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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Berlinchen (Barlinek)

Geburts- und Wohnhaus des jüdischen Schachweltmeisters Emanuel Lasker
Foto: Peggy Lohse
Geburts- und Wohnhaus des jüdischen Schachweltmeisters Emanuel Lasker

Erstmals historisch erwähnt wird der Ort Berlinchen als „Neu-Berlyn“ in einer Urkunde der Markgrafen Otto und Albrecht aus dem Hause der Askanier vom 25. Januar 1278 an den Müller Heinrich Toyte, der den Ort rund um eine bereits bestehende Mühle wohl bereits mit Bewohnern aus Berlin an der Spree besiedelt haben könnte. Von 1354 stammen Belege dafür, dass sich die Stände der Neumark, die sich sonst in Soldin trafen, einmal in Berlinchen zum Landtag versammelten. Zahlreiche historische Quellen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aber wurden durch spätere Kriege und Brände zerstört. Womöglich war einst ein wendisches Dorf  (also eine Siedlung von Sorben) die Grundlage, auf derer später das heutige Barlinek entstand.

Als im 14. Jahrhundert die Pest wütete, erlebten die Juden in Berlinchen und Umgebung erste Pogrome und Verfolgungen. Zahlreiche Menschen flohen aus Westeuropa, darunter aus Brandenburg, in das benachbarte Königreich Polen. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg erlaubte ein Edikt des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von 1671 wieder die Ansiedlung von Juden in Brandenburg, die Errichtung von Synagogen jedoch blieb untersagt. Erst ein Jahrhundert später, ab 1777, vergab König Friedrich II. Siedlungsgenehmigungen in Preußen für ausgewählte Juden. Mit dem Emanzipationsedikt von Friedrich Wilhelm III. von 1812 erhielten Juden sämtliche Bürgerrechte, freie Wahl bei der Ansiedlung und Errichtung aller möglicher Gebäude. So zogen in dieser Zeit auch zahlreiche jüdische Familien – die meisten aus Großpolen – nach Berlinchen.

Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Berlinchen bereits eine jüdische Privatschule, für 1855 sind „148 J.[uden], die eine eigene Synagoge besitzen“ vermerkt. Auch im Bericht der Abteilung für die Kirchenverwaltung und das Schulwesen der Regierung des Regierungsbezirks Frankfurt (Oder) vom 30. November 1843 an den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Preußens zum Kultus- und Schulwesen der Juden heißt es bereits: „Im Kreise Soldin bestehen Synagogen zu Soldin und Bernstein, sogenannte Bethäuser aber in Berlinchen und Lippehne. (…) Das Bethaus in Berlinchen ist Eigenthum der dortigen jüdischen Gemeinde.“ Hier galten wie in Nachbargemeinden auch „in Beziehung auf die Mitgliedschaft und das Stimmrecht, die Bedingungen der Leistung der Beiträge zu den Gemeinde-Lasten resp. der Entrichtung eines Eintrittsgeldes. Verbrechen, durch welche der Bürger des Bürgerrechts verlustig geht, ziehen auch den Verlust des Stimmrechts eines bescholtenen Mitglieds der jüdischen Gemeinde nach sich.“

Die jüdische Gemeinde in Berlinchen wurde, in Bezug auf Bildungsangelegenheiten, damals durch zwei Vorsteher vertreten. Einen Rabbiner gab es hier zu jenem Zeitpunkt nicht, stattdessen: „In Berlinchen ist ein Lehrer für den Unterricht der Kinder in der jüdischen Religion laut Contract angenommen, der zugleich Vorbeter und Schächter ist. Sein Einkommen ist gering und beläuft sich das Fixum wöchentlich auf 2 r. [Reichstaler]“. Das Eigentum der jüdischen Gemeinde beschränkte sich Mitte des 19. Jahrhunderts weiterhin nur auf jenes Bethaus, einen Begräbnisplatz – den um die Jahrhundertwende angelegten jüdischen Friedhof auf dem sogenannten „Judenberg“ – und ein Badehaus.

Insgesamt beziffert jener Bericht von 1843 die Gesamtzahl der Juden in Berlinchen mit 105, die alle in derselben Ortschaft zum selben Bethaus gehörten. 16 jüdische Kinder besuchten eine christliche Schule und erhielten zusätzlichen Privatunterricht von einem zugelassenen Lehrer in jüdischer Religion.

Um 1880 zählte die jüdische Gemeinde in Berlinchen rund 130 Angehörige. Vor allem Abwanderung führte dazu, dass innerhalb weniger Jahrzehnte die Zahl der hier lebenden jüdischen Familien nahezu bedeutungslos wurde.

Als während des Ersten Weltkriegs rund 12.000 jüdische Soldaten an der Front ihren Tod fanden, waren darunter auch drei jüdische Militärs aus Berlinchen: die Brüder Otto und Hans Lebbin sowie Julius Lindemann.

Die Synagoge der Gemeinde befand sich in der Bergstraße 11 (soll heute ul. Górna 11 sein, aber offensichtlich sind vor Ort keine Anhaltspunkte dafür erkennbar) und wurde bis 1933 genutzt. Alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde zahlten einen monatlichen Beitrag zur Unterhaltung der Synagoge sowie zur Bezahlung der Gemeindeleitung, u.a. auch des Rabbiners Michaelis Aaron Lasker, Vater des späteren Schachweltmeisters Emanuel Lasker, der noch ausführlich vorgestellt wird.  

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und der „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 erreichte die Judenverfolgung auch Berlinchen, wie Marianne Goldstein noch 2014 in ihren Erinnerungen an jene Zeit notierte. Eines der ersten Berlinchener Opfer der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten war Ben Louisa Primo: Er wurde 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar deportiert und starb dort am 9. Oktober 1938 – noch vor den Novemberpogromen vom 9. auf den 10. November desselben Jahres.

