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Religions- Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit, Art. 4 GG

A. Einführung

Die Gewährleistung der Religionsfreiheit hat für den Staat eine grundlegende Bedeutung: Die Stiftung und Erhaltung religiösen Friedens gehört zu den Grundfunktionen moderner Staatlichkeit. Art. 4 GG, die Glaubens- und Gewissensfreiheit hat demnach einen sehr hohen Stellenwert im Grundgesetz. Je mehr die religiöse Vielfalt einer Gesellschaft zunimmt, desto mehr ist ein gegenseitiges Rücksichtnehmen geboten, nämlich des Staates und der Gesellschaft gegenüber religiösen Menschen, aber auch letzterer im Ausleben ihres Glaubens. Menschen verschiedenster Glaubensrichtungen, wie z.B. des Buddhismus, des Judentums, des Islams oder des Christentums sollen ihre Religion frei und ohne Bedenken in Deutschland ausleben können.

Das Grundrecht aus Art. 4 GG sichert dabei mehrere Aspekte gemeinsam ab: die Freiheit des Glaubens, des Gewissen, des Denkens, der Überzeugungen, der Bekenntnisse, sowie das Entäußern und Handelns. Dabei wird Art. 4 I, II GG als ein einheitliches Grundrecht verstanden, welches die Freiheit schützt Glauben, Religion, Gewissen und Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und danach zu handeln. Damit wird der gesamte Prozess umfasst. Parallel dazu wird auch die kollektive Religions- und Kirchenfreiheit geschützt, welche die gemeinschaftliche Betätigung religiöser Menschen zu gemeinsamen Zwecken meint. 

 

B.  Art. 4 GG

I. Persönlicher Schutzbereich

Der Schutzbereich des Art. 4 GG ist nicht auf eine bestimmte Menschengruppe begrenzt, sondern stellt ein sog. „Jedermanngrundrecht“ dar. Grundrechtsträger*innen sind damit alle natürlichen Personen.

 

II. Sachlicher Schutzbereich

Art. 4 GG schützt die Religions-, Weltanschauungs-, Gewissens- und Glaubensfreiheit. Dabei muss jede Ausformung von Art. 4 GG wegen ihrer besonderen Ausgestaltung gesondert betrachtet werden. Insbesondere sind in Art. 4 II, III GG die Religionsausübung und das Kriegsdienstverweigerungsrecht in gesonderten Absätzen geregelt. Art. 4 I, II GG, als einheitliches Grundrecht (BverfG), schützt dabei die Bildung, das Haben, das Äußern und das entsprechende Handeln i.S.d. Glaubens oder der Religion. 

 

1. Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit

Eine Religion stellt eine Gesamtsicht der Welt dar, der es um die Stellung des Menschen, seine Herkunft, Ziele und Beziehungen zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten geht. Sie ist meist bindend für die die Gestaltung des Lebens religiöser Menschen.

Religionen sind z.B. die sog. „fünf Weltreligionen“: das Christentum, der Islam, das Judentum, der Buddhismus und der Hinduismus, die den Menschen in ihren Leben und Sicht auf die Dinge beiseite stehen und leiten sollen. Der Begriff Weltanschauung meint dahingegen ein gedankliches System, welches eine wertende Stellungnahme zum Sinne des Weltgeschehens bietet, ohne dabei auf einen Gott, mehrere Götter oder das Jenseits zurückzugreifen. 

Religion und Weltanschauung werden auch in kooperativer Form, also in Gemeinschaft geschützt, als sog. „Korporative Religions- und Weltanschauungsfreiheit“. Geschützt werden Kirchengemeinden, Moscheen, Synagogen, sowie andere Glaubenshäuser und -Gemeinschaften oder religiöse, weltanschauliche Vereinigungen, i.S.d. Art. 19 III GG. Insbesondere durch Art. 137 II 2 WRV iVm. Art. 140 GG wird diese kooperative Freiheit geschützt. Unter dem Schutz stehen auch die privatrechtlichen Vereinigungen, wie beispielsweise christliche Jugendvereine oder privatrechtlich organisierte konfessionelle Krankenhäuser.

