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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Betsche (Pszczew)

Synagoge von Pszczew mit Siegel der Jüdischen Gemeinde
Photo: Anke Geißler-Grünberg
Synagoge von Pszczew mit dem Siegel der Jüdischen Gemeinde Betsche
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Photo: OLF1.1. FrankRuhlLibre

Das Datum der Ansiedlung von Juden in Betsche (Pszczew) ist nicht bekannt. Die Stadt gehörte den Bischöfen von Poznań, die Juden nicht gestatteten, sich auf ihrem Besitz niederzulassen. Die Mehrheit der über die Region schreibenden Historiker geht davon aus, dass sich Juden erst nach der Übernahme der Stadt durch Preußen im Jahre 1793 in Betsche niederließen. Heppner und Herzberg jedoch, die Autoren eines monumentalen Werkes über die großpolnischen Juden, meinen, dass Juden schon früher, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Betsche gelebt haben. Auch The Encyclopedia of Jewish Life gibt an, dass Juden Mitte des 18. Jahrhunderts in der Stadt lebten.

Erhaltene glaubwürdige schriftliche Quellen widersprechen dieser Information jedoch. Die Volkszählung der jüdischen Bevölkerung der Woiwodschaft Poznań aus dem Jahr 1765, die die jüdische Kopfsteuer festlegen sollte, erwähnt Betsche nicht als eine von Juden bewohnte Ortschaft. Auch die preußische Volkszählung (Indaganda – Preußischer Fragebogen mit 82 Fragen zu religiösen, demographischen, vermögensrechtlichen Verhältnissen usw., gerichtet an Orte, die im Zuge der zweiten Teilung Polens besetzt wurden.) von 1793 erwähnt keine Juden in Betsche. Das würde bedeuten, dass Juden erst nach der zweiten Teilung Polens und der Aufhebung des mittelalterlichen Verbots der Ansiedlung von Juden in kirchlichen Städten in der Stadt erschienen.

Die erste gesicherte Information über Juden in Betsche stammt aus dem Jahr 1802. In diesem Jahr wurde in Betsche die spätere Frau des Lewin Pinner, Rabbiner aus Birnbaum (Międzychód) und Bomst (Babimost), Wilhelmina, geboren. Im Jahre 1808 lebten in Betsche 98 Juden, was zehn bis zwölf Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. All dies deutet darauf hin, dass die Entstehung der jüdischen Gemeinde in Betsche an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert stattgefunden haben könnte. Zu dieser Zeit müssen auch der Friedhof und die erste Synagoge Betsches entstanden sein. Ihr Vorhandensein seit mindestens 1819 wird durch ein 2006 gefundenes Siegel bestätigt. Die Inschrift auf seiner Umrandung besagt, dass eine voll ausgebildete Synagogengemeinde in Betsche funktioniert.

Die erhaltenen Informationen die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts betreffend, konzentrieren sich hauptsächlich auf den kriminellen Aspekt der Tätigkeit der Betscher Juden. Bis in die 1840er Jahre agierte in der Gegend eine weit verzweigte Diebes-, Betrüger- und Hehlerbande, der auch Christen angehörten. Nach Heppner und Herzberg lebte ein Viertel der Einwohner von Betsche von Diebstahl und Hehlerei. An diesen Vorgängen waren alle Stände und Klassen von Betsche beteiligt, wobei sich die Gemeinderepräsentanten und Stadträte als die schlimmsten Schurken erwiesen. Die in der Stadt ansässigen Werkstätten versorgten die Diebe mit allen benötigten Tatwerkzeugen, es war auch kein Problem, einen falschen Zeugen zu "besorgen". Obwohl die kriminellen Banden einen Jargon mit Ausdrücken aus dem Hebräischen und eine Mischung aus Deutsch und Jiddisch verwendeten, kann man nicht alleine von jüdischen Kriminellen sprechen. 1832 ließ die Polizei den Diebes- und Hehlerring hochgehen. Bei Ermittlungen zu mehreren Einbrüchen in Berlin führten die Spuren nach Betsche. Mit Hilfe von Einwohnern von Meseritz (Międzyrzecz) gelang es, das "Diebesnest" ausfindig zu machen und die Schuldigen, Amtsleute an der Spitze, festzunehmen. Auf diese Weise wurde die Stadt von kriminellen Missständen gereinigt.

