Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
A. Einführung
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt, sondern ist in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankert. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkt ist, sondern (wie auch die allgemeine Handlungsfreiheit) einen weiten Regelungsbereich schützt, ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht primär ein Unterfall der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Zugleich schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein bestimmtes Verhalten, sondern eher die Subjektqualität des einzelnen Bürgers, sodass auch eine Verbindung zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) besteht, welche nach überwiegender Auffassung für eine etwaige Auslegung Bedeutung erlangt.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht bezieht sich zunächst auf den Kernbereich des Persönlichen. Es soll insbesondere Lücken im Bereich des Schutzes der Persönlichkeit schließen. Zusammen mit der allgemeinen Handlungsfreiheit schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Freiheit des Individuums und dient damit einem der ursprünglichsten Zwecke der Grundrechte: Schutz des Bürgers vor staatlichen (ungerechtfertigten) Eingriffen. Das Bundesverfassungsgericht hat maßgeblich zur Ausgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beigetragen und dabei verschiedene Unterfälle geschaffen. Zu nennen sind insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung, auf Selbstdarstellung und Selbstbewahrung.
B. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
Prüfungsaufbau
(Der Aufbau folgt dem klassischen Prüfungsschema einer Grundrechtsprüfung: Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung; siehe hierzu Einführung: Grundrechte)
I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Wie auch die allgemeine Handlungsfreiheit und die Menschenwürde ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein „Jedermanngrundrecht“. In bestimmten Fällen sind auch Verstorbene durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. Ob und in welchem Umfang sich juristische Personen (des Privatrechts) auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen können, ist einzelfallabhängig. Jedenfalls sind diese nicht von vornherein aus dem (persönlichen) Schutzbereich ausgeschlossen, vgl. Art. 19 Abs. 3 GG. Grundrechtsadressat ist grundsätzlich der Staat. Gleichzeitig hat dieser dafür zu sorgen, dass auch Dritte das allgemeine Persönlichkeitsrecht achten. Insbesondere § 823 Abs. 1 BGB trägt diesem (durch den Staat zu gewährleistenden) privatrechtlichen Schutz Rechnung. 2. Sachlicher Schutzbereich Wie oben dargestellt, dient das allgemeine Persönlichkeitsrecht in erster Linie der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Dabei beruht die Schaffung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf der Persönlichkeitskerntheorie. Gemeint ist also zunächst der Schutz des „Kernbezirks des Persönlichen“. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst also den Bereich privater Lebensgestaltung, in dem das Individuum seine Identität und Individualität (weiter-)entwickeln und bewahren kann. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung nimmt das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine besondere Rolle ein. Als „entwicklungsoffenes“ Grundrecht kann es einen an die (technischen) Veränderungen angepassten Schutz der Bürger*innen gewährleisten. a) Recht auf Selbstbestimmung Das Recht auf Selbstbestimmung meint das Recht des Einzelnen, frei und selbst über sein Schicksal entscheiden zu können. Darunter fallen insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einerseits und das Recht auf Klärung der leiblichen Abstammung andererseits. b) Recht auf Selbstbewahrung Gemeint ist das Recht, sich zurückzuziehen, zu isolieren und für sich allein zu bleiben (sozialer und räumlicher Rückzug). Hier ist auch das Recht auf Privatsphäre zu verorten, auch der Schutz vor höchstpersönlichen Fragen im Beruf / Bewerbungsgespräch ist ein Teilaspekt des Rechts auf