02/2022 - Jan Sändig
Erst das Studium der Politikwissenschaft in Potsdam (2004-2009), dann die Promotion in der Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Tübingen und anschließend Postdoc-Stellen in Tübingen und aktuell in Bayreuth. Dr. Jan Sändig forscht zu Protestbewegungen, Widerstand und politischer Gewalt in Afrika. Als Alumnus des Monats gibt er uns einen Einblick in seine spannenden Forschungsreisen durch Krisengebiete und berichtet von seinem Weg in der Wissenschaft.
Lieber Herr Sändig, gibt es eine Schlüsselerinnerung zu Ihren Forschungsreisen, an die Sie immer wieder denken?
Unter den zahlreichen besonderen Momenten ist mir vor allem meine Ankunft in Yola in Erinnerung geblieben. Reverend Cosmas begrüßte mich mit den ebenso herzlichen wie sarkastischen Worten: „Everybody is leaving this war zone, but you’re coming – welcome!” Sonderlich wohl war mir bei der Reise im November 2014 nicht. Denn Yola im Nordosten Nigerias war damals die letzte Großstadt vor dem Territorium, das Boko Haram kontrollierte. Fast täglich griffen Boko-Haram-Kämpfer wehrlose Dörfer an. Dementsprechend gespenstisch waren die Berichte meiner Gesprächspartner*innen, darunter viele Geflüchtete.
Das war fünf Jahre nach Abschluss Ihres Studiums. Haben Sie sich durch Ihr Studium an der Universität Potsdam auf Forschungsreisen in ein Krisengebiet gut vorbereitet gefühlt?
Ja, und mehr als das. Das Studium der Politikwissenschaft in Potsdam (2004-2009) hat stark dazu beigetragen, dass mich Grundfragen der Friedens- und Konfliktforschung so sehr interessieren: Wie entstehen Widerstand und politische Gewalt? Wie wird jenseits des Staates regiert? Wie können dort Entwicklung gelingen und Menschenrechte geschützt werden? Ausgehend von politischen Ereignissen jener Zeit – darunter der 11. September 2001 und der „War on Terror“ – habe ich im Potsdamer Studium Antworten auf diese Fragen gesucht – und gefunden. So haben Dr. Moncef Kartas und Prof. Markus Lederer eindrucksvoll vermittelt, welche Ursachen politische Gewaltkonflikte haben und wie Peace-Building gelingt oder scheitert. Die vielen möglichen Antworten auf die vermeintlich einfache Frage, warum manche Länder wirtschaftlich schwach und andere „entwickelt“ sind, hat Prof. Harald Fuhr gegeben. Prof. Hansjörg Elshorst und Prof. Andreas Mehler haben das komplexe Wechselspiel von Korruption und Klientelismus mit Staatlichkeit und Entwicklung verständlich gemacht. Und nicht zu vergessen sind die hilfreichen Sprachkurse und Seminare zur sozialwissenschaftlichen Datenerhebung und -auswertung. Kurzum, das Studium hat mir gezeigt, dass es auf jene Fragen keine leichten Antworten gibt, es sich aber lohnt, das Geflecht von Einflussfaktoren aufzudröseln, verschiedene Perspektiven einzunehmen und Forschungsmethodik kritisch zu reflektieren.
Wie sah die praktische Erfahrung während Ihres Studiums aus?