In der Provinz Posen war nicht nur Betsche als Diebesnest berüchtigt, auch das an der Strecke von Betsche nach Berlin gelegene Schermeisel (Trzemeszno Lubuskie) war verrufen. Schermeisel war eine wichtige Drehscheibe der diebischen Vorgänge. Es gab einen umgangssprachlichen Ausdruck: "Er kommt aus Schermeisel“, der nahelegte, dass die angezeigte Person per Definition verdächtig wäre. Nach der Aktion im Jahr 1832 wurden auch in Brätz (Brójce), Bentschen (Zbąszyń), Blesen (Bledzew), Tirschtiegel (Trzciel), Wollstein (Wolsztyn), Schwerin an der Warthe (Skwierzyna), Unruhstadt (Kargowa) und anderen Orten erfolgreich Diebesbanden ausgehoben. Der Berliner Polizist A. F. Thiele beschrieb diese Diebesaktivitäten in seinem Buch Die jüdischen Gauner in Deutschland und deckte das kriminelle Leben der Juden aus dem westlichen Großpolen auf. Die Vorgänge wurden in der antisemitischen Propaganda verwandt, unter anderem nutzte sie Joachim Duckart, Mitarbeiter des Propagandaministers des Dritten Reichs, Goebbels, in seiner 1939 in Meseritz unter dem Titel Die Juden von Betsche erschienenen Publikation.

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Sehr interessant und im kriminellen Sinne wenig bekannt, aber unmittelbar mit Betsche verbunden, ist die Biographie von Abraham Isaak Leslauer alias Greenthal, einem Juden aus Betsche, der im 19. Jahrhundert zum König der New Yorker Taschendiebe ausgerufen wurde. In einer ihm gewidmeten Monographie bezeichnet Edward Luft, ein bekannter Forscher zur Geschichte der großpolnischen Juden, ihn als "den größten Taschendieb des 19. Jahrhunderts der Vereinigten Staaten und vielleicht sogar der Welt zu dieser Zeit". Abraham wurde am 9. Januar 1822 in Betsche geboren. Sein Vater war Itzig Hirsch Leslauer, geboren in Włocławek, damals noch Leslau (durch die preußische Verwaltung zu Beginn des 19. Jh. vorgenommene Ableitung des Nachnamens vom Herkunftsort) genannt. Seine Mutter, Lea Dawid, stammte aus Betsche. Abrahams Eltern wurden am 20. August 1817 von einem Rabbiner aus Meseritz, Michael Lewi Golde, getraut. Itzig Hirsch Leslauer und sein zweiter Sohn Herman, später bekannt als Harris, kamen oft mit dem Gesetz in Konflikt, so dass es keinen Zweifel gibt, dass Abraham aus einer Familie von Kriminellen stammte. Er selbst wurde schon in jungen Jahren mehrfach verhaftet und nach wenigen Tagen Haft wieder entlassen. Seine Haftbefehle aus Posen und Jastrow (Jastrowie) sind erhalten geblieben. Der Haftbefehl aus Posen zeigt, dass er damals 15 Jahre alt war, von kleiner Statur und Spuren von Pocken im Gesicht. Weniger als ein Jahr nach dem Haftbefehl aus Posen wurde ein weiterer Haftbefehl erlassen – wegen Diebstahls auf dem Markt in Tirschtiegel. Abraham kam nicht ins Gefängnis, weil er an Krätze litt, und bis zu seiner Heilung wurde er unter polizeiliche Überwachung gestellt, der er sich willkürlich entzog. Regierungsbehörden verfolgten Abraham wiederholt. Wegen verschiedener Vergehen verbüßte er eine Strafe in Rawitsch (Rawicz) bis zum 26. Juni 1844. 1847 wurde er erneut zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er einem Aristokraten eine wertvolle Uhr gestohlen hatte. Seit diesem Ereignis wurde er in kriminellen Kreisen "General" genannt.

