Jugendstrafrecht
A. Einleitung
Die Jugend ist für die meisten Menschen eine turbulente Phase. Die eigenen Grenzen, sei es beim Besuchen der ersten Partys oder bei einer Prügelei mit Gleichaltrigen, werden ausgelotet und erkundet. Die Jugendzeit stellt, wie keine andere Lebensphase, eine Zeit der Identitätssuche dar. Unabhängig vom Hormonhaushalt und der Selbstfindungsphase soll der Jugendliche in eine Erwachsenrolle reinwachsen und stellt Weichen für seinen späteren Weg im Leben.
In dieser Phase werden oft die Grenzen der Gesellschaft – welche grundsätzlich als Strafnormen ausgestaltet sind – überschritten. Auf Partys werden illegale Betäubungsmittel konsumiert (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 Var. 4 BtMG), bei der Prügelei wird eine gefährliche Körperverletzung begangen (§ 224 Abs. 1 StGB Nr. 4), als Mutprobe wird etwas aus der Drogerie gestohlen (§ 242 Abs. 1 StGB).
So ist es auch nicht verwunderlich, dass nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2020 16,7% der Tatverdächtigen zwischen 14 bis 21 Jahre alt sind, während sie nur 6% der Bevölkerung ausmachen. Junge Täter:innen sind somit überdurchschnittlich oft tatverdächtig und damit vermutlich auch überdurchschnittlich kriminell. Doch dies ist kein Problem der heutigen Jugend. Vielmehr war es auch schon in der Vergangenheit so, dass junge Menschen überdurchschnittlich viele Straftaten begingen, sich dann aber wieder an die Gesellschaft anpassten, weil das Überschreiten von Grenzen in der Phase der Jugend "normal" ist.
Gerade wegen dieser besonderen Phase ist es notwendig, dass strafrechtliche Regelungen dies entsprechend berücksichtigen. Denn meist begehen Jugendliche und Heranwachsende Straftaten nicht aus den gleichen Gründen wie Erwachsene und es ist wichtiger, sie von weiteren Straftaten abzubringen und zu resozialisieren, sie also wieder „auf den richtigen Pfad zu bringen“.
Das Jugendstrafrecht ist das besondere Strafrecht für junge Täter:innen. Diese sind in § 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) definiert.
Das JGG unterscheidet in Jugendliche, § 1 Abs. 2 Var. 1 JGG und Heranwachsende § 1 Abs. 2 Var. 2 JGG. Jugendlicher ist, wer zum Zeitpunkt der Tat zwischen 14 und 18 Jahren alt ist und Heranwachsender, wer zum Tatzeitpunkt zwischen 18 und 21 Jahren alt ist.
Im Vergleich zum allgemeinen Straf- und Strafprozessrecht, was vor allem im Strafgesetzbuch (StGB) und in der Strafprozessordnung (StPO) geregelt wird, gibt es erhebliche Unterschiede. So sind zum einen die Strafen, die das JGG anordnet, deutlich vielfältiger, aber auch das Strafverfahren weicht von einem „gewöhnlichen“ Strafverfahren gegen Erwachsene ab.
Diese Unterschiede ergeben sich schon aus dem in § 2 Abs. 1 JGG erklärten Ziel des Jugendstrafrechts. Es soll erneuten Straftaten von jungen Täter:innen entgegenwirken. Dazu soll das gesamte Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken ausgerichtet werden. Das Jugendstrafrecht verfolgt damit einen spezialpräventiven Strafzweck, soll aber auch resozialisierend wirken. Das allgemeine Strafrecht setzt im Gegensatz dazu mehr auf Schuldausgleich, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht. (Siehe Strafzwecke)
B. Thema
I. Geschichtlicher Überblick
1. JGG 1923
Das erste Gesetz speziell fürs Jugendstrafrecht war das Jugendgerichtsgesetz von 1923. Das Bild des Strafrechts und auch der Umgang mit Straftäter*innen wandelte sich und es wurde nötig, differenzierter auf die Bedürfnisse und Besonderheiten von jugendlichen Straftäter:innen einzugehen. Erstmals wurden Kinder im Alter von 12 und 13 straflos gestellt und für Jugendliche von 14 - 18 Jahren wurde neben den Strafen des StGB ein System der Erziehung geschaffen.