Zur Praxiserfahrung und meinem regionalen Fokus auf Afrika kam ich zunächst indirekt über ein Erasmus-Jahr an der Universität Paris X-Nanterre (2006-07). Vor allem Westafrika ist in der französischen Öffentlichkeit sehr präsent. Und so flog ich von Paris spontan in den Senegal und machte anschließend ein Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako. Mali – damals noch eine junge Demokratie mit lebendiger Zivilgesellschaft fernab islamistischer Bewegungen – begegnete mir einerseits doch wunderbar friedlich und freundlich, andererseits aber als schlichtweg unwirklich: kaum staatliche Infrastruktur, extreme Armut, ethnische Spaltungen und die besondere Geografie von Sahel und Sahara. Damit veranschaulichte es zahlreiche Aspekte aus den Potsdamer Seminaren zu Entwicklung und Politik jenseits westlicher Staatlichkeit. In weiteren Praktika beim GIGA in Hamburg, dem BMZ in Bonn und dem GIZ-Büro bei der Afrikanischen Union in Addis Abeba konnte ich solche Praxiseinblicke und meinen Afrikaschwerpunkt vertiefen.
Und wie genau gelang Ihnen der Übergang vom Studium in die Wissenschaft?
Mit der Diplomarbeit im Herbst 2009 ging das Studium schlichtweg zu schnell vorbei. Wenngleich Forschung mühselig ist, war ich (und bin es bis heute) begeistert von Analysen, die komplexes soziales Zusammenleben verständlich machen. Zudem gehören Universitäten und das studentische Umfeld zu den angenehmsten und interessantesten Orten überhaupt. Daher war klar, dass ich in die Wissenschaft möchte. Im Mai 2010 klappte es klassisch per Bewerbung mit einer Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Tübingen. Am Lehrstuhl für Friedensforschung und Internationale Politik bei Prof. Andreas Hasenclever durfte ich umgehend mein erstes Seminar zu Terrorismus unterrichten. Es ist beeindruckend, wie schnell man im deutschen Universitätssystem vom Studenten zum Dozenten werden kann. Daneben hatte ich direkt verantwortungsvolle Aufgaben in der Antragstellung für zwei Forschungsprojekte. So wechselte ich Mitte 2011 an den Tübinger Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ (SFB 923), der interdisziplinär untersucht, wie Menschen und ihre sozialen Ordnungen auf Bedrohungen reagieren. Noch im selben Jahr ging es erstmals auf Feldforschung nach Liberia und Nigeria. Nigeria wurde Gegenstand meiner Doktorarbeit, die erörtert, warum Protestierende zu Waffen greifen. Dafür habe ich jene Interviews in Yola im November 2014 geführt, aber auch mit mittlerweile inhaftierten Anführern der gewaltfreien Biafra-Bewegung gesprochen.
Sie waren in direktem Kontakt mit den Menschen vor Ort, das ist sehr beeindruckend. Wie ging es nach Ihrer Doktorarbeit für Sie weiter?
Mittlerweile forsche ich vor allem zum Widerstand gegen die zahlreichen neuen Plantagen und Minen in Afrika. Als Postdoktorand ging es dabei am SFB 923 in Tübingen (2015-2020) zunächst um Aktivismus gegen Landnahmen – sogenanntes „Land Grabbing“ – durch internationale Agrarkonzerne in Kamerun und im Senegal. Seit Juli 2020 bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-Projekt INFRAGLOB, geleitet von Prof. Jana Hönke, an der Universität Bayreuth. Hier untersuche ich den Widerstand lokaler Gemeinden, die in Guinea und der Demokratischen Republik Kongo mit westlichen und chinesischen Bergbaukonzernen konfrontiert sind. Dabei begegnen mir abermals Aspekte aus dem Potsdamer Studium. Um z.B. die kürzlichen Militärputsche in Westafrika, darunter in Guinea, einordnen zu können, halfen mir Kenntnisse aus dem Seminar von Prof. Raimund Krämer zum spannungsreichen Verhältnis von Militär und Politik in Lateinamerika. Abseits von Fachfragen bleibe ich der Universität, da ich mittlerweile wieder in Potsdam wohne, aber auch über das erfreuliche Angebot der Sport- und Sprachkurse verbunden.
Das freut uns sehr zu hören. Wir danken Ihnen für diese spannenden Einblicke. Und wir wünschen Ihnen für Ihren weiteren Weg alles Gute!