Nach dem Bau der Eisenbahnen "wechselte" Abraham zum Diebstahl in Zügen. Das brachte ihm größere Gewinne als das vorherige Stehlen auf Messen und Märkten. Eine Zeitlang bildete er zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder Herman eine in Frankfurt am Main operierende Bande. Für Straffreiheit sorgte ihre Zusammenarbeit mit den örtlichen Gesetzeshütern, denen sie 25 % ihrer Diebeseinnahmen abgaben. Nach einem weiteren Fehltritt zogen sie nach Breslau (Wrocław), wo Abraham 1850 Hannah Dawid heiratete. Im selben Jahr wurde er erneut verurteilt. Seine Frau, die ihn auf dem Weg ins Gefängnis begleiten durfte, bestach geschickt einen Wächter mit Alkohol, der sich, nun schon unter seinem Einfluss, überreden ließ, dem Gefangenen die Fesseln abzunehmen. Abraham, der hinter der Wache ging, nutzte die Situation und floh in den Wald, schaffte es dann sicher nach Berlin und von dort nach Hamburg. Hier beschloss er, Deutschland und dann Europa endgültig zu verlassen. Er segelte nach Liverpool, wo er einige Zeit damit verbrachte, in Geschäften, Zügen und auf Märkten zu stehlen. In England wurde er nie verhaftet. Er "sparte" genug, dass seine Frau sich ihm anschließen konnte. Nach ihrer Ankunft in Liverpool segelten sie nach New York, was sie am 12. Mai 1851 erreichten. In den Vereinigten Staaten änderte Abraham seinen Namen auf Greenthal, und unter diesem Namen ging er in die amerikanische Kriminalgeschichte ein. Auf seinen Nachnamen hat er nie groß geachtet. Er benutzte viele Varianten und Modulationen, wohingegen er immer seinen Vornamen behielt, was seine jüdische Identität unterstrich.

In Amerika verfeinerte er seine Fähigkeiten. Er schuf eine Organisation, deren Struktur an die Mafia erinnert, viele Jahre bevor diese in der uns bekannten Form auftrat. Wie ein Mafiaboss leitete er sie und erwartete von seinen Untergebenen Respekt und Loyalität, selbst während Gefängnisaufenthalten. Seine Erfolge beruhten auf einer außergewöhnlichen Intelligenz und seinem hervorragenden Verständnis der menschlichen Psyche. Nie wandte er Gewalt gegen seine Opfer an. Durch sein Auftreten und seine Großzügigkeit weckte er Vertrauen, das er rücksichtslos ausnutzte. Er zögerte nicht – wie in Deutschland – Gesetzeshüter zu bestechen, bezahlte die besten Anwälte, die ihn aus vielen Repressionen herausholten oder seine Strafen mildern konnten. In einem gewissen Sinne war er eine bekannte Persönlichkeit. Seine Aktionen wurden von den Zeitungen nicht nur in New York, sondern auch in anderen amerikanischen Städten eifrig verfolgt, und der berühmte amerikanische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Horatio Alger, widmete ihm einen seiner viel gelesenen Romane.
Der Chef der New Yorker Detektive und Autor eines monumentalen Werkes über Amerikas Berufsverbrecher, Thomas Byrnes, beschrieb ihn als den intelligentesten Gauner und Taschendieb. Eine polizeiliche Notiz von 1871 beschreibt ihn als mittelgroß, mit kleinen schwarzen Augen und rabenschwarzem Haar. Zu dieser Zeit wog er etwa 200 Pfund und hatte einen charakteristischen schwankenden Gang. Der in Betsche geborene König der New Yorker Taschendiebe starb am 17. November 1887 im Alter von 67 Jahren und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Brooklyn beigesetzt.

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Der demographische Höhepunkt der jüdischen Gemeinde in Betsche wurde im Jahr 1840 erreicht. Sie bestand damals aus 173 Personen, die hauptsächlich im Handel und Handwerk tätig waren. Im Jahre 1854 wurde die Synagoge in Betsche umgebaut bzw. wiederaufgebaut. Bei der Beschaffung von Mitteln für diesen Zweck unterstützten sie die Juden der umliegenden Gemeinden. Neben der Synagoge gab es im Ort eine Schule für Kinder (Cheder), ein rituelles Bad (Mikwe) und eine koschere Metzgerei. Entsprechend dem Gesetz von 1833 wurde die Gemeinde von einem Vorstand geleitet, der von den berechtigten Mitgliedern gewählt wurde. 1877 bestand er aus: Vorsitzender – Samuel Schlesinger (Glaser) und Markus Fleischer (Kaufmann), Hirsch Salomon Treitel (Kaufmann), Simon Pinkus (Kaufmann), Isidor Wolf Pinner (Schneider) und Louis Posner (Händler).