2. NS-Zeit
Während der NS-Zeit wurde eine Jugendgefängnisstrafe von unbegrenzter Dauer eingeführt, Jugendliche konnten auch zu mehreren Jahrzehnten Jugendgefängnis verurteilt werden. Allgemein wurden die Strafen erhöht, in besonders schweren Fällen konnten sogar 12-/ und 13-jährige Kinder bestraft werden. Personen unter 18 Jahren konnten als frühreif erkannt werden, was eine Anwendung des allgemeinen Strafrechts und somit auch der Todesstrafe auf sie bedeuten konnte.
3. Entwicklung in der Bundesrepublik
Mit dem JGG von 1953 wurden Änderungen der NS-Zeit wieder aufgehoben, so auch die Durchbrechungen der Altersgrenzen. Das Schöffensystem wurde wieder eingeführt und die Vollstreckung der Strafen konnte ausgesetzt werden.
II. Geltungsbereich des JGG
1. Sachlicher Anwendungsbereich
Das JGG gilt gem. § 1 Absatz 1 JGG für „Verfehlungen“ Jugendlicher und Heranwachsender. Eine Verfehlung ist jede rechtswidrige Tat, also Verbrechen und Vergehen, keine Ordnungswidrigkeiten.
2. Persönlicher Anwendungsbereich
Persönlich ist das JGG auf Jugendliche und Heranwachsende anwendbar. Jugendliche ist gem. § 1 Absatz 1 JGG, „wer zur Zeit der Tat vierzehn aber noch nicht achtzehn Jahre alt … ist“ , Heranwachsende ist, wer „zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist“.
Beispiel: T tötete 2015, als er 17 Jahre alt war, einen Mann. Diese Straftat wurde erst 2021 aufgeklärt und er wurde angeklagt. Wird er nach Erwachsenenstrafrecht oder nach Jugendstrafrecht verurteilt?
Das JGG stellt allein auf das Alter zur Tatzeit ab. Da T während der Tat 17, also Jugendlicher war, werden die Regeln des JGG angewendet, obwohl er jetzt 23 ist.
Der Unterteilung für Jugendliche und Heranwachsende ist relevant, da das Jugendstrafrecht für Heranwachsende nur mit Einschränkungen gilt.
Für unter 14-Jährige, also Kinder gilt das JGG nicht, jedoch sind ihre Straftaten oft Grund für Maßnahmen des Jugendamtes.
a) Heranwachsende
Trotz des § 1 Absatz 1 JGG, dessen Anwendungsbereich auch Heranwachsende umfasst, wird die Anwendung des Rechts auf Heranwachsende nur spärlich im dritten Teil des JGG (§§ 105 - 112) geregelt. Dies liegt an der späteren Einfügung von Heranwachsenden ins JGG.
Bei Heranwachsenden sind zwar immer Jugendgerichte zuständig, § 107 iVm §§ 33 ff. JGG, jedoch gibt es für alle anderen Normen des Jugendstrafrechts Einschränkungen.
Gem. § 105 Absatz 1 JGG muss entschieden werden, ob allgemeines Strafrecht oder Jugendstrafrecht gilt. Das hängt von der Persönlichkeit der Täterin und den Umständen der Tat ab. So werden Straßenverkehrsdelikte meist nach Allgemeinem Strafrecht abgeurteilt (50,6% nach Allgemeinem Strafrecht), während Raubdelikte meist nach Jugendstrafrecht verurteilt werden (12,5% nach Allgemeinem Strafrecht). Dies kann prozessöknomische Folgen haben, so sind bei längeren Prozessen öfter Sachverständige anwesend, die eine Unreife erkennen können.
In §§ 33 - 42 JGG ist die Gerichtsverfassung geregelt. Hier ergeben sich nur punktuell Unterschiede:
Vor allem soll die Jugendrichterin/der Jungedrichter idealerweise Richter/in und Erzieher/in zugleich sein, sie soll gem. § 37 JGG „erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein“. Als Sollvorschrift wird dies bislang eher unverbindlich verstanden.
Als zusätzliche Verfahrensbeteiligte wirkt die Jugendgerichtshilfe mit. Diese ist meist beim Jugendamt angesiedelt und soll gem. § 38 Absatz 2 JGG „ die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren zur Geltung bringen“.
Sie leistet Hilfe beim Ermitteln des Sachverhalts, soll überwachen, ob die Jugendliche ihre Auflagen und Weisungen einhält und ihr im Gefängnis bei der anschließenden Wiedereingliederung helfen.
In §§ 43 – § 81 JGG wird das Jugendstrafverfahren geregelt.
Dieses läuft grundsätzlich wie das normale, in der StPO geregelte Verfahren, jedoch gibt es einige Abweichungen.
