Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG
A. Einführung
Demonstrationen und öffentliche Versammlungen, auf denen Menschen auf politische Anliegen aufmerksam machen, kennt man aus der Berichterstattung der Medien. Die Anliegen der Demonstrierenden können dabei höchst unterschiedlich sein: Fridays for Future gehen für eine andere Klima- und Umweltpolitik auf die Straße, Pulse of Europe hat im Vorfeld der letzten Europawahl für die europäische Idee demonstriert und während der Corona-Pandemie wurden immer wieder sehr unterschiedliche Gruppen Proteste veranstaltet, die sich beispielsweise gegen Kontaktbeschränkungen oder eine Impfpflicht richteten. Man sieht also: In einer Demokratie gehören Demonstrationen dazu. Die Versammlungsfreiheit steht in engem Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 III GG). Nicht nur durch Wahlen, sondern auch dadurch, dass Menschen zur gemeinsamen Willensentäußerung zusammenkommen können, wird Teilhabe an demokratischen Prozessen ermöglicht.
Dass Menschen sich friedlich versammeln dürfen, ist daher auch durch die Verfassung geschützt. Gemeinsam mit Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) und Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit) stellt die Versammlungsfreiheit ein sog. Kommunikationsgrundrecht dar. Gemeinsam ist diesen Grundrechten, dass diese Form der Kommunikation –durch das Versammeln und Zusammentreffen mit anderen Menschen - unter bestimmten Voraussetzungen, die unten näher erläutert werden sollen, vom Staat ermöglicht und geschützt werden sollen.
B. Art. 8 GG
I. Schutzbereich
1.Persönlicher Schutzbereich
Art. 8 GG ist ein sog. „Deutschengrundrecht“. Das bedeutet, dass die Gewährleistungen eines Grundrechts nur für „Deutsche“ i.S.v. Art. 116 I GG gelten. Nicht-Deutsche können sich auf das sog. „Auffanggrundrecht“ oder auch „Jedermanngrundrecht“ i.S.d. Art. 2 I GG berufen. Wie damit umzugehen ist, dass für „Deutsche“ i.S.d. Art. 116 I GG andere Maßstäbe gelten sollen, als für „Ausländer“ ist unter Jurist*innen zum Teil umstritten. Nach überwiegender Auffassung entfaltet Art. 2 I GG eine vergleichbare Schutzwirkung für Ausländer, die von den sog. „Deutschengrundrechten“ ansonsten ausgeschlossen wären.
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Versammlungen
Geschützt i.S.d. Art. 8 GG sind Versammlungen von Menschen. Eine Versammlung stellt eine örtliche Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zu einem gemeinsamen Zweck dar. Rein zufällige Zusammenkünfte reichen nicht aus, da diese keine innere Verbindung aufweisen. Die Zuhörer*innen eines Konzerts verfolgen zwar einen gleichen Zweck, das Hören der Musik, dies stellt aber nicht automatisch einen gemeinsamen Zweck dar, da sie sich gegenseitig für die Zweckverfolgung nicht brauchen.
Wie ein solcher gemeinsamer Zweck i.S.d. Art. 8 GG ausgestaltet sein muss, kann unterschiedlich beurteilt werden. Einige gehen davon aus, dass der Zweck einer Versammlung in der gemeinsamen Meinungsbildung und/oder -äußerung einer öffentlichen Angelegenheit liegen muss. Beispiele für solch öffentlichen Angelegenheiten sind politischen Beschlüsse zu neuen „Corona-Auflagen“ oder einer „Schulreform“ durch den Bundestag.
