Der übergesetzliche entschuldigende Notstand
A. Einführung
Der übergesetzliche entschuldigende Notstand ist nicht in den Gesetzestext aufgenommen worden. Die Entwicklung des übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes folgt aus den Grenzen, die sich aus § 35 Abs. 1 S. 1 StGB und § 34 StGB ergeben. Der Hauptanwendungsfall liegt beim quantitativen Lebensnotstand, also der Tötung von Menschen um eine größere Anzahl zu retten. Erfasst sind Sachverhalte der nahezu unlösbaren Pflichtenkollision, welche einen schweren Gewissenskonflikt hervorruft.
B. Der übergesetzliche entschuldigende Notstand
Beispiel: Ein auf einer Gebirgsstrecke heranrasender Güterzug droht mit einem vollbesetzten Personenzug zu kollidieren. Um den Zusammenstoß zu verhindern, stellt der Weichensteller die Weiche um, sodass der Güterzug auf das andere Gleis umgelenkt wird. Wie der Weichensteller weiß, befinden sich dort fünf Gleisarbeiter, die vom Güterzug erfasst werden und versterben. Eine Rechtfertigung über § 34 StGB scheitert an der Unabwägbarkeit menschlichen Lebens. Eine Entschuldigung über § 35 StGB kommt nicht in Betracht, da der Weichensteller keine Angehörigen oder ihm nahestehende Personen rettet.
Ein pauschaler Ausschluss einer Entschuldigung leuchtet nicht ein, weil sich der Täter in einer ebenso außergewöhnlichen Motivationslage befindet. Sein Nichtstun würde zum Tode vieler Menschen führen, die er hätte retten können, wobei die Rettung zu Lasten einer geringeren Anzahl von Menschenleben führen würde. Dieser besondere Konflikt erfordert Nachsicht. Der übergesetzliche Entschuldigungsgrund muss seinen Ausnahmecharakter beibehalten.
Für den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand gelten nach der h.M. alle Voraussetzungen und Einschränkungen des § 35 StGB.
Der übergesetzliche entschuldigende Notstand setzt zunächst eine Gefahr für das Leben voraus, weil dann von einer Schwere des Gewissenskonflikts ausgegangen werden kann. Umstritten ist, ob auch Leib und Freiheit erfasst sind. Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Konflikt weder mit den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes, noch des entschuldigenden Notstandes gelöst werden kann. Neben der Gefahrabwendungsabsicht ist erforderlich, dass dem Täter die Hinnahme der Gefahr nicht zuzumuten war.
Umstritten ist, ob der Täter das objektiv kleinere Übel gewählt haben muss oder mindestens eine Gleichwertigkeit der geschützten Interessen erforderlich ist. Hier geht es um das zahlenmäßige Überwiegen, welches bei § 34 StGB nicht berücksichtigt werden darf. Ebenfalls umstritten ist, ob die Gefahr auch Unbeteiligte – hier die Gleisarbeiter – übergewälzt werden darf. Dafür spricht, dass sich der Täter wohl auch in einem Gewissenskonflikt befindet, wenn er Unbeteiligte opfert. Da es sich um einen ungeschriebenen Entschuldigungsgrund handelt, bedarf es einer restriktiven Handhabung. Der Täter nimmt bei der Überwälzung der Gefahr auf Unbeteiligte ihr Schicksal in die Hand. Dies spricht gegen eine Entschuldigung in solchen Konstellationen.
C. Werkzeuge
Prüfungsaufbau
I. Notstandslage 1. Lebensgefahr 2. Gegenwärtigkeit der Lebensgefahr II. Notstandshandlung Die Handlung ist nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt oder nach § 35 StGB entschuldigt. Ethische Gesamtbetrachtung: Die Handlung stellt das einzige Mittel dar, um ein größeres Übel zu vermeiden. III. Fehlende Zumutbarkeit der Gefahrhinnahme § 35 Abs. 1 S. 2 StGB analog IV. Subjektives Rechtfertigungselement
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