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09/2023 - Ottmar Ette

Foto: Judith Affolter, Berlin

Herr Prof. Dr. Ottmar Ette war seit Oktober 1995 Lehrstuhlinhaber für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Als Professor für französisch- und spanischsprachige Literaturen umfassten seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung TransArea Studies, Alexander von Humboldt, Konvivenz und Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Als Leiter des Akademienvorhabens an der BBAW führt Herr Prof. Dr. Ette auch nach seiner Emeritierung seine wissenschaftliche Arbeit und Forschung fort. Auf seine über achtundzwanzigjährige Wirkungszeit an der UP blickt er gerne zurück, wie er uns im folgenden Interview berichtete.


Lieber Herr Prof. Dr. Ette, blicken Sie gerne auf die Zeit an der Universität Potsdam zurück? Gibt es etwas, an das Sie sich während Ihrer langjährigen Wirkungszeit an der UP ganz besonders gerne erinnern?

Ich blicke in großer Dankbarkeit auf die achtundzwanzig Jahre meiner Lehrtätigkeit an der UP zurück. Es war meine erste Bewerbung um eine Professur; und sie traf voll ins Schwarze. Dabei habe ich die UP in meiner eigenen Arbeit immer als einen wichtigen Bestandteil der akademischen Landschaft von Berlin und Brandenburg gesehen, was damals nicht selbstverständlich war. Das Schönste? Einen wirklichen Höhepunkt stellte die Ehrendoktorwürde im Mai 2007 für den Schriftsteller und Buchenwald-Überlebenden Jorge Semprún dar, mit dem mich bis zu seinem Tod eine treue Freundschaft verband. Es war die erste Ehrendoktorwürde, die ihm in Deutschland zuteilwurde, und er hat sie als eine späte Anerkennung sehr genossen.

Als Professor für französisch- und spanischsprachige Literaturen seit 1995 haben Sie langjährige Lehrerfahrung an der Universität Potsdam. Welche Veränderungen/Entwicklungen lassen sich Ihrer Meinung nach an der UP und in der universitären Lehre und bei den Studierenden der Romanistik beobachten?

Ich habe die universitäre Lehre immer als ein Glück empfunden. In jedem Semester, ob am Anfang oder am Ende der Laufbahn, tritt man vor Studierende, die stets das mehr oder minder selbe Alter haben; und auf der einen Seite wirkt das auf einen wie eine Verjüngungskur. Die Kolleg:innen werden kontinuierlich älter, man selbst auch, aber die Studierenden sind immer gleich jung. Und man selbst mit ihnen. Auf der anderen Seite haben die Studierenden immer andere Voraussetzungen, immer andere Träume und Hoffnungen, immer andere Ängste und „Unruhen“. Da die Literatur ganz nahe am Leben ist, bekommt man in den Seminaren viel davon mit. Es ist sicher, dass die Studierenden zu Beginn meiner Laufbahn mehr Fachwissen mitbrachten; das lässt sich im Seminar jedoch ausgleichen. Ich setzte früher 3000 Seiten Lektüre zu Beginn eines Seminars voraus. Das ist heute nicht mehr möglich. Ich fand die Entwicklung bei den Studierenden vom Wissen zur Information dafür aber sehr spannend: ihre wachsende Geschicklichkeit, mit Informationen umzugehen. Ich habe stets weltweit unterrichtet und konnte Studierende in Potsdam mit Studis in Buenos Aires, Mexiko-Stadt, Havanna, Nashville oder New York vergleichen: Das war stets ein Faszinosum für mich.

Wie kamen Sie persönlich zur Romanistik? Woher rührt Ihre Leidenschaft für romanische Literatur?  Wie ist die Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zu verstehen?

Ich war im zarten Alter von 11 Jahren und mit 3 Monaten Französisch im Schüleraustausch in Frankreich. Das war entscheidend. Durch die späteren Studienjahre in Frankreich und vor allem Spanien verstand ich, dass die romanischen Literaturen nicht nur Europa, sondern durch das Spanische, das Portugiesische und das Französische eine ganze Welt erschließen. Wissenschaft habe ich bei Erich Köhler gelernt. Doch die Romanistik musste sich neu erfinden: Die außereuropäische Welt kam dazu. Ich habe zunächst die französisch- und spanischsprachige Welt aus der Perspektive Europas gesehen. Doch die Perspektiven vervielfachten sich durch viele Vortragsreisen schnell. Ich verstehe Europa oder Lateinamerika heute besser, seit ich beide auch aus der chinesischen Perspektive sehen kann. Es gibt keinen besseren Weg zu anderen Kulturen als die Literaturen der Welt: Ihr Lebenswissen zeigt uns keine „platte“ Wirklichkeit, sondern eine vieldeutige gelebte und erlebte Wirklichkeit. Davon kann ich nie genug bekommen.