Gem. § 70 JGG muss die ermittelnde Staatsanwältin die Jugendgerichtshilfe und teilweise auch das Familiengericht und die Schule auf die Ermittlungen aufmerksam machen, damit Erziehungs- und Fürsorgemaßnahmen besser koordiniert werden können. Jedoch soll dies bei Schulen nicht der Fall sein, wenn der Jugendliche dadurch Nachteile für die berufliche Entwicklung zu erleiden hätte.
Gem. § 43 Absatz 1 JGG soll während der Ermittlungen die Persönlichkeit und das soziale Umfeld des Täters bestimmt werden und dies soll auch im Verfahren berücksichtigt werden.
Das Verfahren kann schneller eingestellt werden.
Es kann von der Staatsanwältin gem. § 45 Absatz 1 JGG folgenlos eingestellt werden, gem. § 45 Absatz 2 Satz 1 JGG kann es eingestellt werden, wenn eine erzieherische Maßnahme bereits durchgeführt wurde oder eingeleitet wurde.
Gem. § 45 Absatz 3 JGG kann die Staatsanwältin im Einvernehmen mit der Richterin einstellen, wenn sie dem Jugendlichen Weisungen oder Auflagen auferlegen.
Auch die Richterin kann das Verfahren gem. § 47 JGG einstellen.
Die Hauptverhandlung im Jugendstrafprozess ist immer nichtöffentlich, § 48 Absatz 2 JGG.
b) Sanktionen
Die spezifisch jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen einer Straftat sind Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe.
Erziehungsmaßregeln sind gem. § 9 JGG die Erteilung von Weisungen, die Erziehungsbeistandschaft, und die Heimerziehung.
Weisungen sind gem. § 10 Absatz 1 Satz 1 JGG „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Satz 3 enthält einen Katalog von Weisungen; so die Annahme einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle, die Erbringung von Arbeitsleistungen oder die Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs. Die Richterin kann jedoch auch neue Weisungen erfinden, wie beispielsweise das Nähen von Masken für Altersheime während der Coronapandemie.
Weisungen werden in der Praxis sehr gerne genutzt, da sie flexibel sind.
Hält sich die Jugendliche nicht an die Weisungen, kann gem. § 11 Absatz 3 Satz 2 JGG Jugendarrest verhängt werden.
Die Erziehungsbeistandschaft gem. § 12 soll sozialen oder familiären Problemen vorgreifen. Das Jugendamt setzt einen Erziehungsbeistand ein, der beratend und unterstützend tätig wird.
Auch kann die Richterin entscheiden, die Jugendliche in ein Heim zu verweisen, wo diese dann betreut werden soll.
Zuchtmittel sind gem. § 13 Absatz 2 die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen und der Jugendarrest.
Die Verwarnung, § 14 JGG ist eine reine Verwarnung dem Wortsinn nach. Die Jugendliche soll verwarnt werden, ihr soll das Unrecht der Tat eindringlich vorgehalten werden. Da dies allein nicht viel bewirken wird, können gem. § 8 Absatz 2 JGG mehrere Sanktionen kombiniert werden.
Auflagen stellen eine tatbezogene Sühneleistung dar, es wird an das Verantwortungsgefühl der Jugendlichen erzieherisch appelliert. In § 15 Absatz 1 Satz 1 JGG gibt es eine abschließende Aufzählung der Auflagen:
Es gibt die Auflage der Wiedergutmachung; die Jugendliche soll Schadensersatz an die Geschädigten zahlen.
Wird die Entschuldigung auferlegt, muss sich die die Jugendliche beim Verletzten entschuldigen, dies ist praktisch kaum relevant.
Beim Erbringen von Arbeitsleistungen, soll die Jugendliche ihr Unrecht im Rahmen von Arbeit für die Gesellschaft wieder gut machen.
Die Auflagen unterscheiden sich inhaltlich kaum von den Weisungen.
Werden die Auflagen nicht erfüllt, kann auch Jugendarrest verhängt werden.
c) Jugendarrest
Gem. § 16 Absatz 1 JGG gibt es drei Formen von Jugendarrest, den Freizeitarrest, Kurzarrest und Dauerarrest. Jugendarrest wird für mindestens zwei Tage bis maximal vier Wochen verhängt. Er soll für die Jugendlichen ein kurzer Schockmoment und eine eindringliche Warnung sein. Deswegen wird Jugendarrest wird oft als „Einstiegsarrest“ oder „Warnschussarrest“ bezeichnet
Freizeitarrest gem. § 16 Absatz 2 JGG wird für die wöchentliche Freizeit verhängt. Eine Freizeit ist ein Wochenende. Die Freizeitstrafe kann bis zu zwei Wochenenden dauern. Das Streichen der Wochenfreizeit soll den Jugendlichen bewusst machen, dass sie etwas falsch gemacht haben, aber gleichzeitig keine negativen Konsequenzen für die Ausbildung, Arbeit oder die Schule mit sich bringen.