Eine andere Ansicht geht davon aus, dass der Zweck der Versammlung zu irgendeiner Angelegenheit ausreicht und dieser Versammlungszweck mithin nicht auf bestimmte Angelegenheiten begrenzt sein muss. Ausreichen könnte somit beispielsweise ein gemeinsames Musizieren, ein Vereinsabend eines Sportclubs oder ein sog. „Flashmob“.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) legt den Zweck einer Versammlung dahingegen restriktiver auf die „Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung“ aus. Diese Auffassung versucht einen Mittelweg zwischen den ersten beiden Ansichten zu finden. Einerseits sind die Kriterien für den Versammlungszweck enger gefasst, sodass nicht jede Versammlung ausreicht, um unter den sachlichen Schutzbereich von Art. 8 GG zu fallen. Andererseits muss es sich nicht um öffentliche bzw. politische Angelegenheiten im engeren Sinne handeln. Nach dieser Auffassung des BVerfG würde ein gemeinsames Musizieren beispielsweise nicht ausreichen, damit eine Versammlung nach Art. 8 GG vorliegt. Jede Versammlung die eine öffentliche Meinungsbildung zum Gegenstand hat, hingegen schon, wie beispielsweise eine Versammlung von Schüler*innen, die sich über die Lehrbedingungen an ihren Schulen im Bundesland XY beschweren.
Für jede Versammlung gilt darüber hinaus, dass die Teilnehmer*innen der Versammlung körperlich anwesend sein müssen. Reine „Online-Treffen“ genügen daher nicht den Anforderungen an den Versammlungsbegriff, der wesentlich darauf beruht, dass Menschen sich tatsächlich begegnen, zusammenkommen und öffentlich auf ein Anliegen aufmerksam machen.
b) Friedlichkeit
Art. 8 I GG schützt Versammlungen, die „friedlich und ohne Waffen“ stattfinden. Eine Versammlung ist friedlich, wenn sie keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt. Gewalttätigkeit liegt dann vor, wenn Menschen aktiv körperlich und aggressiv auf Personen oder Sachen einwirken. Diese Formen des Protests werden von der Rechtsordnung nicht gebilligt und unterfallen daher auch nicht mehr dem grundgesetzlichen Schutz. Sollten solchen Aktionen nur von einzelnen Teilnehmer*innen ausgehen, dürfen daraus keine Rückschlüsse und Konsequenzen für die gesamte Versammlung gezogen werden. Die Versammlung kann weiterhin „friedlich“ sein. Erst wenn eine Mehrheit oder die Versammlungsleitung aggressiv und aktiv einwirken, verliert die Versammlung insgesamt den Schutz. Das Tragen von Waffen und/oder gefährlichen Gegenständen ist eines der Indizien für einen aufrührerischen, aggressiven Verlauf der Versammlung. Grund dafür ist, dass diese eine erhebliche Gefahr für Teilnehmer*innen, aber auch Externe darstellen. Pistolen, Messer, aber auch gefährliche Gegenstände, wie Eisenketten gehören dazu, insoweit sie in der Lage sind eine Verletzung von Personen oder Beschädigung von Sachen herbeizuführen. Bereits das Tragen dieser Gegenstände kann den Schutz der Versammlungsfreiheit aufheben.
c) Unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen
Art. 8 II GG stellt hinsichtlich der Möglichkeiten durch oder auf Grund eines Gesetzes einzuschränken darauf ab, ob die Versammlung „unter freiem Himmel“ stattfindet. Unter freiem Himmel ist dabei nicht wörtlich zu verstehen. Maßgeblich ist nicht, ob es sich um einen „nach oben“ offenen Raum handelt, sondern vielmehr, ob die Versammlung frei zugänglich ist, also die Möglichkeit besteht, dass sich weitere Teilnehmer*innen anschließen. Eine Versammlung findet unter freiem Himmel statt, wenn sie auf öffentlichen Flächen, Plätze und Straßen, die dem allgemeinen Publikumsverkehr gegenüber geöffnet sind, erfolgt. Dazu gehören beispielsweise auch Einkaufszentren, obwohl diese natürlich meistens überdacht sind. Unter „geschlossenen Räumen“ versteht man dahingegen Versammlungen, die weder öffentlich für jedermann zugänglich noch ohne Publikumsverkehr stattfinden, wie beispielsweise eine Parteiversammlung, für die ein Saal gemietet wurde.
