Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG
A. Einführung
Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schützt die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft bzw. Forschung und Lehre. Es handelt sich bei diesen Grundrechten zum einen um klassische Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe und Einflussnahmen. Daneben folgt aus diesen Grundrechten jedoch auch eine objektiv-rechtliche Gewährleistung. Daraus leitet das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe des Staates ab – der sich auch als Kulturstaat versteht – „ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern“. In Bezug auf die Wissenschaft bedeutet dies, dass der Staat zur Einrichtung und Unterhaltung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen verpflichtet ist.
B. Art. 5 Abs. 3 GG
I. Kunstfreiheit
1. Schutzbereich
Die Kunstfreiheit wird in Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG geschützt. Zunächst ist festzustellen, dass es eine einzige umfassende und allgemeingültige Definition des Begriffs „Kunst“ nicht gibt. Allgemein lässt sich sagen, dass der Kunstbegriff weit auszulegen ist. So besteht Einigkeit darüber, dass es auf ein gewisses Niveau oder einen bestimmten Wert des Kunstwerks nicht ankommt. Kunst darf auch anstößig oder provokativ sein. Im Laufe der Zeit wurden zur genaueren Bestimmung verschiedene Kunstbegriffe entwickelt, welche in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nebeneinanderstehen. Fällt das in Rede stehende Kunstwerk unter einen der Kunstbegriffe, ist der Schutzbereich eröffnet:
Laut dem materialen Kunstbegriff liegt das Wesentliche der künstlerischen Betätigung darin, ob der betreffende Gegenstand oder Sachverhalt ein Ausdruck der freien schöpferischen Gestaltung ist, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers dargestellt werden (dazu Mephisto-Entscheidung, BVerfGE 30, 173 (188 f.)).
Nach dem formalen Kunstbegriff ist maßgeblich, ob das betreffende Werk einer anerkannten Kunstrichtung zugeordnet werden kann (z.B. Malerei, Theater, Schriftstellerei etc.). Das Problem dieses Kunstbegriffs ist jedoch, dass er zu eng gefasst ist. Die Künstler dürften sich nur noch in den bereits anerkannten und festgelegten Darstellungsformen bewegen, damit ihre Kunst unter den Schutzbereich des Grundrechts fällt. Neue, eigene Formen der Darstellung wären von der Kunstfreiheit nicht mehr geschützt.
Der offene Kunstbegriff sieht das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin, dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutungen zu entnehmen, sodass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt (dazu Anachronistischer Zug, BVerfGE 67, 213 (226 f.)). Das Ergebnis der künstlerischen Betätigung lässt also vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zu.
Auch bloße Vorbereitungshandlungen, die der späteren Schaffung eines Kunstwerks dienen (z.B. Entwurf oder Orchesterprobe) fallen in den Schutzbereich.
Der Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst vom Umfang her zweierlei: Erstens ist die Herstellung des Kunstwerks selbst, also die eigentliche schöpferische Tätigkeit, geschützt. Man bezeichnet diesen Bereich als Werkbereich. Zweitens werden die Darbietung und Verbreitung der Kunst geschützt, also z.B. das Aufführen eines Theaterstücks auf einer Bühne. Dieser Teil der Kunstfreiheit ist der sog. Wirkbereich. Daraus folgt, dass in Bezug auf den persönlichen Schutzbereich der Künstler/ die Künstlerin selbst geschützt ist. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass jemand als Künstler anerkannt ist oder Kunst als Beruf ausübt. Daneben werden auch Personen geschützt, die Kunstwerke ausstellen, vorführen usw. (z.B. Gallerist, Theaterintendant, Verleger).
2. Eingriff
Eingriffe in die Kunstfreiheit können durch Verbote, Sanktionen und tatsächliche Maßnahmen erfolgen. Entsprechende Eingriffe können in vielerlei Formen auftreten, z.B. Auftrittsverbote, Publikationsverbote oder strafrechtliche Verurteilungen. Sie können sowohl das Herstellen (Werkbereich) als auch das Darbieten (Wirkbereich) betreffen.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Art. 5 Abs. 3 GG enthält keine Schrankenregelung, sodass die Kunstfreiheit unter keinem expliziten Gesetzesvorbehalt steht. Die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gelten nur für die in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Grundrechte. Zu beachten sind jedoch die ungeschriebenen Schranken, die sich direkt aus der Verfassung ergeben („verfassungsimmanente Schranken“). Die Freiheit der Kunst findet ihre Schranke also in kollidierendem Verfassungsrecht. Insbesondere kann es zu einer Kollision zwischen der Kunstfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG kommen. Dabei bedarf es einer kunstspezifischen Prüfung, die danach fragt, inwieweit das künstlerische Werk als Darstellung der Realität aufzufassen und dementsprechend geeignet ist, persönlichkeitsverletzend zu sein.
