Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Schermeisel (Trzemeszno Lubuskie)
Die Juden lebten nicht nur in den Königsstädten, wie Meseritz und Schwerin/Warthe, wo sie am Ende des 18. Jh. ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, sondern auch auf dem Lande. Eine der größten dörflichen jüdischen Gemeinden war die Gemeinde zu Schermeisel, zu der auch Juden aus dem nahe gelegenen Grochow, und später auch aus Gleißen und Königswalde gehörten.
Schermeisel war ein privates Dorf. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. gehörte es den zwei Herren von Kalckreuth und Frau Sophie Seidlitz. Ihnen waren auch die örtlichen Juden untertan. Sie mussten verschiedene Abgaben entrichten, u.a. Schutzgeld, und wurden deswegen geduldet. Sie konnten also ein einigermaßen normales Leben führen. Die Grundherren von Schermeisel stimmten auch – gegen eine entsprechende Gebühr – der Einrichtung eines Friedhofs und dem Bau einer Synagoge zu. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. war das ein Holzbau, der in dem Teil des Dorfes lag, der zu Sophie Seidlitz gehörte. Man kann annehmen, dass etwa 30 – 40% der Gesamtbevölkerung von Schermeisel, das am Ende des 18. Jh. etwa 700 – 800 Einwohner zählte, die Juden waren, und dass die jüdischen Steuern und Abgaben einen festen und wesentlichen Teil der Einkünfte der Grundherren ausmachten.
Die Schermeisler Juden betrieben hauptsächlich Handel, was die Nähe der Grenze und die Tatsache, dass das Dorf auf dem alten Handelsweg von Frankfurt (Oder) nach Posen lag, begünstigte. Es war ein Hauptweg, der über Reppen, Drossen, Zielenzig und Meseritz führte. Er wurde u.a. von der Berlin – Warschauer Pferdepost und von Großhändlern benutzt. Um sich die Strecke von Frankfurt (Oder) nach Meseritz zu verkürzen, nahmen die Schermeisler Juden einen anderen Weg, die so genannte „Polackenstraße“. Südlich von Schermeisel gelegen führte diese über Reppen, durch Wälder und einige Dörfer direkt nach Meseritz. Das erlaubte, die Konkurrenz zu überholen und nicht immer legale Geschäfte zu erledigen. So war zumindest der Ruf der Juden aus Schermeisel Ende des 18. und Anfang des 19. Jh.
Nach der zweiten Teilung Polens und dem Übergang unter die preußische Herrschaft wurden die „jüdischen Einkünfte“ der Grundherren von Schermeisel ernsthaft gefährdet. Das königliche Edikt befahl nämlich allen Juden von dem Lande in die Städte zu ziehen. Die Juden aus Schermeisel und auch aus Grunzig (Goruńsko) zogen allmählich nach Blesen (Bledzew) um. Trotz des Widerstands des Blesener Abtes und des Widerwillens der Bürger siedelten sich 12 jüdische Familien aus Schermeisel und 9 Familien aus Grunzig in Blesen an und bildeten dort eine unabhängige Gemeinde. Um das Ausziehen der Juden aus Schermeisel zu stoppen und gleichzeitig dem königlichen Edikt folge zu leisten, wurden dem Dorf auf Ersuchen des damaligen Grundherrn von Schermeisel, von Kalckreuth, die Stadtrechte verliehen. Das geschah mit dem königlichen Edikt vom 31. Januar 1805. Wegen der Juden wurde also Schermeisel zur Stadt erhoben. Paradoxerweise wurde es auch wegen der Juden 1870 wieder zum Dorf, als sie ihre neuen Bürgerrechte nutzten und sich zum Verlassen der verarmten Kleinstadt entschieden.
In den 20er und 30er Jahren des 19. Jh. lebten 300 Juden in Schermeisel, was etwa 40% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Zur Schermeisler Gemeinde gehörten auch Juden, die in Grochow (Grochów), Gleißen (Glisno) und Königswalde (Lubniewice) lebten. Die zahlreiche Gemeinschaft brauchte eine neue Synagoge, weil die alte, die noch in den polnischen Zeiten aus Holz gebaut war, zu wenig Platz bot und langsam baufällig wurde. Da der Standort der alten Synagoge zu klein war, um dort einen entsprechenden Neubau zu errichten, wurde den Juden ein neuer Platz veräußert, der dem altem gegenüber lag. Die Bauarbeiten wurden letztlich 1823 vollendet, was das Datum am Pfosten der Tür des Haupteingangs bestätigte.