II. Eingriffe
Der Freiheit sich zu versammeln kann der Staat bestimmte Grenzen setzen. In Art. 8 II GG haben wir bereits gesehen, auf welche Art von Versammlungen sich diese Beschränkungen dem Grundgesetz nach beziehen können. Ein Eingriff ist zunächst einmal jede staatliche Maßnahme, welche die Ausübung der grundrechtlichen Freiheiten einschränkt oder gar von Anfang an unmöglich macht. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit können demnach alle Maßnahmen und Handlungen des Staates sein, die dazu führen, dass eine Versammlung nicht wie geplant stattfinden kann. Beispielsweise könnten von der zuständigen Behörde Auflagen erteilt werden (in der Corona-Pandemie z.B. Abstandsgebote oder die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske); ein besonders schwerwiegender Eingriff wäre ein Verbot der Versammlung; aber auch Anmeldepflichten, Behinderungen oder Überwachungen stellen Eingriffe in die Versammlungsfreiheit dar.
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
1. Schranken
Art. 8 II GG enthält einen einfachen Gesetzesvorbehalt, der besagt, dass Versammlungen unter freiem Himmel (dazu s.o.) durch oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden können. Versammlungen in geschlossenen Räumen unterliegen diesem Gesetzesvorbehalt nicht und können damit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht, d.h. andere Grundrechte beschränkt werden. Diese Unterscheidung beruht auf der unterschiedlichen Gefährlichkeit von Versammlungen unter freien Himmel und solchen in geschlossenen Räumen. Durch den Kontakt mit dem allgemeinen Publikumsverkehr können sich Spannungen und Konflikte ergeben, die Versammlungen besonders störanfällig und gefährlich machen.
2. Schranken-Schranken
Wie Art. 8 I GG besagt, dürfen sich Menschen ohne „Anmeldung oder Erlaubnis“ versammeln. Dies stellt eine sog. Schranken-Schranke dar. Auch unter den Bedingungen einer Pandemie dürfen daher Versammlungen nicht von einer vorherigen Erlaubnis abhängig gemacht werden. Da Versammlungen unter freiem Himmel iSd. Art. 8 II GG dahingegen beschränkt werden dürfen, können gerade diese aufgrund eines Gesetzes gewissen Einschränkungen unterworfen werden. Die in den Versammlungsgesetzen vorgesehene Anmeldung darf nicht zur Pflicht gemacht und ihre Nichterfüllung nicht sanktioniert werden. Sie darf lediglich als Obliegenheit ausgestaltet werden, deren Erfüllung gewährleistet, dass die Polizei rechtzeitig vom Vorhaben der Versammlung weiß und zum Schutz ihres reibungslosen, verkehrssicheren Ablaufs und damit zum Schutz der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ausreichende Maßnahmen treffen kann.
Gebrauch davon macht u.a. das Versammlungsgesetz (VersG), sowie das Polizei- und Ordnungsrecht. Insoweit das VersG anwendbar ist, verdrängt dieses als lex speciales das Polizei- und Ordnungsrecht. Bezeichnet wird das als „Polizeifestigkeit“. Der Begriff „Polizeifestigkeit“ bringt den Vorrang des Spezialgesetzes, hier des VersG, vor dem allgemeinen Gesetz zum Ausdruck und führt dazu, dass sich die Polizei beim Vorliegen einer Versammlung nicht mehr auf die Normen des Polizeigesetzes, sondern ausschließlich auf die des Versammlungsgesetzes beziehen darf. Dadurch soll die Umgehung der Normen des VersG und der Schutz des Grundrechts gewährleistet sein.