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Juden in Betsche, wie auch in anderen nahegelegenen Orten, systematisch ab und betrug Ende des 19. Jahrhunderts nur noch 58 Personen. Die Juden wanderten in die großen Städte aus, hauptsächlich nach Berlin. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Gemeinde schon keinen eigenen Rabbiner mehr. Bei wichtigen religiösen Zeremonien wurde er durch einen Geistlichen aus Schwerin an der Warthe ersetzt. Die täglichen Gebete in der Synagoge wurden von einem Kantor geleitet, außerdem gab es einen Schächter (Schochet) und einen Lehrer. Die erhaltenen Dokumente zeigen häufige Wechsel in diesen Positionen, was von der Instabilität und Schwäche der Gemeindet zeugt.

Im Jahr 1887 waren von dreizehn Familien nur zehn zahlungsfähig, und die damals gültige Satzung besagte ausdrücklich, dass diejenigen Familien und Mitglieder, die kein Geld hatten, ihre Verpflichtung gegenüber der Gemeinde abarbeiten sollten. In den erhaltenen Dokumenten aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren die Familiennamen Bernstein, Besser, Deutschkron, Fleischer, Gumpert, Heydenmann, Hillel-Lewitz, Koschke, Mellhaus, Pinkus, Pinner, Posner, Rychwalski, Schlesinger und Treitel.

Nach dem Ersten Weltkrieg und der Teilung des Kreises Meseritz durch die neue deutsch-polnische Grenze ging die jüdische Bevölkerung von Betsche noch mehr zurück. Viele Geschäftspartner befanden sich nun auf der polnischen Seite der Grenze, auch die Wirtschaftskrise 1929-1932 trug zum ohnehin schon erheblichen wirtschaftlichen Niedergang bei. Schon vor Hitlers Machtergreifung, 1932, hatte die Gemeinde nur noch 28 Mitglieder, von denen die Hälfte zu den beiden wichtigsten Familien gehörte, den Deutschkrons und den Treitels. Die erhaltenen Quellen erwähnen keine jüdisch-christlichen Konflikte vor 1933. Im Gegenteil, es wurden korrekte und sogar freundschaftliche Kontakte gepflegt. Ein gutes Beispiel hierfür sind die erwähnten Familien Deutschkron und Treitel und ihre engen Beziehungen zu dem bekannten Betscher Arzt Romanus Binder. Sie wurden auch während der Nazizeit, bis zum Tod des Arztes 1938, weiter gepflegt.

Infolge des Schrumpfens der jüdischen Bevölkerung begann das religiöse Leben in Betsche zu verklingen. Die letzte große Zeremonie, die in der Synagoge von Betsche stattfand, war im Jahr 1935. Es war die Bar Mitzwa von Leonhard Deutschkron. Bis 1938 wurden hier nur noch gelegentlich Versammlungen und Gottesdienste abgehalten. Auch der Vorstand und die Verwaltung der Gemeinde waren am Eingehen. Nach den letzten veröffentlichten Daten von 1933 waren Georg Deutschkron, Louis Treitel und Isaak Deutschkron Mitglieder des Gemeindevorstandes, drei jüdische Kinder besuchten die Schule.

Am 19. Mai 1938 begannen die Nazis mit der Liquidierung der jüdischen Gemeinde in Betsche. Der Vorwand war eine zu kleine Anzahl von Mitgliedern und permanente Probleme bei der Schaffung eines Gremiums, das nach den Anforderungen des neuen Rechts funktionieren würde. Das Dritte Reich übernahm das Eigentum der Gemeinde und die seit einiger Zeit bereits nicht mehr genutzte Synagoge. Sie wurde einem privaten Handwerker verkauft, der das Gebäude als Malerwerkstatt nutzte und für seine Bedürfnisse umbaute.