Die Synagoge war ein rechteckiges, aus Feldsteinen gebautes Gebäude mit verputzten Ecken und spitzbogigen Fenstern. Die Giebelseiten unterhalb des Krüppelwalms hatten aufgeputzte Rundbögen und Halbkreisfenster mit Sprossenteilung. Das Gebäude wurde 1881 gründlich renoviert und blieb fast unverändert bis in die 90er Jahre des 20. Jh. erhalten. Niemand weiß, was mit der Innenausstattung des Gotteshauses passierte. Anfang der 30er Jahre des 19. Jh. wurde neben der Synagoge eine jüdische Schule gebaut. In dieser Zeit benutzte die Gemeinde ein Siegel mit einer Darstellung der Göttin Temida und mit der Bandinschrift auf Hebräisch und auf Deutsch „Juden Gemeinde zu Schermeisel”.
In den Jahren 1815, 1833, 1847 und 1869 bekamen Juden in Preußen allmählich die Rechte, die zu ihrer vollen Verbürgerlichung führten. Dank dieser Rechte durften die Juden – ähnlich wie die Christen – sich dann frei bewegen, Unternehmen führen und alle staatlichen Ämter bekleiden. Viele begannen daraufhin, kleine und arme Ortschaften im Osten Deutschlands zu verlassen und zogen in die großen Städte, hauptsächlich nach Berlin. In Schermeisel geschah es ähnlich. 1855 lebten in der Stadt 657 Protestanten, 13 Katholiken und 177 Juden. Dann begann die Zahl der Juden stark zu sinken. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde dadurch verlangsamt und daraufhin verlor Schermeisel die Stadtrechte.
Nach 1870 wurde Schermeisel wieder ein Dorf. Im Jahre 1881 war Salomon Gutermann, der aus einer der wichtigsten jüdischen Familien stammte, der Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Schermeisel. Sein Stellvertreter hieß Moses Heymann, und zum Vorstand gehörten Wolf Gutermann, Paul Hirsch, David Gutermann, Moritz Neumann und Isidor Gutermann. 1910 lebten in Schermeisel nur noch 24 Juden. Das bedeutete aber nicht, dass ihre Rolle unwichtig war. Sie kauften 1911 ein ehemaliges Grundherrengut mit dem dazu gehörigen Schloss und richteten in diesem ein Erholungsheim ein. Sie besaßen Unternehmen und Geschäfte. Das größte gehörte Max Gutermann, der 1930 starb. Er wurde als einer der letzten auf dem jüdischen Friedhof in Schermeisel bestattet.
Ein Jahr vor der Machtergreifung von Adolf Hitler (1932) lebten 27 Juden unter 1.000 Einwohnern in Schermeisel. Eine unbekannte Zahl von Juden trat zum evangelischen Glauben über. Das verschonte sie aber später nicht vor Verfolgungen. Julius Gutermann war in dieser Zeit Vorsitzender der Gemeinde. Sein Stellvertreter hieß Paul Paul. Noch waren die Synagoge, der Friedhof und die rituelle Schlächterei, die sich in der Hauptstraße (heute Poznańska Straße) neben der Synagoge befand, in Funktion.
Zusammen mit der Machtergreifung durch Nazis (1933) begann das Ende der jahrhundertealten jüdischen Gemeinde. Wie überall in Deutschland wurden die Juden bezichtigt, die Ursache von jedem Übel zu sein. Der populäre Nazispruch „Die Juden sind unser Unglück” gewann auch in Schermeisel ziemlich viele Anhänger. Die Atmosphäre jener Jahre geben die Erinnerungen des Doktors Joachim Schmidt wieder, der als Kind in Schermeisel wohnte. In einem Artikel im Meseritzer Heimatgruß (Nr. 184, März 2008) schrieb er:
"Eines Tages, es musste etwa 1936 oder 1937 gewesen sein, wurde ein Junge, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die im Haus neben der Gastwirtschaft wohnte, von seinen gleichaltrigen Mitschülern am Tor des Schulhofes festgehalten und fürchterlich verdroschen. Wir jüngeren standen drumrum und schauten zu – übrigens auch der Hauptlehrer, ein Pogrom der Kleinen? Später hörte ich, dass es dieser Familie noch gelungen war, in die USA zu emigrieren.