Exkurs: Das Versammlungsrecht (VersG)
Das Versammlungsrecht ist besonderes Polizei- und Ordnungsrecht. Seine Aufgabe ist die Abwehr der besonderen Gefahren, die durch Versammlungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entstehen. Das Versammlungsgesetz ist nicht abschließend. Es regelt nur die öffentliche Versammlung in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel, nicht die nichtöffentliche Versammlung, die ebenfalls in geschlossenem Raum und unter freiem Himmel stattfinden kann. Die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht oblag bis 2006 dem Bund. Eine Gesetzgebungskompetenz bezeichnet das Recht, Gesetze erlassen zu dürfen. In Deutschland können Bund und Länder diese erlassen, wobei nach der Verfassung die Länder grundsätzlich das Recht der Gesetzgebung haben. Seit der Föderalismusreform 2006 kommt den Ländern diese Kompetenz zu und sie können eigenständig Versammlungsrecht erlassen. Machen sie von dieser Kompetenz allerdings kein Gebrauch, gilt das Versammlungsrecht des Bundes weiter i.S.d. Art. 125a GG. Inzwischen haben Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein ein eigenes Landesgesetz erlassen und damit von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. Das Versammlungsgesetz macht in §14 VersG die Anmeldung der Versammlung zu einer Pflicht, die die Veranstalter*innen 48 Stunden vor Ankündigung der Versammlung zu erfüllen haben, und sanktioniert diese Pflicht dadurch, dass es gem. §15 Abs. 3 VersG die Versammlungsbehörde zur Auflösung der nichtangemeldeten Versammlung ermächtigt. Unter „Anmeldung“ ist in diesem Zusammenhang keine „Genehmigung“ gemeint. Die Anmeldung ist kein Antrag auf Erlaubnis der Versammlung, weil diese keiner Erlaubnis bedürfen. Da dies in Art. 8 I GG eingreift, stellt eine Auflösung bei Nichtanmeldung i.S.d. § 15 III VersG ein sog. ultima ratio –, das zuletzt zu ergreifende Mittel, dar. Ausnahmen dieser Anmeldepflicht des § 14 I VersG stellen Eil- und Spontanversammlungen dar. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die 48-Stunden-Frist nicht einhalten können. Spontanversammlungen bilden sich aus plötzlichem oder aktuellem Anlass und haben in der Regel keine Veranstalter*innen. Es handelt sich um eine Spontanversammlung, wenn z.B. eine bekannte Persönlichkeit stirbt und sich daraufhin Fans vor dem Haus dieser Person versammeln, um Beileid zu bekunden und Kerzen anzünden. Eilversammlungen hingegen finden aus plötzlichem Anlass statt. Sie werden von Veranstalter*innen organisiert, wohingegen das Abwarten der 48-Stunden-Frist das Ziel der Versammlung vereiteln würde. Die Frist des § 14 I VersG lässt sich dann wegen der besonderen Eilbedürftigkeit nicht mehr wahren. Beschließt z.B. der Bundestag eine Maßnahme, die bereits am nächsten Tag greifen soll und möchten A und seine Freund*innen vor der Umsetzung am kommenden Tag dagegen protestieren, so stellt dies eine Ausnahme von der Anmeldungspflicht aus § 14 VersG dar. Eine Auflösung der Eilversammlung wegen der Nichteinhaltung der Frist wäre daher verfassungswidrig, da die Regelungen des Versammlungsgesetzes verfassungskonform ausgelegt werden müssen.
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C. Werkzeuge
Versammlung | Eine Versammlung stellt eine örtliche Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zu einem gemeinsamen Zweck dar. Zweck einer Versammlung muss nach vermittelnder Ansicht die „Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung“ sein. |
Friedlich | Friedlich ist eine Versammlung dann, wenn sie keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt. |
Versammlung in geschlossenen Räumen | Eine Versammlung findet in geschlossenen Räumen statt, insoweit diese weder öffentlich für jedermann zugänglich, noch ohne Publikumsverkehr stattfindet. Unter freien Himmel meint Flächen, Plätze und Straßen, die dem allgemeinen Publikumsverkehr gegenüber geöffnet sind. |
D. Wiederholungsfragen