Im August 1938 begann das Dritte Reich, den deutschen Juden neue Ausweise, die sogenannten Kennkarten, auszustellen. Glücklicherweise sind im Archiv in Gorzów Wlkp. die obligatorischen Anträge der Juden aus Betsche auf einen neuen Personalausweis erhalten geblieben. Frauen waren verpflichtet, ihrem Vor- und Nachnamen den Vornamen Sara hinzuzufügen, Männer den Vornamen Israel. Auf dieser Grundlage wissen wir, dass noch vierzehn Menschen jüdischer Herkunft zur Jahreswende 1938/39 in Betsche lebten. Das waren Flora Bernstein, Hildegard Deutschkron, Lenchen Gumpert, Herthel Gumpert, Henriette Heydemann, Fanny Koschke, Alfred Rychwalski, Ruth Rychwalski, Jutta Rychwalski, Helga Rychwalski, Emma Rychwalski, Siegfried Schlesinger, Louis Treitel und Rosa Treitel. Laut The Encyclopedia of Jewish Life sollten sie im März 1940 von Betsche in das Lager Bürgergarten bei Schneidemühl (Piła) deportiert werden. Dies stimmt nicht mit den Berichten der Einwohner von Betsche überein, die besagen, dass die Juden erst 1942 aus der Stadt gebracht wurden. Dies korreliert mit den Angaben aus dem Gedenkbuch des Bundesarchivs in Berlin, wonach acht jüdische Einwohner von Betsche im August 1942 in das Durchgangslager Tilsit bei Königsberg/Ostpreußen transportiert und von dort in das Lager Theresienstadt in Nordböhmen deportiert wurden. Noch im selben Jahr starben dort Hertha Gumpert, Lenchen Gumpert, Henriette Heydemann, Fanny Koschke und Emma Rychwalski (sie wurde aus Berlin nach Theresienstadt gebracht). Am 6. Oktober 1944 wurden die überlebenden Mitglieder der Familie Rychwalski, Alfred, Ruth und Helga, nach Auschwitz gebracht. Ihr Schicksal ist unbekannt, höchstwahrscheinlich wurden sie ermordet. Die Informationen über das Schicksal der Juden aus Betsche sind nicht vollständig und bedürfen der Ergänzung.

Auch das Schicksal derjenigen, die aus Betsche weggingen, ist nicht vollständig bekannt. Einige von ihnen verließen Deutschland, einige überlebten den Krieg in Verstecken, einige starben oder wurden von den Nazis getötet. Heute zeugen von ihnen nur noch wenige Archivalien, die umgebaute Synagoge und ein Grabstein auf dem in den 1970er Jahren zerstörten Friedhof. Es gibt noch einige Grundstücke in der Stadt, die ihnen vor 1942 gehörten. Im Falle einiger jüdischer Familien könnte man versucht sein, ihre Wohnorte anzugeben. Dies betrifft vor allem die prominenten Familien Deutschkron und Treitel.

In der heutigen Poznańska Straße 1 befindet sich ein Haus, das früher Georg Deutschkron gehörte, der auch Besitzer eines Gemischtwarenladens auf dem Marktplatz war. Während des Ersten Weltkriegs wurde er durch Giftgas vergiftet, was seine Gesundheit ruinierte. Er war religiös aktiv und leitete das Gebet in der Synagoge. 1938 starb er und war der letzte Jude aus Betsche, der auf dem örtlichen jüdischen Friedhof begraben wurde. Sein einziger Sohn Leonhard überlebte den Krieg dank seiner Mutter Hildegard, die im November 1939 seine Ausreise nach Palästina organisierte. Sie selbst überlebte den Krieg nicht; sie starb in Auschwitz. Unter dem Einfluss der Nachrichten aus Europa änderte Leonhard nach seiner Ankunft in Palästina seinen deutsch klingenden Nachnamen Deutschkron in das hebräische Dwir. Nach dem Krieg besuchte er Pszczew zweimal – 1991 und 1995. Er starb 2010 in Israel. Sein Sohn Benjamin ist ein angesehener Professor für Chemie an der Universität Genf. Im Oktober 2015 besuchte er zusammen mit seiner Verwandten Inge Deutschkron Pszczew.

Das Haus der Vorfahren von Inge Deutschkron befindet sich in der heutigen Kościelna Straße 10. Das Oberhaupt dieses Familienzweiges war der Kaufmann Simon Deutschkron. Sein Sohn Martin war Doktor der Soziologie und ein bekannter Aktivist der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Nachdem Hitler an die Macht kam, wurde er verfolgt und musste nach England fliehen. Er versuchte, seine Frau Elle und seine Tochter Inge, die bereits in Berlin lebten, zu sich zu holen, doch der Kriegsausbruch machte diese Pläne zunichte. Bis 1942 arbeitete Inge in einer kleinen Bürstenfabrik, in der nur Juden arbeiteten. Der Besitzer war ein blinder Deutscher, Otto Weidt, der seine Arbeiter beschützte, so gut er konnte, und viele von ihnen vor dem Tod rettete (1971 wurde ihm in Israel der Titel Gerechter unter den Völkern verliehen). Nachdem sich die Repressionen verschärften, mussten Elle und Inge untertauchen. Deutsche Antifaschisten halfen ihnen dabei. Auf diese Weise überlebten sie bis zum Ende des Krieges und fuhren gleich darauf nach England, wo Martin auf sie wartete.

