05/2022 - Raul Krauthausen
Raul Krauthausen weiß als Rollstuhlfahrer, wie wichtig eine barrierefreie und inklusive Gesellschaft ist. So gründete der Berliner Aktivist, Autor und Moderator, den gemeinnützigen Verein Sozialhelden e.V., der sich als Denkfabrik für soziale Projekte versteht. Von 2008 bis 2009 hat er an der Universität Potsdam Design Thinking studiert. Was ihm das Studium am HPI persönlich gebracht hat und wie er sich Inklusion an Hochschulen wünschen würde, verriet er uns in einem Interview.
Raul, du hast am HPI der Universität Potsdam Design Thinking studiert. Wie kam es dazu und wie sah dein Studium damals aus?
Zu meiner Zeit am HPI studierte ich parallel Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste und ich habe nebenbei bei Radio Fritz gearbeitet. Da Radio Fritz ja in Babelsberg bzw. Griebnitzsee ist, fuhr ich vier Jahre lang an dem HPI Gebäude vorbei und jedes Mal fragte ich mich: „Was zum Teufel ist das eigentlich?“. Ich informierte mich dann und bewarb mich in völliger Naivität. Es war kein Studienabschluss nötig und ich war einfach neugierig. Ich bereue diese Entscheidung überhaupt nicht. Ich würde es jedem wieder empfehlen und habe auch schon vielen Leuten dieses Studium empfohlen. Mit Ende 20 nochmal die Gelegenheit zu bekommen, wie ein dreijähriges Kind auf die Welt zu blicken, ist schon toll. Design Thinking bedeutet auch, nochmal den Kopf aufzumachen, alles in Frage zu stellen und von vorne anzufangen. Es ist wie ein Spielplatz.
Das war sicher mit neuen Erfahrungen und neuen Herangehensweisen verbunden.
Genau. Der Ärger an dieser Design-Thinking Nummer ist, das man es viel zu spät lernt. Ich glaube, man könnte sowas mit Kindern sehr gut machen und ihnen viel Selbstbewusstsein mit auf ihren Weg geben. Ich lernte das mit 30 Jahren und damals waren alle voll geflasht, aber eigentlich hätten sie das nicht sein müssen. Design Thinking ist keine Raketenwissenschaft, man muss nicht das große Latinum dafür haben – warum also ist das nur für Erwachsene gedacht?
Welche Erkenntnis während des Design Thinking Studiums findest du besonders prägend?
Im Design-Thinking ist die erste Regel „Scheitere so früh und oft, wie du kannst“, also „fail early and often“. Wir bekommen unser ganzes Leben lang von Schule und Hochschulen, von Professor*innen und Arbeitgeber*innen erzählt, bloß keine Fehler zu machen, sonst würde man rausfliegen. Im Design Thinking ist das anders: Hier wird gesagt, mach so viele Fehler du kannst, denn nur dann lernst du überhaupt. Das klingt jetzt so kitschig, aber mir fällt eine passende Geschichte dazu ein. Zu der Zeit, als ich mich bewarb, war ich schon auf eine Art ein „Mauerblümchen“ und normalerweise immer in unterstützender Begleitung in der Uni. Als ich mit dem Design Thinking anfing, habe ich zum ersten Mal für mich gesagt: „Du gehst da jetzt ganz alleine hin“. Und dann stand ich da plötzlich vor verschlossener Tür und wusste nicht, ob ich richtig bin. Ich musste mich erstmal überwinden, einen wildfremden Studierenden zu fragen, ob er mir die Tür aufmachen kann. Und dann stand ich da in diesem Raum, ich glaube es war eine Art Assessment Center, und alle waren solche „Mauerblümchen“ wie ich. Wir waren alle total eingeschüchtert, weil wir plötzlich Englisch reden sollten. Die Leute haben deswegen sogar geweint. Das war eine ganz merkwürdige Situation und ich habe plötzlich gemerkt, dass ich mit dieser Unsicherheit gar nicht so alleine bin. Nach einem Jahr hatte keiner mehr Angst, weil wir jeden Tag drei Minuten auf Englisch präsentieren mussten. Wenn du so in das kalte Wasser geworfen wirst, dann lernst du auch Englisch. Das war zwar kein perfektes Englisch, da es dort aber nicht elitär war, machte dies aber auch nichts. Wir haben einfach die Angst davor verloren, Dinge zu machen, die wir normalerweise nicht machen. Das fand ich unglaublich stark.
Ist dir eine Challenge besonders in Erinnerung geblieben?