Kurzarrest gem. § 16 Absatz 3 JGG ist eine Alternative zum Freizeitarrest, zwei Tage Kurzarrest stehen vier Tagen Freizeit gleich.
Dauerarrest gem. § 16 Absatz 4 JGG ist die einschneidendste Arrestform, dessen Dauer beträgt eine bis vier Wochen.
d) Jugendstrafe und Bewährungssanktionen
Die Jugendstrafe ist das jugendrechtliche Pendant zur Freiheitsstrafe, sie dient nicht mehr erzieherischen Zwecken, sondern auch dem Aspekt des Schuldausgleichs.
Die Jugendstrafe ist Ultima Ratio des Jugendstrafrechts. Gem. § 17 Absatz 2 JGG darf sie nur verhängt werden, wenn Erziehungsregeln und Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder Zuchtmittel zum Ausgleich schwerer Schuld nicht ausreichen.
Es gibt zwei Formen der Jugendstrafe; die Jugendstrafe als Erziehungsstrafe gem. § 17 Absatz 2 1. Alternative JGG und als Schuldstrafe gem. § 17 Absatz 2 2. Alternative JGG.
Die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigung (Erziehungsstrafe), der Begriff stammt noch aus der NS-Zeit, wird laut Definition der Rechtsprechung verhängt, wenn die Täterin erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel habe, die ohne längere Gesamterziehung der Täterin die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Eine ungünstige Prognose über die Rückfallquote der Jugendlichen muss vorliegen.
Die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld (Schuldstrafe) soll eine besonders schwere Tat bestrafen, dies bezieht sich nicht nur auf Kapitaldelikte, sondern auf die konkreten Umstände der Tat. Während das Erwachsenenstrafrecht Erfolgsunrecht ist, die Täterin wird verurteilt, wenn sie den Tatbestand des Delikts erfüllt und keinerlei Schuldaufhebungsgründe vorliegen, ist im Jugendstrafrecht die individuelle Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Täterin zu berücksichtigen.
Die Höhe der Jugendstrafe richtet sich nach § 18 JGG. Gem. § 18 Absatz 1 Satz 1 JGG gilt ein Strafrahmen von sechs Monaten bis fünf Monaten Jugendstrafe, aber für Verbrechen, die im Allgemeinen Strafrecht mit mehr als zehn Jahren Haft bedroht sind, beträgt das Höchstmaß gem. § 18 Absatz 1 Satz 2 JGG zehn Jahre.
In §§ 21 ff. JGG ist die Jugendstrafe mit Bewährung geregelt. Eine Jugendstrafe kann bis zu einem bzw. zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn erwartet wird, dass allein eine Verurteilung zur Warnung ausreicht.
§ 27 ff. JGG: Die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe
Kann in einem Verfahren nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob die Jugendliche „schädliche Neigung“, die gem. § 17 Absatz 2 Alternative 2 JGG hat, kann die Jugendstrafe gem. § 27 JGG zur Bewährung ausgesetzt werden. Wird in der Bewährungszeit, deren Dauer in § 28 Absatz 1 JGG geregelt ist, aufgrund schlechter Führung der Jugendlichen festgestellt, dass sie tatsächlich schädliche Neigungen hatte, wird die vormals ausgesetzte Strafe dann vollstreckt.
e) Rechtsmittel
Die Rechtsmittel im Jugendstrafverfahren sind beschränkt, § 55 JGG. Das Verfahren soll möglichst schnell gehen, um besser der Erziehung zu dienen. Denn die Maßnahmen werden am ehesten akzeptiert, wenn sie in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Tat bestraft werden. Ist die zeitliche Lücke zu lang, kann kein Unrechtsbewusstsein auftreten. Aus diesem Grund ist der lange Rechtsweg von den ordentlichen Gerichten; Eingangsinstanzliches Verfahren, Berufung, Revision, abgekürzt. Gem. § 55 II S.1 ist nur ein Rechtsmittel zulässig; Berufung oder Revision.
C. Wiederholungsfragen