Um nachzuholen, was sie während des Krieges versäumt hatte, nahm Inge ihr Studium auf und begann eine Karriere als Journalistin. Sie arbeitete für englische, deutsche und israelische Publikationen. Im Jahr 1978 schrieb sie ein seitdem mehrfach neu aufgelegtes biographisches Buch mit dem Titel Ich trug den gelben Stern, auf dessen Grundlage das Theaterstück Ab heute heißt du Sara entstand, das mit Erfolg auf den Bühnen vieler Theater aufgeführt wurde. Trotz ihres hohen Alters (95) ist Inge Deutschkron noch sehr aktiv. An erster Stelle steht ihr Kampf für Demokratie, Toleranz und Menschenrechte. Sie ist eine weithin geachtete und geschätzte Person, die für ihre Aktivitäten viele Auszeichnungen, Orden und Ehrungen erhielt. Im Oktober 2015 besuchte sie Pszczew mit einer Gruppe von Demokratieaktivisten aus Berlin. Sie verbarg ihre Rührung nicht, als sie die Stadt sah, aus der ihre Familie stammte. "Vor einigen Jahrzehnten blühte hier jüdisches Leben, heute erzählt nur noch die Ausstellung im Museum davon!" erinnerte sich diese außergewöhnliche Person.

Neben den Deutschkrons wohnte auch die Familie Treitel in der Kościelna Straße. Sie besaßen dort zwei Häuser. Das Haus mit der Nummer 4 gehörte Isaak, der darin ein Schuhgeschäft betrieb. Sein ältester Sohn, Hans, studierte Volkswirtschaft und ging dann nach England. Die beiden jüngeren Kinder, Gustav und Sophie, litten an Schizophrenie und wurden in einer Nervenheilanstalt in Obrawalde (Obrzyce) untergebracht. Sie kamen dort während des Krieges durch das Euthanasieprogramm der Nazis an psychisch Kranken ums Leben.

Das Eckhaus mit der Nummer 3 gehörte Louis Treitel. Er war ein stadtbekannter Obst- und Gemüsegroßhändler. Zusammen mit anderen Familienmitgliedern handelte er auch mit Getreide, das er von Bauern kaufte. Die Familie besaß Getreidelager in der Dworcowa Straße. Eines von ihnen ist bis heute erhalten. Die Familie Treitel besaß auch ein prächtiges Gebäude in der heutigen Sikorskiego Straße 8. Es war früher ein Hotel und ein Gasthaus mit Stallungen für Pferde, Fuhrwerke und Kutschen im Innenhof.  Die Treitels waren eine der ältesten jüdischen Familien in Betsche, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts in der Stadt niederließen. Die Familienerinnerung beinhaltet den Durchmarsch von Napoleons Armee durch Betsche im Jahre 1812 sowie die Unterstützung polnischer Priester während der Zeit des Kulturkampfes. Die Besitzerin Cecilie Treitel half ihnen, indem sie ihnen Unterkunft im Gasthaus gab und sie vor der Gefahr warnte. Dafür erhielt sie einen offiziellen Dank von der Bischofskurie Poznań.

Im Jahr 1989 besuchte Cecilies Enkel Kurt Treitel Pszczew. Sein Vater Teodor wurde in dem Haus in der Sikorskiego Straße 8 geboren, aber er emigrierte nach Berlin, wo er als Anwalt Karriere machte. Und Kurt kam in den Ferien nach Betsche, zu seinen Großeltern. Den Krieg verbrachte er in England, wo er auch später lebte. Wie sein Vater wurde er Anwalt und leitete eine bekannte Anwaltskanzlei in London.

