03/17 - Alina Treiger
Alina Treiger ist die erste Rabbinerin, die nach dem Holocaust in Deutschland ordiniert wurde. Nachdem sie in ihrer ukrainischen Heimatstadt Poltawa eine liberale jüdische Gemeinde gegründet hatte, kam sie nach Potsdam, um am Abraham Geiger Kolleg und an der Universität Potsdam zu studieren. Seit 2010 betreut sie die niedersächsischen Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst. Hier investiert sie insbesondere in die Jugendarbeit und in den interreligiösen Dialog.
Ihr klarer, lieblicher Gesang erfüllt die ganze Synagoge. Alina Treiger steht am Gebetstisch und liest aus der Thora, der Heiligen Schrift der Juden. Über ihren Schultern liegt der weiße Gebetsschal. Alina Treiger ist Rabbinerin. Im November 2010 wurde sie als erste Frau nach dem Holocaust in Deutschland ordiniert. Damit gibt sie dem deutschen Reformjudentum ein weibliches Vorbild. Wie wichtig ihre Stimme für jüdische Gemeinden weltweit ist, ist ihr am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam bewusst geworden.
Bereits in ihrer Heimatstadt Poltawa spielte das jüdische Gemeindeleben eine zentrale Rolle für die Ukrainerin. „Als Jugendliche war ich sehr aktiv in der Jugendbewegung und leitete auch eine Gruppe“, erinnert sich die heute 37-Jährige. Am Moskauer Institute of Progressive Judaism ließ sie sich zur Gemeindearbeiterin ausbilden und gründete nach ihrer Rückkehr die liberale Gemeinde „Beit Am“ in Poltawa. Von diesen Erfahrungen profitiert sie nun in Oldenburg, wo sie nach ihrer Ordination ihre erste Stelle angetreten hatte: „Ich weiß, wie man in einer kleinen Gemeinde die Menschen aktiviert und zusammenbringt. Dabei lege ich viel Wert auf eine aktive Jugendarbeit, denn die Jugend sichert die Zukunft der Gemeinde.“
Ein eigenes Lied für den "Jewrovision"
In Oldenburg etablierte die Rabbinerin eine Sonntagsschule für Kinder sowie für Jugendliche. Zusätzlich lädt sie den Nachwuchs zum Bar- und Bat-Mitzwa-Unterricht ein. „Teamarbeit bedeutet viel. Ich möchte den Kindern zeigen, dass Vieles in ihren eigenen Händen liegt, und dass sie die Selbstinitiative ergreifen sollen“, erklärt Alina Treiger. Dies gelingt in Oldenburg unter anderem mit dem Projekt „Jewrovision“, bei dem die Jugendlichen für einen Gesangswettbewerb jüdischer Gemeinden proben und selbst ein Lied schreiben. „Die ganze Gemeinde ist in den Wettbewerb involviert und fiebert mit“, freut sich die Oldenburgerin.
Doch die Rabbinerin bringt nicht nur Kindern das Judentum näher. Vor dem Freitagsgottesdienst studiert sie mit Gemeindemitgliedern biblische Texte. Auch das Vorbeten auf Hebräisch und andere rituelle Abläufe des Gottesdienstes unterrichtet sie. „Oldenburg ist eine aktive Gemeinde, in der die Mitglieder vorbeten und der Rabbiner sich zurücksetzen kann“, freut sich Treiger. „Die Menschen kommen gern zum Lernen.“
Als Rabbinerpaar in Oldenburg
Bis zum Januar 2017 gestaltete sie den Unterricht gemeinsam mit ihrem Ehemann Rabbiner Tobias Jona Simon. Ihre Konstellation war gleich zweifach einmalig: Oldenburg hatte als einzige Gemeinde in Deutschland zwei gleichberechtigte Rabbiner. Zudem sind sie das einzige Rabbinerpaar, bei dem beide Partner Gemeinden betreuen.
„Die Trennung von Familie und Beruf mussten wir erst einmal lernen“, erinnert sich die 37-Jährige schmunzelnd zurück und erzählt von den rabbinischen Diskussionen, die sie auch Zuhause führen können. Sie seien einander gute Ratgeber, gerade weil jeder verschiedene Erfahrungen in seinen Projekten mache. Tobias Jona Simon ist für fünf weitere Gemeinden in Niedersachsen zuständig und hat einen Lehrauftrag am Abraham Geiger Kolleg. Dort haben sich die beiden kennen gelernt. Treiger war von der World Union for Progressive Judaism eingeladen worden, sich am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg und der Universität Potsdam rabbinisch ausbilden zu lassen.
Gottesdienst auf Deutsch und Russisch
„Ich wusste, dass ich ein Experiment war“, lacht die 37-Jährige, denn ohne das lateinische Alphabet zu beherrschen, verließ sie ihre Heimatstadt Poltawa. Während sie Deutsch lernte, besuchte sie erste rabbinische Unterrichte und absolvierte ein Gemeindepraktikum. Mit dem Bestehen der Sprachprüfung wurde sie Rabbinatsstudentin – doch sie zweifelte, da sie die einzige Frau in ihrem Studiengang war. „Ich musste Selbstbewusstsein entwickeln, denn ich bin kein Mensch, der im Vordergrund steht. Ich bekomme Anerkennung durch Leistung“, reflektiert Alina Treiger. Heute weiß sie, dass ihre Persönlichkeit sehr gut zum Rabbinerberuf passt.
Ihr Einfühlungsvermögen ist ein Gewinn für die Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst. Durch ihre Migrationsgeschichte versteht sie viele Juden, welche aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, besser. Den Gottesdienst in Delmenhorst leitet sie zweisprachig: Auf Deutsch und Russisch. Dass Vielfalt seinen Platz findet, ist ihr und ihrer Gemeinde wichtig. Das zeigt sich ebenso in den vielen Projekten zum interreligiösen Dialog in Oldenburg. „Wir laden zu Channuka und Feiertagen in die Synagoge ein und machen das jüdische Leben in der Stadt bekannt“, sagt sie und berichtet von Vorträgen zum Diaspora im Leo-Trepp-Haus, einem öffentlichen Lehrhaus der Gemeinde und der Universität Oldenburg. „Die rabbinische Aufgabe ist es, zu lehren und aufzuklären“, und das nimmt Alina Treiger sehr ernst.
Text: Katharina Golze I Alumni-Team
Veröffentlicht: März 2017