Prof. Dr. Gerson Roberto Neumann
UP Reconnect Guest: Prof. Dr. Gerson Roberto Neumann
Visiting from: Brazil
Home Institution: Universidade Federal do Rio Grande do Sul
Host at the UP: Dr. Julian Drews
Institute at the University of Potsdam: Institute for Romance studies
Time of the visit: December 2023 - January 2024
Prof. Dr. Gerson Roberto Neumann ist Professor für Germanistik an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul (UFRGS) in Brasilien, wo er außerdem diverse Forschungsprojekte leitet. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit der deutschen Literatur in Brasilien, wozu er auch während seines Aufenthaltes in Potsdam forschte.
Lieber Herr Neumann, Sie waren selbst ein Jahr von 2014 bis 2015 als Post-Doc an der Universität Potsdam, wie haben Sie Ihren Aufenthalt damals erlebt?
Meine Erfahrung als Post-Doc Stipendiat war sehr gut. Eine längere Zeit an einer Universität in Deutschland bleiben zu können ist immer sehr wichtig für meine Forschung, denn ich brauche die neusten Referenzen, die ja für einen Germanisten aus Brasilien im deutschsprachigen Raum zu erreichen sind. Anzumerken ist aber noch, dass der Kontakt zu Prof. Dr. Ottmar Ette damals von großer Bedeutung für meine Foschung war, denn durch seine Theorien konnte ich meine Forschung in Brasilien sehr gut weiterführen. Danach hat unser Kontakt sich sehr intensiviert und es sind viele Produkte daraus entstanden.
Großes Thema Ihrer Forschung ist die Minderheitenliteratur, insbesondere deutsche Literatur in Brasilien. Dieses Jahr wird das zweihundertjährige Jubiläum der politisch organisierten deutschen Einwanderung in Brasilien begangen – welche Aufmerksamkeit erfährt das Jubiläum in Brasilien, und welche in Deutschland?
Genau, zweihundert Jahre deutschsprachige Einwanderung in Brasilien. In Brasilien wird sehr viel gemacht. Es sollen aber nicht nur folkloristische Initiaven stattfinden. Als wissenschaftlicher Teilnehmer des Instituto Histórico de São Leopoldo, haben wir das Projekt ‘AUF DEM WEG ZU 2024’ ins Leben gerufen, das Forschung und Hochschulaufbaukurse umfasst. Es bezieht sich auf die Gedenkfeierlichkeiten zum 200. Jahrestag des Beginns der deutschsprachigen Migration nach Brasilien, die mit der Ankunft der ersten Einwanderer aus deutschen Regionen und der Gründung der sogenannten Kolonie São Leopoldo in der damaligen Provinz São Pedro do Rio Grande do Sul, im äußersten Süden Brasiliens, am 25. Juli 1824 ihren Anfang erlebte. Das Ziel ist kritische Reflexionsmöglichkeiten in allen Wissensbereichen zu schaffen, um zur politisch-kulturellen Praxis eines Gedächnisses und einer 1824 begonnenen Geschichte der deutschsprachigen Einwanderung in Brasilien beizutragen. Außerdem soll die Rolle des Gedächnisses und der kulturellen Identität für den Aufbau einer nichtdiskriminierenden (wie es häufig der Fall bei Feierlichkeiten ist, die traditionell zu Einwanderungsfragen organisiert und durchgeführt werden) menschlichen Einheit wiederhergestellt werden. Sehen Sie dazu die Seite des Instituts: https://institutohistoricosl.com.br/ und auch eine Liste der bisher in diesem Projekt veröffentlichten Bücher: https://institutohistoricosl.com.br/?page_id=74 In Deutschland finden auch Veranstaltungen statt. Ich selbst habe Vorträge an den Universitäten in Bamberg und Erlangen gehalten.
Können Sie uns einen kleinen Einblick ins das Forschungsfeld „Deutsche Literatur in Brasilien“ geben? Mit welchen Textzeugnissen haben Sie es beispielsweise zu tun und gibt es auch vergleichbare Literatur anderer Einwanderersprachen?