Die verbleibenden jüdischen Familien aus Betsche konnte man kaum als so wohlhabend bezeichnen wie die Deutschkrons und die Treitels. Auf dem Marktplatz, unter der heutigen Nummer 21, lebte die arme Familie Rychwalski. Alfred, das Familienoberhaupt, stammte aus Tirschtiegel. Er heiratete in Betsche Ruth, geb. Heydemann und wohnte in ihrem Elternhaus. Alfred war Schneider von Beruf. Während des Ersten Weltkriegs verlor er ein Auge, was ihm die Arbeit nicht leichter machte. Nach der Machtergreifung der Nazis witterten Alfred und Ruth die Gefahr und versuchten vor allem, ihre drei Töchter zu retten. Die Älteste, die 1924 geborene Jutta, wurde zu ihrer Familie nach Berlin geschickt und von dort 1939 nach England. Als Einzige aus der Familie überlebte sie den Krieg. Ähnlich wurde versucht, die jüngste Tochter Emma, geboren 1935, zu versorgen. Sie wurde zu ihrer Familie nach Berlin geschickt, doch der Ausbruch des Krieges verhinderte ihre weitere Ausreise. 1942 wurde Emma in das Ghetto Theresienstadt geschickt, wo sie im Dezember desselben Jahres starb. Die mittlere Tochter Helga, geboren 1925, wurde 1942 mit ihren Eltern aus Betsche deportiert. Offenbar boten die Polizisten, die nachts die Familie abholten, dem Kriegsinvaliden Alfred an, im Haus zu bleiben. Er verließ jedoch nicht seine Frau und seine Tochter. Alles deutet darauf hin, dass alle drei im Herbst 1944 in Auschwitz gestorben sind.

In der gleichen Nacht wurden die restlichen Juden der Stadt aus Betsche deportiert. Ihr bewegliches Eigentum wurde auf dem Marktplatz zur Schau gestellt und versteigert. Einige Einwohner von Betsche nutzten die Gelegenheit und kauften das jüdische Eigentum für sehr wenig Geld. Andere wandten sich angewidert ab, weil sie das Schicksal ihrer jüdischen Nachbarn ahnten.

An der Ecke des Marktplatzes und der heutigen Jadwiga Straße 44 befand sich das Haus und der Laden von Flora Bernstein, einer freundlichen alten Dame. Ihr Laden verkaufte die besten Süßigkeiten der Stadt. Heute befindet sich an dieser Stelle der neu errichtete Sitz der SGB-Bank. Ein Stück weiter auf der rechten Seite befand sich das Haus von Julius Deutschkron, den man in der Stadt Julek Stempel nannte. Der Spitzname kam daher, dass Julius stundenlang mit dem Rücken zu seinem Haus stand und Passanten Finanzdienstleistungen anbot. In der heutigen Jadwiga Straße lebten im 19. Jahrhundert viele Juden. Die meisten von ihnen verließen schon vor dem Ersten Weltkrieg ihre Heimat und verließen die Stadt.

Siegfried Schlesinger, von Beruf Glaser, wohnte in der Młyńska Straße 1. Er war erkennbar an seinem charakteristischen großen Hörgerät, das er im Kontakt mit Kunden benutzte, da er taub war. Juden lebten auch in der Nähe der Synagoge in der Międzyrzecka Straße und in der heutigen Zamkowa Straße (früher: Vorstadt). Genau dort, in einem der Häuser, wurden im Jahr 2006 das Siegel der jüdischen Gemeinde, ein Beschneidungsmesser und ein kleiner Ring gefunden. Diese Objekte befinden sich heute im Museum in Pszczew.

Nach dem Ende des Krieges und des Holocausts verblasste das Wissen über die Juden von Betsche. An sie erinnerten sich nur diejenigen Einwohner, die die Stadt nach 1945 nicht verließen. Neben dem verstorbenen Benno Schild trug Wanda Stróżczyńska (geb. Golz) am meisten dazu bei, ihr Andenken zu bewahren. Fast alle Juden, die in das Nachkriegs-Pszczew kamen, besuchten sie. Ihr größtes Verdienst, neben der Organisation der den Betscher Juden gewidmeten Museumsausstellung, ist die Wiederherstellung der Erinnerung an den ehemaligen jüdischen Friedhof, der in den 1970er Jahren zerstört wurde. Den Anstoß dazu gab der Besuch von Leonhard Deutschkron-Dwir in Pszczew im Jahr 1991, als er seine Heimatstadt besuchte und am Grab seines 1938 verstorbenen Vaters betete. Wie sich Stróżczyńska erinnert, ging Leonhard auf dem zerstörten Friedhof umher und weinte, weil er die Gräber seiner Lieben nicht finden konnte. Er konnte nicht verstehen, warum diese Ruhestätte zerstört worden war. Für Juden ist der Friedhof ein heiliger, ewiger Ort, viel wichtiger als die Synagoge.

Wanda Stróżczyńska beschloss daraufhin, dass sie alles tun würde, um den Friedhof zu ehren. Mit Hilfe der Gesellschaft der Freunde von Pszczew und der Gemeindeverwaltung wurde der Friedhof teilweise aufgeräumt, die einzige erhaltene Mazewa aufgestellt und ein Gedenkstein errichtet. Zur feierlichen Enthüllung am 25. Oktober 1995 kamen Leonhard und seine Frau. Nach einer Rede, in der er sich für die Restaurierung des Friedhofs bedankte, sprach er das Kaddisch, das Gebet für die Toten, auf Hebräisch. "Dies ist die Sprache, in der Jesus von Nazareth sprach", sagte er zu den Anwesenden. Ihm antwortete der Pfarrer von Pszczew, Pater Andrzej Ignatowicz, der das Vaterunser sprach und betonte, dass dies das Gebet ist, mit dem der Jude, Jesus Christus, auf dem Berg Tabor Gott, den Vater, ansprach.

In der über tausendjährigen Geschichte von Betsche waren die Juden etwa 150 Jahre lang präsent. Sie lebten Seite an Seite mit Polen und Deutschen in Einverständnis und gegenseitigem Respekt. Die Zeit des Nationalsozialismus zerstörte diese Symbiose, die jüdische Gemeinde wurde vernichtet und als Folge des Zweiten Weltkrieges wurden die Deutschen aus Betsche vertrieben.

Das jüdische Kapitel der Betscher Geschichte soll durch die Erinnerung an Jan Pietkun vervollständigt werden, der hier mit seiner Frau Maria von 1946 bis 1993 lebte. Während des Zweiten Weltkriegs versteckte er in seinem Haus drei Juden aus der Region Vilnius. Für seinen Mut und seine Selbstlosigkeit wurde er 1970 vom Yad Vashem-Institut zur Erinnerung an die Märtyrer und Helden des Holocaust in Jerusalem mit der Medaille Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Möge seine edle Haltung während des Holocausts, bei der Verteidigung des menschlichen Lebens, ein Dokument des Krieges sein und nie vergessen werden.

Heute sind hauptsächlich Polen, die heutigen Einwohner, die Hüter der jahrhundertelangen und farbigen Geschichte der Stadt. Unter Beachtung der kulturellen Vielfalt, in einer Atmosphäre des Verständnisses und des Dialogs, versuchen sie, die Erinnerung an diejenigen wiederherzustellen, die in Pszczew nicht mehr präsent sind.

Andrzej Kirmiel

 

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Photo: OLF1.1. FrankRuhlLibre

Quellen, Literatur und Internet

GStA PK, XVI HA, Rep. 32, Nr. 311; Nr. 289.

Archiwum Państwowe Gorzów Wlkp., Akta Miasta Pszczewa (1938-1943), Sign. 332.

Stadtmuseum Pszczew "Dom Szewca (Schuhmacherhaus)": Statut der Jüdischen Gemeinde Betsche 1869 (Kopie); Schreiben Nr. 412/38 des Bürgermeisters von Betsche vom 19. Mai 1938 an den Meseritzer Landrat (Kopie).

Gespräch des Autors mit Wanda Stróżczyńska und Benno Schild, Einwohner von Pszczew, April 2008.

Gespräch des Autors mit Ryszard Patorski, April 2008.

 

Aron Heppner, Isaak Herzberg: Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Bromberg 1909, S. 301f.

Biographisches Handbuch der Rabbiner, München 2004, S. 709.

Maciej Borkowski, Andrzej Kirmiel, Tamara Włodarczyk: Śladami Żydów. Dolny Śląsk, Opolszczyzna, Ziemia Lubuska, Warszawa 2008, S. 78.

Thomas Byrnes: Professional Criminals of America, New York 1886.

Joachim Duckart: Die Juden von Betsche. Ein Beitrag zum “Wirten” der Juden im deutschen Osten, Meseritz 1939.

The Encyclopedia of Jewish Life, New York 2001, S. 134.

Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland, 1932-1933, Berlin 1933, S. 81.

Heinrich, Heine: Dzieła wybrane, Bd. 2, Warschau 1956.

Edward Dawid Luft: The True Story of Abraham Greenthal, King of Pickpockets in 19th Century New York City, as Revealed from Contemporary Sources, Washington 2015, S. 3.

Riedels Codex diplomaticus Brandenburgiensis, Bd. 2, Berlin 1858.

A. F. Thiele: Die jüdischen Gauner in Deutschland, Berlin 1848.

 

Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945, URL: www.bundesarchiv.de/gedenkbuch [30.06.2021]