Eine zweite Erinnerung geht an den Tag nach der „Reichskristallnacht” im November 1938 zurück. Ich fuhr morgens mit dem Fahrrad wie üblich zum Bahnhof, um mit dem Zug um 6.30 nach Meseritz ins Gymnasium zu kommen. An der Synagoge im Dorf befand sich ein kleiner Auflauf von dunklen Gestalten – war auch die Feuerwehr dabei? Es roch nach Qualm. Am Abend hieß es, es wäre ein Schwelbrand gewesen. Auf jeden Fall war es das Ende der Synagoge in Schermeisel, eines jüdischen Gotteshauses, das fortan nur noch als Lagerraum genutzt wurde."
Diejenigen, denen eine Ausreise gelang, retteten ihr Leben. Die übrigen wurden wahrscheinlich getötet. Kennzeichnend ist das Schicksal der Familie Gutermann. Betty, geb. am 8. Dezember 1882, wurde am 13. Juni 1942 ins Vernichtungslager in Sobibor deportiert. Meta, geb. am 22. August 1887, wurde am 29. November 1942 nach Auschwitz verschleppt. Selma, geb. am 6. Februar 1877, wurde am 5. Mai 1942 in Kulmhof an der Nehr ermordet, und Wolfgang, geb. am 27. April 1910, wurde im Dezember 1941 ins Ghetto nach Riga deportiert.
Im Oktober 1942 wohnte in Schermeisel nur noch ein Jude, der wahrscheinlich durch die Heirat mit einer Nichtjüdin geschützt war. Sein späteres Schicksal ist unbekannt. So hörte die jüdische Gemeinschaft in Schermeisel, die stark die Geschichte des Ortes geprägt und eine wichtige Rolle gespielt hatte, auf zu existieren.
Nach 1945 erinnerten nur die materiellen Spuren an die frühere Existenz der Juden in Schermeisel. Das Synagogengebäude, das in der heutigen Poznańska Straße Nr. 50 stand, wurde lange als Geschäft und dörflicher Gemeinschaftsraum benutzt. Nach einem Brand in der zweiten Hälfte der 90er Jahre hatte man es abgerissen. Bis heute blieb nur der an der Straße nach Zielenzig liegende Friedhof erhalten.
Am 29. Mai 2010 wurde auf Anregung vom Pastor Hans Dieter Winkler, dem Vorsitzenden des Heimatkreises Oststernberg e.V., und dem Bürgermeister von Zielenzig, Herrn Michał Deptuch, feierlich ein Stein zum Gedenken der Juden aus Schermeisel und Grochow enthüllt, der auf der Stelle der Synagoge steht. Die Inschrift wurde in drei Sprachen verfasst. Oben befindet sich ein hebräisches Wort Izkor (erinnere dich), darunter ein Text auf Polnisch und auf Deutsch: „Zum Gedenken an die jüdischen Bürger von Schermeisel und Grochow – den Opfern des Faschismus. Ehemalige und heutige Bürger.“
An der Feier, die mit einer ökumenischen Messe begann, nahmen Polen – heutige Bewohner und Deutsche – ehemalige Bewohner von Schermeisel und Grochow, sowie die Vertreter der jüdischen Gemeinde aus Sorau, teil.
Andrzej Kirmiel
Quellen, Literatur und Internet
Archiv Centrum Judaicum in Berlin, CJA 1,75 A, Sche 1, Nr. 4, #7002.
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, GStA PK, Rep. 77 (M) Abt. I Sekt. 34 Tit. 1021, Nr. 1.
Kemlein, S.: Żydzi w Wielkim Księstwie Poznańskim 1815-1848, Poznań 2001.
Kubach, H. E.: Die Kunstdenkmäler des Kreises Osternberg, Dillingen 1960.
Schmidt, J.: Königliches Gymnasium Meseritz. Erinnerungssplitter meiner Kindheit, in: Heimatgruß (Nr. 184), März 2008, S. 22.
The Encyclopedia of Jewish Life Before & During Holocaust, ed. Elie Wiesel, Shmuel Spector, Geoffrey Wigider, Jerusalem 2001.
Verworner, G. (Hrsg.): Unvergessene Heimat Kreis Oststernberg/Neumark, Berlin/Bonn 2003.
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (Hrsg.): Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-33, Berlin 1932.
Zwei ehemalige märkische „Judenstädte“, in: Frankfurter Oderzeitung, 24. Juni 1943.
Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945), 3. elektronische Auflage, 2007, URL: www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/