Weiter vom Schutz des Art. 4 GG umfasst ist auch die sog. Gewissensfreiheit. Als Gewissen versteht man die moralische Haltung, welche Menschen in einer konkreten Situation bestimmte Handlungen vorschreibt. Eine Gewissensentscheidung liegt bei jeder ernsten sittlichen, an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung vor, die ein Mensch in einer Situation als für sich bindend ansieht und nicht ohne ernste Gewissensnot gegen diese handeln kann. Zu einer solchen Gewissensnot könnte es z.B. bei Forscher*innen eines Labors kommen, wenn diese auf einmal, entgegen ihrer alltäglichen Forschungsarbeit, Tierversuche durchführen sollen. Die Verweigerung wäre sodann von der Gewissensfreiheit i.S.d. Art. 4 I GG geschützt. 

Der Schutz der Glaubensfreiheit bildet den Kern all dieser Schutzbereiche. Gewissen, Weltanschauung und Religion gipfeln in ihr. Umfasst davon sind die positive Freiheit, d.h. das „Haben“ einer Religion oder einer Weltanschauung, aber auch die negative Freiheit, keine dieser zu besitzen oder zu verfolgen. 

 

2. Die Gewährleistung des Schutzbereiches

Jeder dieser Schutzbereiche umfasst des Weiteren ein sog. forum internum und ein forum externum, welches i.S.d. Art. 4 GG gewährleistet wird. Das forum internum stellt die innere Haltung der Menschen, das Denken, die Gefühle und Ausrichtung zur Religion oder Weltanschauung dar. Die innere geistige Freiheit, einen Glauben, eine Weltanschauung oder ein Gewissen zu bilden, wird davon erfasst.

Unter forum externum werden die z.B. verbal oder optisch nach außen getragenen Gedanken, Meinungen und Gefühle, sowie das Tragen symbolischer Kleidungsstücke, wie einer Kippa, eines Saris oder eines Rosenkranzes, verstanden. Der Schutz des Art. 4 GG umfasst damit auch die Kundgabe der Überzeugungen mittels der Bekenntnisfreiheit. In welcher Form eine solche stattfindet, ist nicht festgelegt. 

Die Religionsausübung, d.h. die Freiheit, Handlungen, wie Gebete, Riten, Sakramente, religiöse Traditionen oder Symboliken auszuüben und zu praktizieren wird gem. Art. 4 II GG gewährleistet. Davon erfasst werden auch das Feiern religiöser Feiertage, z.B. durch den Besuch einer Messe oder das Fastenbrechen nach dem Fastenmonat.

 

III. Eingriffe

Ein Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, welche die Ausübung der grundrechtlichen Freiheiten einschränkt oder gar von Anfang an unmöglich macht. Eingriffe in Art. 4 GG erfolgen bereits durch die Beeinflussung des religiösen Denkens, des oben genannten forum internum. Diese und jeder weitere Eingriff in das Handeln oder die Ausübung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit unterliegen dabei nicht zu unterschätzenden Hürden.

Art. 4 III 2 GG stellt dabei keine Schranke, sondern lediglich einen Regelungsvorbehalt dar. Regelungsvorbehalte sind Modalitäten, Formen und Verfahren, die das einzelne Grundrecht betreffen, handhabbar gemacht werden, nicht aber den Schutz dessen verändern oder verkürzen dürfen. Sie stellen keine Eingriffsgrundlage dar. Ein Eingriff in Art. 4 III 1 GG durch Art. 4 III 2 GG wäre mithin nicht legitim. Beispiele für Eingriffe in das Grundrecht sind z.B. Das Aufhängen von Kruzifixen in staatlichen Schulen oder ein Gebetsgebot im Amt.

 

IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Art. 4 GG enthält, abgesehen von den verfassungsimmanenten Schranken, d.h. maßgeblich anderen Grundrechten, keinen Gesetzesvorbehalt. Im Zusammenspiel mit anderen Grundrechten, wie der Handlungsfreiheit i.S.d. Art. 2 I GG oder der Gewährleistung des Schulwesens aus Art. 7 GG kommt es aber immer wieder zu verfassungsrechtlichen Konflikten.

