Versuchsstrafbarkeit
A. Einführung
Nicht immer wird eine Straftat vollendet – doch lässt dies eine Strafbarkeit entfallen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Es kommt darauf an!
Zunächst sollte jedoch, um die Versuchsprüfung besser verstehen zu können, die Strafwürdigkeit des versuchten Delikts näher erörtert werden:
Nach der objektiven Theorie liegt die Strafwürdigkeit des Versuchs gänzlich in der Gefährdung des durch den Tatbestand geschützten Rechtsgutes, mithin steht vorliegend das Erfolgsunrecht im Vordergrund. Diese Auffassung wird heutzutage als überholt angesehen und nur noch vereinzelt vertreten.
Nach der rein subjektiven Theorie ist allein die rechtsfeindliche Gesinnung des Täters ausschlaggebend, wobei eine tatsächliche Gefährdung nicht berücksichtigt wird – diese Theorie stellt gänzlich auf das Handlungsunrecht ab. Nachdem diese Theorie vereinzelt in der Rechtsprechung des Reichsgerichts sowie in der frühen Rechtsprechung des BGH zu finden ist, wird sie heutzutage aufgrund des Wortlautes der §§ 22, 23 StGB abgelehnt.
Die sog. subjektiv-objektive Versuchstheorie hingegen stellt zunächst auf das Handlungsunrecht ab, hierbei muss jedoch die Betätigung eines rechtsfeindlichen Willens hinzutreten. Somit wird nach dieser Theorie die in der rechtsfeindlichen Handlung hervorgetretene kriminelle Energie bestraft.
B. Thema
Die Versuchsprüfung richtet sich nach den §§ 22, 23 Abs. 1 StGB und gliedert sich in vier Prüfungspunkte:
In der sog. Vorprüfung wird geprüft, ob eine Strafbarkeit wegen Versuchs einschlägig sein könnte. Anschließend erfolgt die Prüfung des Tatbestandes, der Rechtswidrigkeit und der Schuld. Zuletzt erfolgt die Prüfung persönlicher Strafaufhebungsgründe, vornehmlich dem Strafaufhebungsgrund des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch gem. § 24 StGB.
0. Vorprüfung
Die Vorprüfung dient wie oben beschrieben dazu, herauszufinden, ob eine Strafbarkeit wegen Versuchs einschlägig sein könnte.
Hierzu wird zunächst vorausgesetzt, dass das Gesetz eine Strafe für das versuchte Delikt vorsieht. Hierzu muss zwischen Verbrechen und Vergehen differenziert werden: Gemäß § 23 Abs. 1 StGB ist der Versuch bei Verbrechen stets strafbar, bei einem Vergehen hingegen nur dann, wenn das Gesetz dies vorsieht. Wann ein Verbrechen und wann ein Vergehen vorliegt, bestimmt § 12 StGB: Gemäß § 12 Abs. 1 StGB sind Verbrechen rechtswidrige Taten, die mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 1 Jahr bedroht sind. Demgegenüber sind Vergehen rechtswidrige Taten, die gem. § 12 Abs. 2 StGB mit einer Mindestfreiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bedroht sind.
Sodann wird festgestellt, ob eine Vollendungsstrafbarkeit vorliegt. Diese ist zu bejahen, sofern alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Sollten noch nicht alle Merkmale erfüllt sein, so ist die Prüfung des Versuchs eröffnet.
I. Tatbestand
Sodann erfolgt die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit. Diese setzt den Tatentschluss sowie ein unmittelbares Ansetzen des Täters zur Tatbestandsverwirklichung voraus
1. Tatentschluss
Zunächst müsste der Täter mit Tatentschluss gehandelt haben. Dies bedeutet, dass er alle Umstände, die im Falle ihrer Verwirklichung den Tatbestand des Totschlags erfüllt hätten, in seine Vorstellung von der konkreten Tat aufgenommen hat.
2. Unmittelbares Ansetzen
Zur Bejahung einer Versuchsstrafbarkeit müsste der Täter auch unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt haben. Das Kriterium des unmittelbaren Ansetzens dient der Abgrenzung zwischen dem strafbaren Tatversuch und einer grds. straflosen Vorbereitungshandlung. Nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre setzt zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar an, wer mit seiner Handlung subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschreitet und objektiv eine Handlung vornimmt, die bei ungehindertem Fortgang ohne räumlich-zeitliche Zäsur unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung mündet.
