Verfassungsbeschwerde
A. Einführung
Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte sind wie bereits hier beschrieben Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Doch was kann nun genau unternommen werden, sofern der Staat in eben diese Rechte eingreift?
Abhilfe kann hierbei die Verfassungsbeschwerde schaffen – ein mächtiges, jedoch gegenüber sonstigem gerichtlichem Rechtsschutz nachrangiges Instrument zur Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen. Die Verfassungsbeschwerde ist immer dann einschlägig, wenn der Bürger als Beschwerdeführer behauptet, durch die öffentliche Gewalt möglicherweise in seinen Grundrechten bzw. in seinen grundrechtsgleichen Rechten verletzt worden zu sein. Zuständig für die Bearbeitung dieser Verfahren ist das Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe als sog. „Hüterin der Verfassung“ – dies ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG iVm. §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG [Bundesverfassungsgerichtsgesetz].
Der nachfolgende Beitrag soll dazu dienen, ein solides Grundwissen zum Instrument der (Individual-)Verfassungsbeschwerde als häufigstes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht aufzubauen.
B. Die Verfassungsbeschwerde
Je nach angegriffenem Akt der hoheitlichen Gewalt seitens des Beschwerdeführers lässt sich zwischen den folgenden drei Arten einer Verfassungsbeschwerde differenzieren: Es existiert die Rechtssatzverfassungsbeschwerde und die Urteilsverfassungsbeschwerde als Individualverfassungsbeschwerden sowie die Kommunalverfassungsbeschwerde. Alle Arten haben gemeinsam, dass sie ohne Zutun eines Rechtsanwalts eingereicht werden können – aufgrund der Komplexität des Verfahrens ist die Unterstützung durch einen erfahrenen Rechtsanwalt jedoch wohl ratsam. Ab der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht herrscht jedoch gem. § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG Anwaltszwang, sodass der Beschwerdeführer ab diesem Zeitpunkt anwaltlich vertreten sein muss, um postulationsfähig zu sein.
Gemäß § 34 Abs. 1 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde kostenfrei erhoben werden – im Falle eines Missbrauchs kann dem Beschwerdeführer jedoch gem. § 34 Abs. 2 BVerfGG eine Missbrauchsgebühr iHv. maximal 2.600€ auferlegt werden. Dies geschah im Jahre 2018 8 Mal, wobei den jeweiligen Beschwerdeführern Gebühren iHv. 200€ bis 1.500€ auferlegt wurden.
Die gutachterliche Prüfung einer Verfassungsbeschwerde untergliedert sich stets in die Prüfung der Zulässigkeit und der Begründetheit – somit hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
I. Ziele und Unterschiede
Wie bereits erwähnt können mit den unterschiedlichen Arten der Verfassungsbeschwerde verschiedene Ziele verfolgt werden.
Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde kann durch „Jedermann“ (vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG) erhoben werden, sofern diese juristische oder natürliche Person geltend macht, möglicherweise durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in Ihren Grundrechten verletzt zu sein. Als Akt der öffentlichen Gewalt sind hierbei Gesetze zu verstehen.
Wendet sich der Beschwerdeführer hingegen mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen ein letztinstanzliches Urteil, so ist dieses auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen.
Häufig missverstanden wird die Urteilsverfassungsbeschwerde als eine Art „letzte Instanz“, innerhalb derer eine komplett neue Beurteilung des Sachverhalts vorgenommen wird. Juristisch korrekt ist indes, dass lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts geprüft wird – das Bundesverfassungsgericht ist somit keine Super-revisions-instanz.
Die Kommunalverfassungsbeschwerde wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Diese findet Anwendung, wenn eine Gemeinde möglicherweise in ihrem Recht aus Art. 28 Abs. 2 GG auf kommunale Selbstverwaltung durch Akte des Bundes beeinträchtigt ist.
II. Prüfungsaufbau
Eine Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.
1. Zulässigkeit
Zunächst müsste die Verfassungsbeschwerde zulässig sein. Dies ist, der Fall, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen erfüllt sind. Bereits an der Zulässigkeitshürde scheitern viele Verfassungsbeschwerden.
a) Zuständigkeit
Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG iVm. §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG.
b) Beschwerdefähigkeit
Der Beschwerdeführer müsste ferner beschwerdefähig sein. Die Beschwerdefähigkeit bestimmt sich nach § 90 Abs. 1 BVerfGG, wonach „Jedermann“ beschwerdefähig ist. Jedermann im Sinne dieser Vorschrift ist jeder Träger von Grundrechten.