Selbstbewahrung. Zu dem Recht auf Selbstbewahrung hat das Bundesverfassungsgericht die sog. Sphärentheorie als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entwickelt (siehe unten bei: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung), die von einigen als Schranken-Schranke für das gesamte allgemeine Persönlichkeitsrecht, von anderen nur in Bezug auf das Recht auf Selbstbewahrung angewendet wird. c) Recht auf Selbstdarstellung Das Recht auf Selbstdarstellung stellt klar, dass jeder Bürger selbst entscheiden kann, ob und in welchem Umfang persönliche Lebenssachverhalte öffentlich gemacht bzw. offenbart werden. Es beinhaltet das Recht, sich gegen eine herabsetzende Darstellung zu wehren. Auch das Recht am eigenen Wort und Bild wird geschützt. Zudem umfasst das Recht auf Selbstdarstellung auch das sog. informationelle Selbstbestimmungsrecht, welches vor staatlicher Datenerhebung und Informationsverarbeitung schützt sowie dem Bürger ein Recht auf Kenntnis derartiger staatlicher Maßnahmen einräumt. Zu unterscheiden ist das informationelle Selbstbestimmungsrecht vom Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Während das erstgenannte vor einzelnen Datenerhebungen schützt, schützt das letztgenannte vor Infiltration derartiger Systeme. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme wird auch als „IT-Grundrecht“ bezeichnet, es schützt den gesamten Datenbestand und nicht wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht nur einzelne Datenbestände. Zu beachten ist, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht (wie auch die allgemeine Handlungsfreiheit) ein Auffanggrundrecht ist (sog. Subsidiarität). Insbesondere das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist subsidiär gegenüber Art. 10 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) und Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung). II. Eingriffe In Bezug auf den Eingriff kann zunächst auf den klassischen Eingriffsbegriff abgestellt werden. Eine staatliche Maßnahme stellt also dann einen Eingriff dar, wenn sie final, unmittelbar, rechtlich und imperativ wirkt. Alternativ kann auf den modernen Eingriffsbegriff abgestellt werden. Hier ist jeder staatliche Akt erfasst, der dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig, ob die Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich ist und ob sie mit oder ohne Befehl und Zwang durchgesetzt werden kann. Beispiele für einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sind insbesondere Bild- und Tonaufnahmen, die automatische Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen sowie das (vom Betroffenen nicht gewollte / geduldete) Einsehen von persönlichen Daten. Hier ist zu beachten, dass gegebenenfalls eine genaue Abgrenzung zu anderen Grundrechten erforderlich ist (zum Beispiel zur Unverletzlichkeit der Wohnung). Diese ist schon im Rahmen des (sachlichen) Schutzbereiches vorzunehmen. Ein Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht liegt in jedem Akt staatlicher Datenerhebung und -verarbeitung, der in Bezug auf einen persönlichen Lebenssachverhalt gilt. III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 1. Schranken Die Schranken der allgemeinen Handlungsfreiheit gelten auch für allgemeine Persönlichkeitsrecht. Die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG ist also auch hier zu beachten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht findet also seine Grenzen in den Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung sowie dem Sittengesetz. Von Bedeutung ist lediglich die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung, die vom Bundesverfassungsgericht definiert wird als „alle Vorschriften, die formell und materiell mit der Verfassung konform sind“. Dieses Verständnis der verfassungsmäßigen Ordnung entspricht einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Die Rechte anderer gehen in der verfassungsmäßigen Ordnung auf, auch das Sittengesetz ist bereits hiervon erfasst. 