II. Rechtswidrigkeit/Schuld
Im Rahmen der Rechtswidrigkeits- und Schuldbeurteilung kommen die allgemeinen Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe in Betracht. Insoweit ergeben sich keine Besonderheiten.
III. Keine persönlichen Strafaufhebungsgründe
Als persönlicher Strafaufhebungsgrund kommt der strafbefreiende Rücktritt gem. § 24 StGB in Betracht. Bei mehreren Beteiligten ist dieser isoliert für jeden Beteiligten zu prüfen, da es sich um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund handelt, der nicht bei jedem Beteiligten automatisch erfüllt ist.
Auch hierbei werden verschiedene Ansätze über die ratio legis des Strafaufhebungsgrundes des Rücktritts vom Versuch vertreten:
Der sog. „Goldene-Brücke-Theorie“ zufolge – einem kriminalpolitischen Ansatz – müsse dem Täter, der von der weiteren Tatausführung absieht bzw. dem Täter, der die Tatvollendung verhindert, eine goldene Brücke zurück in die Legalität gebaut werden.
Nach der sog. „Verdienstlichkeits- oder Gnadentheorie“ soll derjenige Täter belohnt werden, der den Rechtsfrieden wiederherstellt. Begründet wird diese Ansicht damit, dass der Täter durch den Rücktritt den Unwert der Tat zumindest teilweise wiederausgleiche, was ein allgemeines Strafbedürfnis für das versuchte Delikt entfallen ließe.
1. Kein fehlgeschlagener Versuch
Der Versuch darf zunächst nicht fehlgeschlagen sein. Nach der herrschenden Gesamtbetrachtungslehre ist der Versuch dann fehlgeschlagen, wenn der Täter nach Abschluss seiner letzten Tathandlung meint, dass er sein tatbestandliches Ziel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ohne eine zeitliche oder räumliche Zäsur erreichen kann.
2. Unbeendeter/beendeter Versuch
Sodann muss zwischen dem beendeten und dem unbeendeten Versuch differenziert werden, da sich hieraus die spezifische Rücktrittsvoraussetzung ergibt.
a) Beendeter Versuch
Ein beendeter Versuch iSv. § 24 Abs. 1 S. 1 2. Var. StGB ist gegeben, sofern der Täter glaubt alles getan zu haben, was nach seiner Vorstellung von der Tat zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs notwendig oder möglicherweise ausreichend ist.
b) Unbeendeter Versuch
Dementgegen liegt ein unbeendeter Versuch iSd. § 24 Abs. 1 S. 1 1. Var. StGB vor, sofern der Täter glaubt, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen und die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich erscheint.
3. Spezifische Rücktrittsvoraussetzung iSv. § 24 StGB
Wie oben angesprochen, unterscheiden sich die spezifischen Rücktrittsvoraussetzungen je nach Versuchstyp:
Während der Täter glaubt, noch nicht alles Erforderliche zur Erreichung des tatbestandsmäßigen Erfolges getan zu haben – mithin dann, wenn ein unbeendeter Versuch vorliegt – so genügt die Aufgabe der weiteren Tatausführung. Dies bedeutet, von der weiteren Realisierung des Entschlusses, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen, aufgrund eines entsprechenden Gegenentschlusses Abstand zu nehmen.
Glaubt der Täter jedoch, bereits alles Erforderliche zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs Notwendige getan zu haben, so muss er die Vollendung der Tat nach herrschender Meinung verhindern. Hierzu wird vorausgesetzt, dass der Täter zur Verhinderung der Tatvollendung mindestens bewusst und gewollt eine neue Kausalreihe in Gang setzt, die für das Ausbleiben der Vollendung wenigstens mitursächlich wird.
4. Freiwilligkeit
Zuletzt müsste der Täter freiwillig gehandelt haben. Freiwillig – und somit aus autonomen Motiven heraus – handelt, wer nicht durch zwingende Hinderungsgründe zum Handeln veranlasst wird, sondern wenn der Rücktritt der eigenen, inneren Überlegung des Täters entspringt. Unfreiwillig – und somit aus heteronomen Motiven heraus – handelt hingegen, wer durch äußere, zwingende Einwirkungen unfreiwillig zurücktritt. Die Freiwilligkeit des Rücktritts ist insbesondere immer dann zu verneinen, wenn der Täter sich aus Angst vor der Strafverfolgung vor erreichen des tatbestandsmäßigen Erfolges – durch Eintreffen der Polizei oder möglichen Zeugen bzw. durch die Wahrnehmung der Sirene des Streifenwagens – vom Tatort entfernt.