Weiterhin muss der Beschwerdeführer prozessfähig sein, was zwar nicht explizit im BVerfGG geregelt ist, sich jedoch aus einer Analogie zum sonstigen Verfahrensrecht (siehe §§ 51, 52 ZPO, 62 VwGO) ergibt. Diese ist bei volljährigen, geschäftsfähigen Personen iSd. bürgerlichen Rechts unproblematisch zu bejahen – ansonsten richtet sich die Prozessfähigkeit nach der Grundrechtsmündigkeit, welche sich nach herrschender Auffassung nicht nach dem Alter, sondern nach der Einsichts- und Erkenntnisfähigkeit des Beschwerdeführers bestimmt.
c) Beschwerdegegenstand
Beschwerdegegenstand ist gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG „jeder Akt der öffentlichen Gewalt“, somit jede Maßnahme der Legislative, Judikative oder Exekutive. Maßnahme ist hierbei jedes rechtserhebliche Tun oder Unterlassen.
Handelt es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde, wird eine Maßnahme der Legislative angegriffen. Handelt es sich dementgegen um eine Urteilsverfassungsbeschwerde, so ist der Beschwerdegegenstand eine Maßnahme der Judikative oder der Exekutive.
d) Beschwerdebefugnis
Die Prüfung der Beschwerdebefugnis erfolgt zweigeteilt: Erstens muss die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen und zweitens muss der Beschwerdeführer selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein.
aa) Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung
Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung besteht immer dann, wenn der Beschwerdeführer zumindest möglicherweise in seinem Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sein könnte. Es ist somit in diesem Prüfungspunkt anzusprechen, welche Grundrechtsverletzungen überhaupt in Frage kommen – die genaue Prüfung der genannten Grundrechte erfolgt indes im Rahmen der Begründetheit.
bb) selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen
Ferner müsste der Beschwerdeführer durch den Akt der öffentlichen Gewalt selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein.
Selbst ist betroffen, wer möglicherweise in eigenen Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. Unmittelbar ist der Beschwerdeführer betroffen, wenn kein weiterer Vollzugsakt mehr von Nöten ist. Gegenwärtig ist betroffen, wer aktuell, d.h. schon oder noch, betroffen ist.
e) Form und Frist
Die Form und Frist der Gesetzesverfassungsbeschwerde richten sich nach den §§ 23 Abs. 1, 92, 93 Abs. 1, 3 BVerfGG.
Nach § 23 Abs. 1 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde schriftlich und begründet zu erheben. Dies meint, dass sie auf einem dauerhaften Datenträger verkörpert sein muss – somit genügt, sofern die Urheberschaft des Beschwerdeführers zweifelsfrei aus dem Dokument hervorgeht, eine Erhebung per Fax. Eine Erhebung per E-Mail oder per DE-Mail genügt den Anforderungen an die Schriftlichkeit indes nicht da eine mit z.B. § 130a ZPO vergleichbare Regelung im BVerfGG nicht enthalten ist und das Bundesverfassungsgericht somit aktuell noch nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnimmt. Die Differenzierung zwischen einem Fax und einer DE-Mail erläuterten die Karlsruher Richter damit, dass eine DE-Mail genauso wie eine E-Mail nicht per se zum Ausdruck bestimmt sei, eine Faxnachricht hingegen schon. Somit erhalte man nur mit einer Faxnachricht ein auf einem Datenträger dauerhaft verkörpertes Schriftstück. Die Begründungspflicht wird durch die Mindestangaben aus § 92 BVerfGG konkretisiert.
Hinsichtlich der Rechtssatzbeschwerde sieht das Gesetz in § 93 Abs. 3 BVerfGG eine Jahresfrist vor. Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde hingegen sieht das Gesetz gem. § 93 Abs. 1 BVerfGG eine Monatsfrist vor.
f) Rechtswegerschöpfung / Subsidiarität
Weiterhin muss der Rechtsweg gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erschöpft sein. Dies bedeutet, dass der Beschwerdeführer zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg vollumfänglich beschreiten muss, um sodann Verfassungsbeschwerde erheben zu können.
Beispiel: Anton Müller hat von der zuständigen Bauaufsichtsbehörde eine Abrissverfügung erhalten. Da diese ihn seiner Ansicht nach in seinem Eigentumsrecht aus Art. 14 GG beeinträchtigt, erhebt er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Zulässig?
Die Verfassungsbeschwerde des Anton Müller ist vorliegend bereits unzulässig. Herr Müller hätte sich zunächst fachgerichtlich gegen den Verwaltungsakt in Form der Abrissverfügung mittels einer Anfechtungsklage wenden müssen und für den Fall des Unterliegens den Verwaltungsrechtsweg weiter beschreiten müssen. Das Bundesverfassungsgericht wird die Verfassungsbeschwerde des Herrn Müller als unzulässig verwerfen.
g) Rechtsschutzbedürfnis
Zudem muss der Beschwerdeführer rechtsschutzbedürftig sein. Dies ist der Fall, wenn es für den Beschwerdeführer keine einfachere und zumutbare Möglichkeit des Rechtsschutzes gibt.
h) Zwischenergebnis
Nun ist ein Zwischenergebnis festzuhalten: Sofern die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig – sodann ist ihre Begründetheit zu erörtern. Ist allerdings mindestens eine Voraussetzung nicht gegeben, so ist die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig, sodass sie zu verwerfen ist. Eine Begründetheitsprüfung erfolgt dann nicht mehr. Allerdings kommt es in Klausuren, anders als in der Praxis, nur äußerst selten dazu, dass eine Verfassungsbeschwerde bereits als unzulässig zu verwerfen ist.
2. Begründetheit
Weiterhin müsste die Verfassungsbeschwerde begründet sein. Hierbei ist zunächst zu differenzieren, ob die Verletzung eines Freiheits- oder eines Gleichheitsgrundrechts beanstandet wird.
Hinweis zum Prüfungsmaßstab: |
Hautpbestandteil der Begründetheitsprüfung ist die Prüfung, ob die Grundrechte des Beschwerdeführers tatsächlich verletzt sind. Es erfolgt – wie im Beitrag „Einführung in die Grundrechte“ beschrieben – die Prüfung der möglicherweise verletzten Grundrechte.
Ein Freiheitsgrundrecht ist verletzt, wenn der Staat in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann. Demgegenüber ist eine Verletzung eines Gleichheitsgrundrechts anzunehmen, sofern der Staat wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich behandelt und diese (Un-)Gleichbehandlung verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.
In der Begründetheitsprüfung ist schließlich noch die Unterscheidung zwischen Rechtssatz- und Urteilsverfassungsbeschwerde zu beachten. Während sich bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde die Prüfung darauf beschränkt, ob die betreffende Regelung gegen Grundrechte verstößt, erweitert sich der Prüfungsumfang bei Urteilsverfassungsbeschwerden wie folgt.
Auch in einer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen ein letztinstanzliches Urteil richtet, ist zunächst die Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung der betreffenden Grundrechte des Beschwerdeführers zu prüfen. Der erforderliche zweite Prüfungsabschnitt im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde besteht jedoch darin, zu prüfen, ob das Gericht in seinem Urteil die Grundrechte hinreichend beachtet hat. Je nachdem, ob die Grundrechtsprüfung eine Verletzung der Grundrechte ergibt oder nicht ergibt, ist die Verfassungsbeschwerde begründet oder unbegründet.
Sie hat nur – wie oben erörtert – dann Erfolg, wenn und soweit sie zulässig und begründet ist.
III. Bindungswirkung
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden, wobei sich die Bindung grundsätzlich nur auf den entschiedenen Einzelfall bezieht.
Eine Ausnahme hiervon bilden gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG unter anderem Rechtssatzverfassungsbeschwerden – in diesem Falle hat die Entscheidung Gesetzeskraft und wird durch das hierfür zuständige Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Das Gericht kann hierbei das verfassungswidrige Gesetz für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären. Der Unterschied zwischen einer Erklärung des Gesetzes für nichtig und einer Erklärung des Gesetzes für unvereinbar mit dem Grundgesetz ist, dass die Entscheidung im ersten Falle in die Vergangenheit zurückwirkt – mithin führt die Entscheidung zu einem Zustand, als wäre das Gesetz nie erlassen worden. In letzterem Fall hingegen legt das Gericht lediglich fest, ab wann das Gesetz nicht mehr angewendet werden darf, sodass dem Gesetzgeber Zeit gegeben wird, einen verfassungskonformen Zustand herbeizuführen.
Zu beachten bleibt allerdings, dass die Nichtigkeit einer Rechtsnorm nicht automatisch dazu führt, dass sämtliche auf ihrer Grundlage ergangenen gerichtlichen Entscheidungen plötzlich ungültig werden. Gem. § 79 Abs. 2 BVerfGG bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen wirksam, allerdings ist die Vollstreckung unstatthaft. Im Bereich des Strafrechts allerdings besteht die Möglichkeit einer Wiederaufnahme nach den Vorgaben der Strafprozessordnung, vgl. § 79 Abs. 1 BVerfGG – diese Vorschrift trägt der besonders einschneidenden Wirkung des Strafrechts Rechnung.
C. Werkzeuge
Prüfungsaufbau: (Individual-)Verfassungsbeschwerde
A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG B. Begründetheit |
D. Anwendung
Wiederholungsfragen