2. Schranken-Schranken In Bezug auf die Schranken-Schranken ist zunächst auf die allgemeinen Grundsätze abzustellen, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschränkende Vorschrift muss also formell und materiell verfassungsgemäß sein. Im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit kommt (neben dem Zitiergebot, dem Bestimmtheitsgebot, dem Einzelfallgesetzverbot und der Wesensgehaltsgarantie) der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine besondere Bedeutung zu. Bevor geprüft wird, ob der Eingriff verhältnismäßig ist (ob er also einem legitimen Zweck dient, geeignet, erforderlich und angemessen ist), ist auf die Sphärentheorie einzugehen. Hiernach wird der persönliche Lebensbereich in drei Sphären eingeteilt. Je nachdem, welche Sphäre betroffen ist, gelten unterschiedlich strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung. a) Intimsphäre Die Intimsphäre schützt den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf unter keinen Umständen eingegriffen werden. Hier zeigt sich der Menschenwürdegehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Eingriffe können nicht gerechtfertigt werden, die Intimsphäre ist (ebenso wie die Menschenwürde) unantastbar. Da Eingriffe demgemäß nie gerechtfertigt werden können, sieht das Bundesverfassungsgericht die Intimsphäre nur selten als betroffen an. Ein Beispiel ist die akustische Wohnraumüberwachung. b) Privatsphäre Es fehlt an einer abschließenden Definition der Privatsphäre. Überwiegend wird sie als der engere und persönliche Lebensbereich (insbesondere die Familie) verstanden. Dennoch ist eine genauere Einzelfallprüfung vorzunehmen, geleitet von der Frage, ob der engere Bereich persönlicher Lebensentfaltung und -gestaltung betroffen ist. c) Sozialsphäre Die „schwächste“ Sphäre ist die sog. Sozialsphäre. Diese umfasst das Ansehen des Einzelnen in der Gesellschaft, insbesondere seine Teilhabe und Interaktion in der Öffentlichkeit. Eingriffe sind zulässig, sofern eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen wurde. Zu beachten ist, dass die einzelnen Sphären hier zwar als klar abgrenzbare Bereiche erscheinen. Tatsächlich überschneiden sie sich jedoch häufig, die Grenzen sind also fließend. Hat man den Eingriff bzw. das in Rede stehende Verhalten in eine Sphäre eingeordnet, so richtet sich die weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung nach dieser Einordnung. |
C. Werkzeuge
Verfassungsmäßige Ordnung | Alle Vorschriften, die formell und materiell mit der Verfassung konform sind (= einfacher Gesetzesvorbehalt)
|
„Sphärentheorie“ Intimsphäre | Unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung (mit Menschenwürdegehalt)
|
„Sphärentheorie“ Privatsphäre | Engerer und persönlicher Lebensbereich (insbesondere Familie)
|
„Sphärentheorie“ Sozialsphäre | Ansehen des Einzelnen in der Gesellschaft, Teilhabe und Interaktion in der Öffentlichkeit
|
D. Anwendung
A ist wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er soll 2009 eine Frau getötet haben. Dabei beruht das Urteil lediglich auf Indizien. Ein wichtiges Indiz ist das Tagebuch des A, in dem er seinen Hass gegen Frauen schildert und von seinen gelegentlichen Gewaltfantasien berichtet. Das Gericht wertete diese Aufzeichnungen als Indiz dafür, dass A gewalttätig und Frauen gegenüber feindlich eingestellt sei. Aufgrund der Schwere der Tat (Mord) sei auch die Kenntnisnahme von den Tagebuchaufzeichnungen gerechtfertigt. Nachdem auch die Revision beim Bundesgerichtshof erfolglos blieb, erhebt A Verfassungsbeschwerde. Er sei in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden, schließlich dürfe niemand seine privaten Aufzeichnungen, die ja einem Selbstgespräch gleichkämen, in einem Prozess verwenden. Er sei mit der Sichtung seines Tagebuches in keinem Fall einverstanden.
Hat die zulässig erhobene Verfassungsbeschwerde des A Aussicht auf Erfolg?
Vermerk: Das Urteil stützt sich auf die Strafprozessordnung (§ 249 Abs. 1 StPO lautet: Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke werden in der Hauptverhandlung verlesen […]). Es ist davon auszugehen, dass die Vorschriften der StPO formell und materiell verfassungsgemäß sind.