5. Zwischenergebnis
Liegen alle Voraussetzungen vor, so ist der Täter strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten.
IV. Ergebnis
Ist der Täter strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten, so scheidet eine Strafbarkeit wegen Versuchs aus. Ist er nicht zurückgetreten, so ist die Strafbarkeit wegen Versuchs einschlägig.
C. Werkzeuge
0. Vorprüfung 1. Keine Vollendungsstrafbarkeit 2. Strafbarkeit des Versuchs II. Tatbestand 1. Tatentschluss 2. Unmittelbares Ansetzen III. Rechtswidrigkeit/Schuld IV. Keine persönlichen Strafaufhebungsgründe |
D. Anwendung
Fall 1: Thimo hat mitbekommen, dass ihn seine Freundin Anna mit seinem besten Freund Max betrügen solle. Daher fasst er den Plan, Max zu erstechen.
Am nächsten Abend trifft er sich mit Max, um ihm unter dem Vorwand eines persönlichen Gesprächs näherkommen und ihn erstechen zu können. Voller Wut zieht er sein Messer und sticht einmal auf Max ein, während dieser schreit: „Hör auf Thimo, Anna betrügt dich nicht, das war nur eine Wette!“ Thimo ist der Auffassung, dass Max ihn in dieser Situation nicht anlügen würde und sieht von weiteren Stichen ab. Er wählt den Notruf, verbindet die Stichwunde notdürftig und wählt anonym den Notruf. Im Nahbereich des Tatorts wird Thimo von einer Streife vorläufig festgenommen. Strafbarkeit des Thimo?
Lösung:
I. Strafbarkeit wegen Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB II. Strafbarkeit wegen versuchtem Totschlag gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 12 Abs. 1 StGB StGB 0. Vorprüfung b) Strafbarkeit des Versuchs 1. Tatbestandsmäßigkeit a) Tatentschluss b) Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB c) Zwischenergebnis 2. Rechtswidrigkeit / Schuld 3. Keine persönlichen Strafaufhebungsgründe a) Kein fehlgeschlagener Versuch b) (un-)beendeter Versuch c) Spezifische Rücktrittsvoraussetzung d) Freiwilligkeit e) Zwischenergebnis 4. Ergebnis |
Fall 2: Alfred und Bernd sind Nachbarn und streiten sich regelmäßig über Banalitäten. Als Bernd eines Abends wieder zu laute Musik hört, fasst Alfred den Plan, den Bernd zu töten. Hierzu will er ihn aus seiner Wohnung locken und hinterrücks erstechen.
Alfred geht auf den Hausflur, dreht die Sicherung für das Treppenhaus und die Wohnung des Bernd heraus und versteckt sich im dunklen Treppenhaus. Bernd, der sich wundert, wieso der Strom ausgefallen ist, betritt das Treppenhaus. Alfred nähert sich ihm leise und sticht ihm 16 cm langes Küchenmesser knapp unterhalb der Brust in den Oberkörper und zieht es schnell wieder heraus, um keine unnötigen Spuren am Tatort zu hinterlassen und verlässt den Tatort in der Erwartung, Bernd werde verbluten.
Bernd konnte sich in letzter Minute noch zu einem Nachbarn retten, der den Notruf tätigt. Ohne alsbaldige intensivmedizinische Versorgung wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstorben. Alfred wird kurze Zeit von der Kriminalpolizei in seiner Wohnung vorläufig festgenommen. Wie hat er sich strafbar gemacht?
Anm.: § 211 StGB ist nicht zu prüfen!
Lösung:
I. Strafbarkeit wegen Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB II. Strafbarkeit wegen versuchtem Totschlag gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 12 Abs. 1 StGB 0. Vorprüfung b) Strafbarkeit des Versuchs 1. Tatbestandsmäßigkeit a) Tatentschluss b) Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB c) Zwischenergebnis 2. Rechtswidrigkeit / Schuld 3. Keine persönlichen Strafaufhebungsgründe a) Kein fehlgeschlagener Versuch b) (un-)beendeter Versuch c) Spezifische Rücktrittsvoraussetzung d) Zwischenergebnis 4. Ergebnis |