In den ersten drei Tagen des Studiums gab es eine Challenge, in der die Teams in eine Konkurrenzsituation gesteckt wurden. Konkret ging es um die Tütensuppenchallenge, bei der wir asiatische Tütensuppen mit echten Nudelsuppen im Restaurant vergleichen sollten. Für die Nudelsuppe mussten wir alle mit der Bahn nach Charlottenburg fahren und ein Restaurant finden. Ich war der einzige Mensch mit Behinderung in der Gruppe und wir haben partout kein rollstuhlgerechtes Restaurant gefunden. Ich spürte dann wieder diese Unsicherheit, dass ich eine Last sei und meine Mitstudierenden die Challenge nicht richtig wahrnehmen könnten. Ich bot meinem Team daher an, ohne mich ins Restaurant zu gehen. Da sagte einer von ihnen: „Nein, auf keinen Fall. Wir machen das alle gemeinsam oder keiner“. Dann nahm er eine Rampe von einem Möbelwagen in der Nähe und wir gingen in einen kleinen Asia-Shop und kauften die Tütennudelsuppen. Weil die Zeit so knapp war, fragten wir vor lauter Verzweiflung die Verkäuferin, ob sie ein asiatisches Restaurant kennt, das Nudelsuppen verkauft und rollstuhlgerecht ist. Die Dame hat uns direkt durch ihren Laden geführt, einen Schrank zur Seite geschoben, eine kleine Tür wie im Harry Potter Film aufgemacht, und plötzlich standen wir in der Küche von der Familie des Ladens. Dort aß die Oma gerade mit ihrem Enkel Nudelsuppe. Im nächsten Moment aßen wir schon mit ihr und durften sogar die Küche fotografieren. Zurück an der Universität Potsdam waren wir die einzige Gruppe mit tollen Fotos von Küchentöpfen. Und plötzlich war mein Merkmal ‚Behinderung‘ der große Vorteil. Und der Gedanke, dass du einfach nicht weißt, was kommt, ist genau das, was Design Thinking ausmacht. Das war sehr cool und hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben.
Kannst du eine solche Weiterentwicklung auch auf beruflicher Ebene feststellen?
Ich glaube, ich stelle einfach öfter die Frage: Warum? Warum sind Dinge eigentlich so wie sie sind? Was sind eigentlich die Dinge, die man sagt und wurden sie jemals reflektiert oder hinterfragt? Im Studium des Design Thinking ergibt sich jedoch irgendwann das Problem, dass man überall nur noch Fehler findet. Fehler im System, Fehler in der Welt, oder im Design von Bushaltestellen und Straßenbahnen. Beispielsweise die Knöpfe, die man betätigt, damit die Ampel auf Grün schaltet. Diese sehen genau so aus, wie die Knöpfe an Ampeln für blinde Menschen. Warum macht man dann nicht gleich einen gemeinsamen Knopf für blinde und nicht blinde Menschen oder gestaltet sie so unterschiedlich, dass es auf Anhieb erkennbar ist? Du brauchst nur mal an der Ampel stehen und gucken, wer den Blindenknopf drückt. Es sind alle. Oder ein anderes Beispiel: Am Bahnhof sind viele im Stress, sie sehen dann natürlich nicht, welche Wagennummer der Wagen hat, welche Sitzreihe und so weiter. Und dann verwechseln sie das Schild „1. Klasse“ mit Wagen Nummer eins. Das liegt daran, dass die Züge und die Schilder so schlecht designt sind und die Wagennummer viel zu klein gestaltet ist. Solche Beispiele gibt es tausendfach.
Was denkst du, müsste passieren, um wahrhaftige Inklusion wirksam und nachhaltig an Hochschulen zu erreichen?
Ich fände wirklich richtig gut, wenn Inklusion nicht immer nur als etwas Passives betrachtet werden würde. Sprich, nicht nur nach dem Motto „Studierende dürfen auch mit Behinderung studieren“, sondern auch, dass es beispielweise Dozierende mit Behinderungen gibt. Das ist glaube ich etwas, was in Deutschland noch sehr selten vorkommt. Ich will mich jetzt nicht bewerben, weil ich keine Zeit habe, aber mit dem Studium von Design Thinking könnte ich theoretisch auch Coach an der Design Thinking-School sein. Ich hatte früher als Alumnus auch bestimmt die Gelegenheit, dass über ein Semester hinweg zu machen, aber sicher kann die Uni Potsdam noch mehr dafür tun, auch Dozierende mit Behinderungen zu gewinnen.
Und was wäre gesamtgesellschaftlich im Bereich Inklusion nötig?