Beispiel: Das Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG rechtfertigt ggf. Unterlassungsansprüche gegen einen Künstler, wenn dieser durch sein Kunstwerk Dritte in ihrem persönlichen Achtungsanspruch verletzt. Dies liegt etwa vor, wenn der Künstler Details aus dem Intimleben anderer Personen künstlerisch verarbeitet – etwa in einem Roman – und die betroffene Person identifizierbar ist (vgl. BVerfGE 119, 1, Roman Esra).
Liegt ein solcher Fall des kollidierenden Verfassungsrechts vor, ist im Wege der praktischen Konkordanz eine gegenseitige Optimierung der kollidierenden Grundrechtsgewährleistungen vorzunehmen. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz, der bei Grundrechtskollisionen zum Tragen kommt. Praktische Konkordanz bedeutet, dass man sich um einen schonenden bzw. angemessenen Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten mit dem Ziel bemüht, beide Grundrechte im Sinne einer Optimierung soweit wie möglich zur Entfaltung kommen zu lassen. Es erfolgt eine Abwägung anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls.
II. Wissenschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 S. 1, Alt. 2 GG
1. Schutzbereich
Gem. Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 GG sind Wissenschaft, Forschung und Lehre frei. Wissenschaft ist ein gemeinsamer Oberbegriff für die „Forschung“ und die „Lehre“. Wissenschaft meint jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernstafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Das Merkmal ernsthaft soll heißen, dass Wissenschaft stets einen gewissen Kenntnisstand voraussetzt. Die Ermittlung der Wahrheit meint im Wesentlichen, dass die Erkenntnisse in den öffentlichen Diskurs gegeben und dort kritisch infrage gestellt werden. Ferner werden nicht nur ganz bestimmte wissenschaftliche Auffassungen und Theorien geschützt; erfasst werden darüber hinaus auch Mindermeinungen oder Forschungsergebnisse, die sich im Nachhinein als irrig erweisen. Die Grenze des Schutzbereichs liegt jedoch in bestimmten Fehlverhalten, wie die Fälschung und Manipulation von Forschungsergebnissen.
Trotz des gemeinsamen Oberbegriffs, wird zwischen Forschung und Lehre unterschieden: Während die Forschung gerade das Ziel hat, neue Erkenntnisse zu gewinnen, handelt es sich bei der Lehre nur um die Wiedergabe des bereits Erforschten. Gemeint ist damit jedoch nur der Unterricht mit wissenschaftlichem Anspruch (also an Hochschulen). Nicht unter den Schutzbereich fällt der Unterricht an den allgemeinbildenden Schulen.
Bzgl. des persönlichen Schutzbereichs schützt Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG jeden, der im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist. Darunter fallen Wissenschaftler (insb. Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter) sowie Studierende, solange und soweit sie sich mit der Forschung befassen. Trägerin des Grundrechts sind aber auch die Universitäten, ihre Fakultäten und staatliche Forschungseinrichtungen. Zwar sind sie als juristische Personen des öffentlichen Rechts grds. nicht grundrechtsberechtigt, jedoch können auch sie sich in diesem Fall auf die Wissenschaftsfreiheit berufen.
2. Eingriff
Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit können Verbote, Sanktionen oder tatsächliche Maßnahmen sowie Lehrziel- oder Lehrstoffvorgaben sein. Kein Eingriff ist hingegen z.B. die Auflösung einer Hochschule oder anderer wissenschaftlicher Einrichtungen. Ebenfalls keinen Eingriff stellt Kritik dar, solange es keine alle wissenschaftliche Standards unterlaufende „Schmähkritik“ ist.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Gem. Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG entbindet die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung. Diese sog. Treueklausel meint die Pflicht, im Rahmen von Lehrveranstaltungen Loyalität gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu wahren. Jedoch hat diese Schranke nur einen sehr schmalen Anwendungsbereich.
Sonst steht die Wissenschaftsfreiheit unter keinem expliziten Schrankenvorbehalt. An dieser Stelle gilt ebenfalls, dass nicht auf die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG zurückgegriffen werden kann. Lediglich die verfassungsimmanenten Schranken ermächtigen dazu in Art. 5 Abs. 3 GG einzugreifen. Folglich ist auch hier bei Vorliegen von kollidierendem Verfassungsrecht eine Abwägung erforderlich, um im Sinne der praktischen Konkordanz eine gegenseitige Optimierung der kollidierenden Grundrechtsgewährleistungen zu erreichen.
C. Werkzeuge
Werkbereich | Gemeint ist die Herstellung des Kunstwerks selbst, also die eigentliche schöpferische Tätigkeit. |
Wirkbereich | Umfasst wird die Darbietung sowie die Verbreitung der Kunst. |
Wissenschaft | Jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernstafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. |
D. Wiederholungsfragen