Eine Besonderheit in Hinblick auf Art. 4 GG stellen auch die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) dar, die gem. Art. 140 GG teilweise weitergelten. 

Art. 136, 137, 138, 139 und 141 WRV gelten heute als Bestandteil des Grundgesetzes und üben u.a. durch Art. 136 III 2 WRV, welcher die negative Religionsfreiheit eines Menschen sichert, teilweise Einfluss auf Art. 4 GG aus. 

Eine rechtliche Begrenzung des Art. 4 GG durch die WRV wird dagegen überwiegend abgelehnt. Die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG steht im Rang höher, im Vergleich zur WRV und überlagert diese. Damit wird Art. 4 GG gesetzesvorbehaltslos gewährt. Einschränkungen und Eingriffe durch andere Grundrechte bedürfen einer den Verhältnismäßigkeitsmaßstäben angemessenen Rechtfertigung. 

 

C. Werkzeuge

Religion

Eine Religion ist eine Gesamtsicht der Welt, der es um die Stellung des Menschen in der Welt, seine Herkunft, sein Ziel und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten geht. Eine Weltanschauung ist ein gedankliches System, welches eine wertende Stellungnahme zum Sinne des Weltgeschehens bietet, ohne dabei auf einen Gott oder Götter oder das Jenseits zurückzugreifen. 

In Gemeinschaft und / oder in Gruppen mit anderen Menschen können Weltanschauungs-, wie auch Religionsfreiheit als Kooperative Religions-, oder Weltanschauungsfreiheit geschützt werden.

Gewissensfreiheit

Die Gewissensfreiheit stellt die Freiheit dar, eine Entscheidung an den Kategorien „Gut“ und „Böse“ für sich zu treffen und in dieser Situation als für sich bindend anzusehen.

Forum internum

der innere Bereich des menschlichen Glaubens

Forum externum

die nach außen wirkende Betätigung der Überzeugung

 

Beispielfall:

Die muslimische Schülerin A möchte aufgrund ihres Glaubens nicht am Schwimmunterricht der Schule teilnehmen. Dieser wird allerdings durch ein Landesgesetz, welches im Bundesland der A gilt und als verfassungsgemäß angesehen werden kann, vorgeschrieben. A möchte auch keinen Burkini, wie ihr von der Klassenlehrerin vorgeschlagen wurde, tragen und will dem Schwimmunterricht grundsätzlich fernbleiben. Der „Schutz“ durch einen Burkini reiche ihr nicht aus, ist sie doch auch mit den Körpern der anderen Schüler*innen, insbesondere den männlichen Schülern, konfrontiert. Ein Antrag auf Befreiung vom Schwimmunterricht blieb erfolglos. 

A fragt sich nun, nachdem sie im Fach „Recht“ die Verfassungsbeschwerde und Art. 4 GG kennen gelernt hat, ob eine solche auch in ihrem Fall erfolgreich wäre. Dabei kommt es ihr nur auf die Begründetheit an. Hätte das Einlegen einer Verfassungsbeschwerde gegen die Pflicht zur Teilnahme am Schwimmunterricht für A Aussicht auf Erfolg? 

 

I. Der Schutzbereich des Art. 4 GG müsste eröffnet sein.

Der Islam ist ein Überzeugungssystem, dass die Stellung des Menschen in der Welt betrifft und einen transzendentalen Bezug zu einer höheren Macht aufweist und damit eine Religion i.S.v. Art. 4 I, II GG. Die Freiheit des Glaubens umfasst auch den Schutz Handlungen danach auszurichten. Die religiösen Bekleidungsvorschriften des Islams sieht A dabei als für sich bindend an. A als natürliche Person kann sich dabei auch auf das Grundrecht aus Art. 4 GG berufen. 

 

II. Die Pflicht zur Teilnahme am Schulunterricht stellt dabei einen Eingriff in die Religionsfreiheit der A dar. Eingriffsgrundlage ist dabei das entsprechende Landesgesetz, welches als verfassungsgemäß anzusehen ist. Fraglich ist, ob der Eingriff aufgrund des Gesetzes verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Dafür müsste der Eingriff verhältnismäßig sein. 

Legitimer Zweck der Verweigerung einer Befreiung von der Schulpflicht, bzw. Zweck der Schulpflicht, ist die Durchführung des Bildungs- und Erziehungsauftrags aus Art. 7 I GG. Der Schwimmunterricht soll zunächst alle Schüler*innen zur körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung durch Sport anhalten, aber auch Schwimmen als Überlebenstechnik lehren. Außerdem soll dies die soziale Kompetenz, insbesondere in Gruppen, ausbilden. Das ist auch ein geeignetes, also förderliches Mittel. 

Es müsste des Weiteren erforderlich sein, d.h. es dürfte kein gleich geeignetes, milderes Mittel geben. Möglicherweise würde ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht in Betracht kommen und ein solches milderes Mittel darstellen. Zwar ließe sich sportliche Betätigung und eine Vermittlung der Überlebenstechnik Schwimmen auch in einem solchen Unterricht erreichen. Doch mit getrenntem Schwimmunterricht wäre die Gleichstellung von Mann und Frau nicht gleichermaßen gut vermittelbar. Ein privater Schwimmunterricht würde die Kompetenz des sozialen Umgangs mit Andersdenkenden nicht vermitteln können. Diese Mittel scheinen demnach nicht als gleich geeignet.

Darüber hinaus müsste die Verweigerung der Befreiung der A aber auch ein angemessenes Mittel darstellen. Religiöse Überzeugungen können für Menschen eine wesentliche, Bedeutung haben. Ihre Beeinträchtigung kann für A sehr schwer wiegen. Das Tragen eines Burkinis lehnt A ab. Bei Teilnahme wäre sie den Blicken der anderen Schüler*innen ausgesetzt und würde diese ebenfalls wenig bekleidet betrachten. Hier kollidieren nun Art. 4 I, II GG und Art. 7 I GG. Der Staat muss den Bildungsauftrag erfüllen und ist versucht möglichst allen dabei gerecht zu werden und Interessen zum Ausgleich zu bringen. Dabei stellt die Möglichkeit im Burkini am Unterricht teilzunehmen ein deutlich milderes Mittel dar, als eine Bekleidungspflicht. Außerdem dient der Schwimmunterricht nicht nur den sozialen Aspekten, sondern auch dem Überleben in freien Gewässern durch das Schwimmen. Der Anblick anderer (insbesondere männlicher) Kinder in Badehose mag den religiösen Überzeugungen der A zuwiderlaufen. Allerdings haben auch diese ein Recht darauf, sich so zu kleiden, wie sie es für richtig erachten. Grundrechte sollen ein Verhalten, das von dem Verhalten anderer Personen abweicht, gerade ermöglichen. Dies gilt auch dann noch, wenn man dem nicht freiwillig ausgesetzt ist, wie im Schulunterricht, und gilt im Übrigen auch umgekehrt: Mitschüler*innen von A haben auch kein Recht darauf, nicht mit dem Kopftuch der A konfrontiert zu werden, wenn sie ein solches im Rahmen ihrer Religion tragen möchte. Insgesamt liegt daher durchaus eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der A aus Art. 4 I, II GG vor. Diese ist aber als eher geringfügig anzusehen. Die Belastung kann insbesondere durch den Burkini gemindert werden. Dem Bildungs- und Erziehungsauftrag ist vorliegend Vorrang einzuräumen. Die Beschränkung der Religionsfreiheit der A ist angemessen und damit insgesamt verhältnismäßig. Die Überzeugung der A ist durchaus von der Religionsfreiheit gedeckt, die Abwägung zwischen Art. 7 I GG und Art. 4 I, II GG hat vorliegend allerdings zu dem Ergebnis geführt, dass der Eingriff in Art. 4 I, II GG gerechtfertigt ist. 

 

Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der A wäre nicht begründet.