Lösungsvorschlag
Die zulässig erhobene Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, soweit sie begründet ist. Begründet ist die Verfassungsbeschwerde, wenn A in einem seiner Grundrechte (oder seiner in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten grundrechtsgleichen Rechte) verletzt ist. Das ist der Fall, wenn in den Schutzbereich eines Grundrechts ungerechtfertigt eingegriffen worden ist. In Betracht kommt hier eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz; das Urteil des BGH wird also nicht auf seine juristische strafrechtliche „Richtigkeit“ hin überprüft. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr auf eine mögliche Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht prüft also lediglich, ob A durch das Urteil in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt ist. I. Schutzbereich Zunächst müssten der persönliche und sachliche Schutzbereich eröffnet sein. 1. Persönlicher Schutzbereich Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein „Jedermanngrundrecht“, sodass A als natürliche Person jedenfalls grundrechtsberechtigt ist. Der persönliche Schutzbereich ist also eröffnet. 2. Sachlicher Schutzbereich Auch der sachliche Schutzbereich müsste eröffnet sein. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt grundsätzlich den autonomen Bereich privater Lebensgestaltung und lässt sich dabei in das Recht auf Selbstbewahrung, Selbstdarstellung und Selbstbestimmung unterteilen. In Betracht kommt hier das Recht auf Selbstbewahrung: Dieses schützt das Recht des Einzelnen, sich zurückzuziehen und zu entscheiden, ob und in welchem Umfang persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden sollen. A ist hier gegen eine Verwendung seines Tagebuches als Indiz in dem Strafprozess. Er kann sich also (gemäß dem Selbstbewahrungsrecht) entscheiden, dass das Tagebuch (als Teil seines privaten Lebensbereiches) nicht offenbart werden soll. Der sachliche Schutzbereich ist also ebenfalls eröffnet. II. Eingriff Das letztinstanzliche Urteil müsste auch ein Eingriff sein. Das Urteil wirkt final (zielgerichtet), unmittelbar und setzt eine Rechtsfolge, wirkt also auch rechtlich. Zudem ist es mit Befehl und Zwang durchsetzbar, sodass es auch imperativ wirkt. Ein Eingriff im klassischen Sinne liegt also vor. III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Dieser Eingriff könnte aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Das ist dann der Fall, wenn eine verfassungsmäßige Eingriffsgrundlage gegeben ist und das Urteil selbst ebenfalls verfassungsgemäß ist. 1. Eingriffsgrundlage (Schranke) Als Eingriffsgrundlage kommen hier die Vorschriften der StPO in Betracht. Gemäß Art. 2 Abs. 1 GG hat das allgemeine Persönlichkeitsrecht seine Grenzen in der verfassungsmäßigen Ordnung. Darunter versteht man alle formell und materiell verfassungskonformen Vorschriften, also einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Die StPO entspricht diesem einfachen Gesetzesvorbehalt. Es ist zudem davon auszugehen, dass die in Rede stehenden Vorschriften formell und materiell verfassungsmäßig sind, sodass eine verfassungskonforme Eingriffsgrundlage gegeben ist. 2. Verfassungsmäßigkeit der Einzelmaßnahme (hier: Verhältnismäßigkeit des Urteils) Zudem müsste das Urteil selbst verhältnismäßig sein. Das ist dann der Fall, wenn das Urteil einem legitimen Zweck dient und geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Gericht hat hier das Tagebuch des A trotz fehlender Einwilligung als Indiz im Prozess herangezogen. In Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist die sog. Sphärentheorie zu beachten. Diese kategorisiert den menschlichen Lebensbereich in drei Sphären: Intim-, Privat- und Sozialsphäre. Je nach Sphäre gelten dabei unterschiedlich strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Die Intimsphäre schützt den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung. Eingriffe können nicht gerechtfertigt werden. Die Privatsphäre schützt den engeren und persönlichen Lebensbereich, wobei Eingriffe bei strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung gerechtfertigt sein können. Die Sozialsphäre meint das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit, also dessen Interaktion und Teilhabe an und in der Gesellschaft. Fraglich ist, ob das Tagebuch und dessen Inhalte der Intim- oder der Privatsphäre zuzuordnen sind. Gegen eine Einordnung in die Intimsphäre spricht, dass A seine Gedanken hier schriftlich niedergelegt hat und gerade nicht die für ein Selbstgespräch typische Form des verbalen Gesprächs gewählt hat. Indem er also seine Auffassungen niederschrieb, haben seine Gedanken die dem A innewohnende Sphäre verlassen. Zudem besteht bei niedergeschriebenen Werken regelmäßig die Gefahr, dass diese von anderen (hier vom Staat) zur Kenntnis genommen werden. Dieser Gefahr war sich A bewusst oder hätte sich bewusst sein müssen. Zu berücksichtigen ist auch die Schwere der dem A vorgeworfenen Tat. Ein Mord ist eine Tat, welche grundsätzlich auch für die Gesellschaft bzw. deren Sicherheit von Bedeutung ist. Auch um mögliche Wiederholung zu verhindern, die hier durch die Gewaltfantasien des A nahegelegt werden, scheint eine Einordnung in die Privatsphäre notwendig. Die Gedanken, welche A hier niederschrieb, beziehen sich zudem nicht nur auf seine Gedanken, sondern betreffen vielmehr auch potentielle Opfer und somit die Gesellschaft an sich. Für eine Einordnung in die Intimsphäre spricht jedoch, dass A sich hier vollständig öffnet in der Annahme, dies sei ein ihm eigener Bereich der privaten Lebensgestaltung. Für ein Selbstgespräch kann nicht die Form (mündlich, schriftlich, gedanklich) ausschlaggebend sein, vielmehr ist der Inhalt entscheidend. Nur aufgrund der Tatsache, dass A seine Gedanken verschriftlicht hat, kann den Aufzeichnungen nicht der höchstpersönliche Charakter abgesprochen werden. A setzt sich hier, isoliert von Einflüssen anderer und abgeschottet von kritischen Auffassungen, mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinander. Des Weiteren beinhalten die Aufzeichnungen keine konkreten Hinweise auf die Straftat, die A begangen haben soll. Der Bezug tritt erst mit Begehung der Tat ein, wird also rückblickend hergestellt. Stellt man auf das Argument ab, dass es hier um eine schwere Tat geht, welche auch im Interesse der Gesellschaft aufgeklärt werden müsse, so ist zu beachten, dass die Schwere der Tat nicht etwa eine „Erlaubnis“ sei, jegliche persönliche Aufzeichnungen zu verwenden. Ansonsten würde die Intimsphäre zu einer reinen Formalität verkommen, welche stets dadurch umgangen werden könne, dass man auf die Bedeutung der Tat hinweise. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat auch einen Menschenwürdegehalt, welcher gerade den in Rede stehenden Streitpunkt betrifft. Vor dem Hintergrund dieses Gehalts aus Art. 1 Abs. 1 GG, der auf den privaten Lebensbereich abstellt, ist eine Einordnung des Tagebuches und dessen Inhalt in die Privatsphäre nicht haltbar, sodass die Aufzeichnungen des A in die Intimsphäre einzuordnen sind. Das hat zur Folge, dass der Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann. Der Eingriff (hier das Urteil) verletzt A also in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. (Hier kann man sich alternativ auch für eine Einordnung in die Privatsphäre entscheiden. Dann ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, wobei der weitere Schwerpunkt dann auf der Angemessenheit liegt. Hier kann sich dann für oder gegen die Angemessenheit des Urteils entschieden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im „Tagebuch-Fall“ angenommen, dass die Aufzeichnungen im Tagebuch der Privatsphäre zuzuordnen seien und auch die Angemessenheit des Urteils zu bejahen sei, sodass die Verfassungsbeschwerde unbegründet war; siehe BVerfG 80, 367 m.w.N.) IV. Ergebnis Da der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht gerechtfertigt werden kann, ist A in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist also begründet und hat somit Aussicht auf Erfolg. |
E. Wiederholungsfragen