden den anderen Religionsgemeinschaften gleichzustellen. Die Synagogengemeinden erhielten damit allgemein gültige Korporationsrechte, aber alle in einem Synagogenbezirk lebenden Juden mussten hier fortan Mitglied sein.

Das religiöse Zentrum bildete Havelberg, wo nicht nur die Synagoge stand, sondern auch der Religionsunterricht für die Kinder stattfand. Diese Gemeinde beschäftigte neben einem Lehrer sogar einen Schächter und einen Vorbeter – gleichwohl aber in Personalunion. Allerdings gab es zwischen den Havelberger und Wilsnacker Juden immer wieder Streit um einen eigenen Lehrer für Wilsnack, dem man durch die Verweigerung der Steuerzahlung an die Synagogengemeinde Nachdruck verlieh. Man einigte sich schließlich, dass der Lehrer einmal pro Woche nach Wilsnack kam. Wie eine Anzeige in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums im Januar 1863 berichtet, gelang es den Juden aus Wilsnack dann tatsächlich, wenn auch nur kurzzeitig, mit J. Roienberg einen eigenen Schächter, Vorbeter und Lehrer zu finden. 1861 hatten sie gar und analog zu Wusterhausen einen Antrag auf Gründung einer Filial-Gemeinde gestellt, der jedoch vom Havelberg-dominierten Gemeindevorstand ebenso abgelehnt wurde wie durch die preußische Regierung.

Ob diese Entscheidung die sich anschließende Entwicklung vor Augen hatte, darf bezweifelt werden. Die jüdische Gemeinschaft in Wilsnack 1890 erreichte mit 43 Personen und einem Bevölkerungsanteil von 2% zwar ihren höchsten Mitgliederstand. Aber Industrialisierung und die Attraktivität der Großstädte hatten zur allmählichen Abwanderung aus der ländlich geprägten Prignitz geführt. Da Wilsnack mit diesem Problem nicht allein war, gab es Verhandlungen über eine Neubildung der Havelberger Synagogengemeinde durch Zusammenschluss mit den Juden der umliegenden Orte Neustadt, Wusterhausen, Dreetz und Siewersdorf. Offensichtlich verlief dieses Bestreben aber im Sande, weil die Wusterhausener und Neustädter dagegen Widerstand leisteten. Anfang 1870 verloren die Prignitzer Juden auch noch ihre Synagoge in Havelberg infolge eines Feuers. Wilsnack entwickelte sich dadurch zum neuen religiösen Zentrum der Region; zu den Feiertagen kam sogar ein Rabbiner aus Berlin.

Dennoch ließ sich der Abwärtstrend hinsichtlich der Zahl der Gemeindemitglieder nicht aufhalten. Noch vor der Jahrhundertwende wanderten junge Wilsnacker Juden komplett aus Deutschland aus; mit Hermann Manasse und seinem Cousin Max Manasse starben im Ersten Weltkrieg zwei aus Wilsnack stammende junge Juden. Anfang 1920 lebten nur noch fünf Juden in der Stadt: Max’ Eltern Louis und Bianca Manasse, der betagte Adolf Lewinsohn und seine Frau Henriette sowie Johanna Schweitzer.

Am Vorabend der NS-Herrschaft war Johanna Schweitzer als einzige Jüdin zurückgeblieben. Bevor sie 83-jährig im Juli 1941 in Bad Wilsnack starb, gab es mit dem zwei Jahre zuvor aus Berlin zugezogenen Max Baum noch einen weiteren Menschen jüdischer Herkunft. Er war evangelisch getauft und mit der Nichtjüdin Frieda Martha Baum verheiratet. Aufgrund der NS-Rassegesetzgebung schützte ihn dies nach ihrem Tod Ende 1942 aber nicht vor seiner Ermordung im November 1944.  

Von der ehemals in Bad Wilsnack lebenden jüdischen Gemeinschaft wurden 29 Personen in der Shoa ermordet. Sechs Juden waren durch ihre nichtjüdischen Ehepartner geschützt. Drei Familien gelang es bis 1939, sich der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik durch Emigration ins Ausland zu entziehen.

Anke Sengespeck

 

Quellen und Literatur

Allgemeine Zeitung des Judenthums, vom 20.01.1863 (Nr. 4).

Beitrag zur Statistik. Historisches Gemeindeverzeichnis des Landes Brandenburg 1875 bis 2005. Landkreis Prignitz, hrsg. vom Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik, Potsdam 2006, S. 14.

Michael Brocke, Eckehart Ruthenberg, Kai Uwe Schulenberg: Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland: (Neue Bundesländer/DDR und Berlin) Band 22. Institut Kirche und Judentum, Berlin 1994.

Lieselott Enders: Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 38), Potsdam 2020, S. 1077.

Dies.: Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Prignitz, Bd. I, (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 3), Potsdam 2012, S. 964.

Ulla Seeger / Anke Sengespeck: Im Herzen der Welt. Bad Wilsnacker Juden und ihre Familien im 19./ 20. Jahrhundert. Eine Spurensuche, Norderstedt 2019.

Wolfgang Weißleder: Der gute Ort. jüdische Friedhöfe im Land Brandenburg, hrsg. vom Verein zur Förderung Antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V., Potsdam 2002.