Die Geschichte einer Literatur auf Deutsch in Brasilien beginnt ab 1850, als die Brummer als Söldner nach Brasilien kommen. Die Brummer waren Liberale, die in der 48er Revolution aktiv waren und nach dem frustrierenden Versuch, eine deutsche Nation zu gründen, wurden viele politisch verfolgt und mussten deshalb auswandern. Diese Gruppe bewegte die Kultur und besonders die Lage der Presse in Brasilien. Es wurden zahlreiche Zeitungen, Kalender und Zeitschriften sowie Bücher veröffenlicht, in denen drei Gruppen deutlich agierten: die Lieberalen, die katholische und die evangelische Kirche. Es wurden Texte (darunter viele fiktionale Texte, besonders in den Kalendern) für eine Leserschaft geschaffen, die Literatur auf Deutsch in Brasilien las. Hier ein Beispiel: https://bndigital.bn.gov.br/dossies/periodicos-em-lingua-alema-no-brasil/os-periodicos/jornal-alemao-geral-allgemeine-deutsche-zeitung/?lang=DE Diese Texte werden im Moment digitalisiert, damit sie zugänglicher sind. In Brasilien gibt es ähnliche Beispiele auf Italienisch, Arabisch, Japnaisch und auch Polnisch. Es exisitierte eine fremdsprachige Presse in Brasilien im 19. Jahrhundert, die leider sehr wenig bekannt ist und mehr in Forschungen bearbeitet werden sollte.
Darüber hinaus sind Sie an vielen anderen Forschungsprojekten beteiligt – wie schaffen Sie es, alles unter einen Hut zu bekommen?
Irgendwie sind alle Projekte miteinander verbunden. Wichtig zu betonen ist auch, dass ich als brasilianischer Germanist einen Dialog mit den deutschen Romanisten für besonders wichtig halte, denn durch diesen Kontakt findet eine Kreutzung statt, durch die alle Interessenten gewinnen. Ich selbst leite zwei Forschungsprojekte: In einem geht es um die deutschen Kulturelemente in der brasilianischen Literatur ab 1847, als zum ersten Mal eine deutsche Familie im Buch A divina Pastora (1847) des brasilianischen Autors José Antônio do Vale Caldre e Fião vorkam. Im anderen Projekt geht es um die Werke folgender Autoren: Yoko Tawada, Guy Helminger und Jose Oliver, drei Autoren der deutschen Literatur, die mit einem Migrationshintergrund verbunden sind und für mich deshalb von besonderer Bedeutung sind.
2017 haben Sie das Zentrum für Deutschland- und Europastudien (ZDE) gegründet – womit beschäftigt sich die Forschung am ZDE?
Das ZDE ist ein Produkt dieser Zusammenarbeit der beiden großen Universitäten in Porto Alegre – UFRGS und PUCRS – mit Deutschland. Wie auf der Seite des CDEA steht: „Das von der PUCRS und UFRGS gemeinsam eröffnete Zentrum für Deutschland- und Europastudien setzt sich interdisziplinär mit den drei Schlüsselphänomenen – Globalisierung, nachhaltige Entwicklung und kulturelle Vielfalt – auseinander und betrachtet sie im Kontext unterschiedlicher Erfahrungen und Konstruktionen in Europa /Deutschland und Brasilien.“ Für mich sind die drei erwähnten Schlüsselphänomene passent für die Forschungsprojekte, denn mein Dialog mit der deutschen Romanistik und Germanistik ermöglichen diesen Austausch.
Welchen Vorteil brachte Ihnen der Aufenthalt in Potsdam für Ihre Forschung, konnten Sie Ihre Ziele erreichen?
Der Aufenthalt in Potsdam war besonders wichtig für meine Forschung, denn mein Ziel war bis dahin, diese Literatur auf Deutsch in Brasilien in einem literarischen System einzuordnen. Durch Ottmar Ettes Theorien konnte ich nun feststellen, dass diese Produktion eigentlich nicht eingeordnet werden muss, sie muss aber bearbeitet werden. Man muss in Brasilien sowie in Deutschland wissen, dass diese Literatur existiert. Und da liegt auch meine Funktion als Literaturwissenschaftler: Ich muss dafür sorgen, dass die deutschsprachige Literatur in Brasilien nicht vergessen wird. Durch Ettes Begriffe, wie zum Beispiel „Literatur in Bewegung“, „Literatur ohne festen Wohnsitz“, „Transareale Literaturforschung“ u.a. konnte ich für meine Forschung Elemente finden, die genau passten.
Vielen Dank für das Interview, wir wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft!