Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Küstrin (Kostrzyn nad Odrą)
Seit 1573 war es Juden untersagt, auch nur eine Nacht in der Festungsstadt Küstrin zu verbringen. Ohnehin besaßen sie hier überhaupt kein Wohnrecht. Dennoch soll es schon 1717 eine jüdische Familie in der Stadt gegeben haben.
Erst im Zuge der Preußischen Reformen und dem am 11. März 1812 erlassenen Emanzipationsedikt zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden konnten selbige ihren Wohnsitz fortan selbst wählen. Ebenso dürfte die 1782 gegründete Freimaurer-Loge „Friedrich Wilhelm zum goldenen Zepter“ eine Rolle bei der Schaffung eines offenen Klimas für die Aufnahme von Juden in der Stadt gespielt haben. Am 16. März 1815 erhielt mit dem Tuchhändler Salomon Fürstenheim dann auch der erste Küstriner Jude das Bürgerrecht. Ihre Gottesdienste hielten die Juden in einem kleinen Gebäude in der Küstriner Altstadt. 1820 konstituierte sich die Jüdische Gemeinde, die 1835 bereits 88 Mitglieder zählte. 1852 waren es schon 111 und dreißig Jahre später, im Jahr 1880, 222 Mitglieder. Hierzu gehörten auch jüdische Familien, die in der Umgebung Küstrins lebten.
Die Küstriner Juden waren inzwischen in der Stadtgesellschaft anerkannt und beruflich im Konfektions-, Vieh- und Getreidehandel etabliert, stellten mit einem Anteil von 1,3 % aber eine gesellschaftliche Minderheit dar. Mit der Anbindung an das Netz der Preußischen Ostbahn und der Einbeziehung in die Bahnlinie Breslau – Stettin im zweiten Drittel des 19. Jh. sowie der ohnehin vorhandenen strategischen Lage an der Mündung der Warthe in die Oder, erreichte auch Küstrin die Industrialisierung. Es entstanden mehrere Fabriken in verschiedenen Sektoren, die den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt beförderten und zum Wohlstand ihrer Einwohner führte.
Davon profitierten auch die Juden, die mehrheitlich im Handel oder in akademischen Berufen aktiv und erfolgreich waren. Das versetzte sie finanziell in die Lage, sich neben der Unterhaltung ihres Friedhofes und ihrer Schule nun endlich auch eine große Synagoge zu erbauen. 1884 fand in der Bäckereigasse 8 der Altstadt der erste jüdische Gottesdienst statt. 1905 ergänzte die Jüdische Gemeinde ihre Infrastruktur noch um eine kleine Bibliothek, für die sie Sigismund Hartwich anstellte. Laut Eintrag im „Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege“ besaß die Gemeinde 1932 auch eine Chewra Kaddischa, der Sally Hirschbruch vorstand sowie eine Ortsgruppe des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, die J.D. Müller leitete.
Zu den bekanntesten jüdischen Unternehmen der Stadt gehörte die Dampfmahlmühle von Adolf Herzog an der Landsberger Str. 39 (heute: ul. Gorzowska). Das größte Kaufhaus der Stadt befand sich am Markt 29 und im Eigentum von Max Danzinger und das größte Gastronomie-Lokal nach dem Ersten Weltkrieg lag an der Plantagenstraße 1-3 und gehörte Rudolf Daube.
Wie inzwischen belegt werden konnte, traten bei Abbrucharbeiten an der nördlichen Festungsanlage im Sommer 1927 erste Schäden am Mauerwerk der an der Festungsmauer gelegenen Synagoge auf. Eine sich anschließende Grundwasserabsenkung schädigte außerdem ihr Fundament so stark, dass eine Weiternutzung aus baupolizeilicher Sicht nicht mehr möglich war. Die Synagoge schloss am 1. Januar 1928 ihre Tore und wurde bald darauf abgerissen. Die Mehrheit der Gemeindemitglieder sprach sich deshalb für den Neubau eines Gotteshauses in der Küstriner Neustadt aus, die für sie inzwischen ohnehin attraktiver war als die Altstadt. Dort befand sich nämlich nicht nur der Gemeindefriedhof. Es eröffnete sich vielmehr die Chance, trotz der zunehmenden Schwierigkeiten eine kleinere Synagoge in Wohnnähe zu errichten. Der Vorstand der Gemeinde um den ehemaligen Stadtrat Jacob Müller beschloss, hierfür die „Steine des alten Tempels auf Grund des Gesetzes zur Arbeitsbeschaffung“ zu verwenden. Durch Spenden und den Verkauf eines der Gemeinde gehörenden Grundstücks finanzierte sich das Projekt.
Am 6. Oktober 1934 berichtete schließlich das Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin über die Weihe der neuen Synagoge in der Küstriner Stülpnagelstraße 10 (heute: ul. Kościuszki). An dieser Feier, bei der Kantor Michael Loewy die Predigt hielt, nahmen neben den eigenen Gemeindemitgliedern Delegationen der Jüdischen Gemeinden aus Berlin, Frankfurt an der Oder, Landsberg an der Warthe und Müncheberg teil, aber auch Vertreter unterschiedlicher jüdischer Organisationen der Lokal- und Reichsebene. Der Autor des Berichts nannte keine Namen städtischer Persönlichkeiten. Man blieb unter sich, hatten sich doch die politischen Rahmenbedingungen inzwischen entscheidend geändert. Diese hatten außerdem dazu geführt, dass die seit langem ohnehin kleiner werdende jüdische Gemeinschaft weiter schrumpfte. Wer jung und mobil war, hatte die Stadt bereits verlassen, war untergetaucht oder emigriert.
In der Reichspogromnacht 1938 wurden wie in ganz Deutschland auch in Küstrin jüdische Geschäfte überfallen und ausgeraubt. SS-Angehörige aus Berlin schändeten und zerstörten wahrscheinlich unter Mithilfe der Zivilbevölkerung die Synagoge in der Neustadt. Jüdische Männer verschleppte man ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Der Modeausstatter Hermann Jacoby wurde in seiner Wohnung von einem SS-Mann erschossen. Ein halbes Jahr später war die Synagoge abgerissen und es lebten nur noch 24 Juden in der Stadt.
Die schweren Kampfhandlungen zwischen Januar und März 1945 zwischen der deutschen Wehrmacht und der vorrückenden Roten Armee zerstörten Küstrin zu 90 %. Von ihrer einstigen jüdischen Bevölkerung blieb keine Spur.
Seit September 1939 befand sich unter der Bezeichnung „Stalag III C Alt-Drewitz“ in der Nähe Küstrins (heute: Kostrzyn-Drzewice) ein Außenlager des KZ Sachsenhausen, in dem insgesamt ca. 70.000 Kriegsgefangene unterschiedlichster Nationalitäten unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Sie kamen vor allem aus Polen, Frankreich, Italien und der Sowjetunion und wurden in der Rüstungsindustrie, der Landwirtschaft, beim Autobahnbau sowie bei der Eisenbahn eingesetzt. Im September 1944 kamen Gefangene des niedergeschlagenen Warschauer Aufstands hinzu. Wie viele unter ihnen jüdischer Herkunft waren, ist nicht bekannt. Ungefähr 12.000 Kriegsgefangene wurden ermordet und in Massengräbern beerdigt. Im Januar 1945 erreichte die Rote Armee das Lager und befreite die hier Internierten.
1962 wurde der Friedhof für die in Alt-Drewitz ermordeten Kriegsgefangenen angelegt und ein Denkmal errichtet. 1966 stifteten französische Kriegsveteranen eine Gedenktafel. 1989 kam ein großes Metall-Kreuz hinzu. Eine kleine Ausstellung im Ort ergänzt diese Gedenkstätte.
Magdalena Abraham-Diefenbach, Anke Geißler-Grünberg
Quellen, Literatur und Quellen
Staatsbibliothek zu Berlin, Messtischblatt Küstrin: SBB_IIIC_Kart_N 730_Blatt 1844 von 1923.
Magdalena Abraham-Diefenbach, Magdalena Gebala (Hg.): Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder / Z biegiem rzeki. Dzieje Żydów nad Odrą, Ausstellungskatalog, Potsdam 2018.
Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932–1933, hrsg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden, Berlin 1933, S. 66.
Karlheinz Gerlach: Die Freimaurer im Alten Preußen 1738–1806. Die Logen in Berlin, Teil 1, Innsbruck 2014.
E. Grünthal: Synagogenjubiläum in Zürich – Einweihung der Synagoge in Küstrin, in: Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, vom 6. Oktober 1934 (Nr. 37), S. 4.
Frank Lammers: Küstrin. Stadtgeschichte und Stadtverkehr, Berlin 2005, S. 25.
Aleksander Orłow: Żydzi w Kostrzynie nad Odrą. Cmentarz żydowski z domem przedpogrzebowym, in: Miasto i Twierdza Kostrzynie nad Odrą. Wykopaliska, cmentarze, świątynie. Die Stadt und die Festung Küstrin an der Oder. Ausgrabungen, Friedhöfe, Gotteshäuser: praca zbiorowa / redakcja Wolfgang Damian Brylla, Bogusław Mykietów, Marceli Tureczek, Kostrzyn nad Odrą / Zielona Góra 2012, S. 81-91.
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Wirtualny Sztetl: Kostrzyn nad Odrą, URL: sztetl.org.pl/en/towns/k/511-kostrzyn-nad-odra [31.03.2021]