Allgemein denke ich, dass wir bei Inklusion viel mehr an den Punkt kommen sollten, Menschen mit Behinderung von Anfang an mit einzubeziehen: In Problemstellungen, in Fragestellungen, in Challenges. Nicht erst am Ende, wenn etwas Fertiges getestet wird, denn dadurch entstehen unglaublich viele nutzlose Innovationen. Zum Beispiel der treppensteigende Rollstuhl. Ingenieure brüsten sich damit, dass sie in der Lage waren einen Rollstuhl zu bauen, der mit einer Walze die Treppe hochfährt, wie ein Panzer. Viele finden das cool. Aber Menschen, die im Rollstuhl sitzen, wollen keine treppensteigenden Rollstühle, wir wollen Aufzüge. Da wird unter der Flagge ,der Mensch mit Behinderung‘, Innovation betrieben und Geld gemacht, Fördergelder ausgeschüttet und Krankenkassen bezirzt, ohne mit einem Menschen mit Behinderung je besprochen zu haben, ob das überhaupt Sinn macht. Ein anderes Beispiel: Ich bekomme regelmäßig E-Mails von Universitäten, die einen Handschuh entwickelt haben, der Gebärdensprache in Text verwandelt. Klingt erstmal gut. Aber die Leute, die mich damit kontaktieren, zeigen mir auch gleichzeitig, dass sie sich noch nie richtig mit dem Thema Gebärdensprache auseinandergesetzt haben. Gebärdensprache ist keine 1:1 Übersetzung von Gesten, Worten und Sprache. Sondern es ist eine ganz eigene Sprache mit eigener Grammatik und Mimik – und die Mimik wird mit der Hand überhaupt nicht abgebildet. Hier sehe ich das Problem, dass Innovationen für Menschen mit Behinderung gemacht werden, aber nicht mit ihnen.
Neben deinen Büchern und Podcasts sind auch Projekte wie Wheelmap, „Pfandtastisch helfen!” und Leidmedien kreativ und sehr erfolgreich. Sie werden viel genutzt und helfen, Inklusion sichtbar und möglich machen. Macht es dich stolz, deinen Teil dazu beigetragen zu haben?
Naja, Stolz ist nicht das richtige Wort. Am ehesten freue ich mich, dass die Projekte so gut ankommen und wahrgenommen werden. Ich merke aber gleichzeitig, wie viel noch in dem Bereich zu tun ist. Ich finde es schade, dass wir erst kommen mussten, um dieses Thema überhaupt aufzumachen. Denn das Phänomen existiert ja schon seit Jahrzehnten. Wir hatten vielleicht einfach das Glück, mit der richtigen Idee zur richtigen Zeit dagewesen zu sein.
Ist es nicht auch Inhalt des Studienganges Design Thinking, zu aller erst die Endnutzer*innen nach Ihren Wünschen zu fragen?
Ja, aber oft werden dann trotzdem noch die Falschen gefragt. Wenn es um das Thema Menschen mit geistiger Behinderung geht, dann wird lieber mit dem Pflegepersonal als mit den Betroffenen selbst gesprochen. Vermutlich, weil es umständlicher ist. Es wird dann mit Angehörigen, mit den Familien, mit den Eltern, aber selten mit den tatsächlich Betroffenen gesprochen. Es wäre ähnlich anstrengend, wie wenn mit Kindern gearbeitet werden muss – da ist es natürlich leichter, mit den Erzieher*innen zu reden. Die Zielgruppen sind aber die Kinder selbst, oder die Menschen mit Behinderungen, und eben nicht deren Eltern. Eine Parallele dazu ergibt sich, wenn Männer Dinge erfinden, die für Frauen sind. Beim ersten Modell eines Fitness-Trackers, der vor der Apple Watch auf den Markt kam, hat es zwei Jahre gedauert, bis Apple die Periode der Frau berücksichtigte. Und man versuchte, herauszufinden, woran das lag: Im ganzen Entwicklungsteam waren nur Männer. 50 % der Gesellschaft sind Frauen. So etwas verstehe ich halt nicht. Ich fände es aber auch super, wenn das im Design Thinking kritisch betrachtet werden würde. Wer entscheidet eigentlich was? Wer entscheidet, welche Themen relevant sind? Und in diesem Kontext sollte auch ein bisschen über Macht gesprochen werden. Ich möchte keinesfalls jemanden etwas unterstellen, so meine ich das gar nicht. Ich glaube einfach, dass wir jedes Mal neu diskutieren müssten, dass diejenigen, die das Design Thinking Programm veranstalten, auch eine entsprechende Macht haben. Diese Macht kann man auch hinterfragen und sie nutzen, um unterrepräsentierten Gruppen vielleicht mehr Aufmerksamkeit zu geben.
Worauf würdest du gerne mehr Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung lenken?
In der Behindertenbewegung gibt es gerade die Debatte, dass sich Menschen mit Behinderung bei Projekten und Produkten zum Thema Behinderung ausgeforscht, ausgenutzt und ausgebeutet fühlen. In dem gesamten Gewinnprozess ab der Markteinführung sind sie nie diejenigen, die von diesem Gewinn etwas abbekommen. Von Behinderten wird erwartet, dass sie ehrenamtlich ihr Wissen preisgeben, damit nicht behinderte Ingenieure einen treppensteigenden Rollstuhl bauen können, der ihnen dann die Karriere für die spätere Ingenieurslaufbahn bereitet. Aber viele behinderte Menschen sind immer noch arbeitslos und können selbst nicht studieren. Hier fördern sie die Karrieren der anderen. Man spricht von sogenannten Plods, also (non-disabled) People living of disableds, Menschen, die von Behinderten leben.
Ich danke dir sehr herzlich für deine Einblicke zum Studiengang Design Thinking am HPI und zum wichtigen Thema Inklusion. Ich wünsche dir alles Gute!