Ihr Interesse galt zeitlebens Alexander von Humboldt. Wie kam es dazu? Was fasziniert Sie besonders an dem Entdecker und Forscher?

Mit Humboldt war es der coup de foudre, die Liebe auf den ersten Blick. Humboldt hat das große Glück gehabt, alt zu werden. So konnte er über mehr als sieben Jahrzehnte forschen. Er hat durch seine Reisen ständig die Perspektiven gewechselt und sich ein Weltwissen erworben, das weitaus komplexer war als das seiner Zeitgenossen. Kultur und Natur sind bei ihm ebenso untrennbar miteinander verbunden wie wissenschaftliche Präzision und literarisches Lebenswissen. Von ihm kann man lernen, beim Denken ständig an Komplexität zuzulegen. Die Humboldt’sche Wissenschaft führte fast zwangsläufig zu einem ökologischen Denken, er entwickelte das Konzept einer anderen Moderne, die nicht auf Ausbeutung basiert. Jeglicher Nationalismus war ihm wesensfremd. Man kann bis heute viel von ihm lernen.

Weitere Schwerpunkte Ihrer Forschung und Lehre stellen die Themenbereiche Konvivenz und TransArea Studies dar. Können Sie näher beschreiben, was darunter zu verstehen ist? Welche Rolle spiele diese Aspekte im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung für die Menschen und deren friedliches Zusammenleben?

Die Literaturen der Welt helfen dabei, etwa die Globalisierung nicht nur aus westlicher, sondern kubistisch aus verschiedensten Perspektiven gleichzeitig zu begreifen. Das meint im Kern TransArea. Seit dem Gilgamesch-Epos geht es um das Zusammenleben des Menschen mit den Göttern, mit anderen Menschen, mit den Tieren, den Pflanzen, den Steinen und allem, was wir heute als Umwelt bezeichnen. Konvivenz fällt den Menschen schwer: Wir bauen mühsam unser Zusammenleben auf, können es aber in Windeseile zerstören. Unsere Zeit ist ein gutes Beispiel dafür: Die UN kommt nicht voran, die EU als Konsequenz zweier Weltkriege wird zerredet, Kriege sind lodernde Bestandteile unserer Realität. Digitalisierung war für mich von Beginn an eine Chance: Ich habe vor einem Vierteljahrhundert eine elektronische Zeitschrift gegründet und leite ein Akademienvorhaben, das im Kern ein Projekt der Digital Humanities ist. Man muss die eigenen Wissenschaften im Verbund mit anderen stets neu erfinden.

Worauf freuen Sie sich nun, nach Ihrer Emeritierung, in den kommenden Jahren?

Die Emeritierung war kein Einschnitt. Ich leite noch zehn Jahre lang das Akademienvorhaben an der BBAW, habe in China ein Forschungszentrum gegründet und pendle zwischen den Welten. Für mich vielleicht noch wichtiger: Vor wenigen Wochen ist mein Debütroman „Zwei deutsche Leben“ erschienen. Ohne Schreiben könnte ich nicht leben. Die Wissenschaften sind ein wunderbares Feld, in dem man nie alleine ist und in dem die eigene Arbeit stets von anderen fortgeführt und weiterentwickelt wird. Aber es gibt ein riesiges Wissen jenseits der Wissenschaften, das nur durch die Fiktion zu erreichen und zu erforschen ist. Ich bin sehr glücklich darüber, ebenso die wissenschaftliche Arbeit weiterführen zu dürfen als auch vielperspektivisch die Welten der Literatur zu erkunden. Man kann und muss sich immer neu erfinden: Dafür bin ich zutiefst dankbar.

Haben Sie vielen Dank für das interessante Interview– wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Weg!

 


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