Der sich zuspitzende Antisemitismus führte dazu, dass auch aus Berlinchen viele Juden nach Berlin zogen, um in der Anonymität der Metropole Arbeit und Sicherheit zu finden. Ein Beispiel ist Charlotte Heilborn, geboren 1902 in Berlinchen, in deren Gedenken heute ein „Stolperstein“ vor dem Haus ihrer letzten Adresse in der Martin-Luther-Straße 16 in Berlin-Wilmersdorf verlegt ist. Am 29. Januar 1943 wurde sie von hier aus in einem Sonderzug vom Güterbahnhof Putlizstraße nach Auschwitz deportiert. Ihr weiterer Verbleib und Todesdatum sind nicht bekannt. Insgesamt 59 Tötungs- bzw. Todesfälle von Juden aus Berlinchen während des Zweiten Weltkrieges listet der polnische Lokalhistoriker Andrzej Mrowiński in seinem Buch „Barlineckie kamienie pamięci“ [Berlinchens Steine der Erinnerung] über das jüdische Leben in Berlinchen und Barlinek auf.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt Berlinchen Teil der neuen Republik Polen und in Barlinek umbenannt. Die Synagoge riss man ab. Heute jedoch sind keinerlei Spuren mehr an jenem Ort, an der Adresse ul. Górna 11, zu erkennen – weder Freiraum, wo die Synagoge einmal gestanden haben könnte, noch Mauerreste.

Jüdische Unternehmerfamilien

1852 wurde das Berlinchener Rathaus durch einen Brand zerstört. An seiner Stelle sollte 1912 eines der noch heute gültigen Symbole der Stadt entstehen: der Gänseliesel-Brunnen. Initiator dieser Skulptur war der jüdische Kaufmann Maximilian Riess, ein angesehener Bürger und Abgeordneter im Stadtrat. In den 1920er Jahren emigrierte die Familie nach Amerika. Der Brunnen steht noch heute, er wurde 1991 von weggezogenen Einwohnern Barlineks restauriert und erhielt 1992 eine zweisprachige Informationstafel.

Neben dem sogenannten „Judenberg“ („Żydowska góra“), zwischen See und Stadtzentrum siedelten sich im 19. Jahrhundert auch Produktionsgewerbe an, unter anderem eine Ziegelei und eine Gerberei. Letztere war, wie der Lokalhistoriker Andrzej Mrowiński in einem seiner zahlreichen Beiträge für die Lokalpresse beschreibt, bereits 1795 von Chrystian Friedrich Nagel aus Berlinchen gegründet worden. 1848 dann übernahm die Fabrik der jüdische Kaufmann Jakob Messow, verheiratet mit Riehel Cohn, der Tochter eines weiteren jüdischen Kaufmanns: Nathan Jacob Cohn. Später sollten diese Verbindungen zur Fusion der Unternehmen führen. Aus der zur Gerberei gehörenden Holzmühle entstand unter der nächsten Generation der Unternehmensfamilie ein Sägewerk mit modernen Produktionshallen und letztlich eine regional bedeutende Möbelfabrik.

Nachfahren der Berlinchener Familie Messow gründeten auch ein Furnierwerk in Berlin-Karlshorst. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 jedoch wurden sie zum Verkauf gezwungen. Nach den Novemberpogromen 1938 floh die Familie Messow in die Niederlande: In der Provinz Utrecht kamen sie am 25. Oktober 1940 an, zwei Jahre später wurde das Ehepaar Messow verhaftet, inhaftiert und über das Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach ihrer Ankunft am 24. September 1943 getötet.

Der in Berlinchen verbliebene Partner von Nathan Messow, Moritz Neustein, und seine Frau Perla pflegten enge Kontakte zu dem späteren Schachweltmeister Emanuel Lasker, der auch in Berlinchen geboren wurde und lebte. Ihre Tochter Lotte wurde später Sekretärin und Assistentin von Albert Einstein, ging 1933 mit dem berühmten Physiker in die USA und arbeitete bis zu seinem Lebensende (1955) für ihn in New York.

Perla Neustein selbst starb bereits am 14. Juni 1933 und wurde auf dem jüdischen Friedhof neben der Stuhlfabrik begraben. Ein Foto aus den 1980er Jahren bewies, dass ihr Grab den Krieg überstanden hatte. Heute jedoch sind keinerlei Grabplatten mehr auf dem Gelände zu finden.

Als Familie Riess nach Amerika ging, übernahm ihr Handelsunternehmen Siegfried Grandauer, der mit seiner Familie in den 1930er Jahren jedoch auch Berlinchen in Richtung Berlin verließ. Er starb dort im Jahr 1940, während die meisten seiner Nachfahren emigrieren konnten – in die USA, nach Brasilien, nach Shanghai u.a.

Schachweltmeister Emanuel Lasker

Der berühmteste Sohn der jüdischen Gemeinde von Berlinchen war und ist bis heute Emanuel Lasker. 1933 emigrierte er, 1941 starb er in den USA. Ein großes Wandbild an der Hauptverkehrsstraße präsentiert Barlinek heute als „Stadt des Schachweltmeisters Emanuel Lasker (1868–1941)“.

Sein Geburts- und Wohnhaus, heute in der Straße Chmielna 7, ziert eine Gedenktafel mit der Aufschrift: „W tym domu mieszkał / EMANUEL LASKER / (1868–1941) / wybitny filozof i matematyk / szachowy mistrz świata / w latach 1894–1921 / W 60-tą rocznicę jego śmierci / 2001“ (dt.: „In diesem Haus lebte / EMANUEL LASKER / (1868–1941) / herausragender Philosoph und Mathematiker / Schach-Weltmeister / in den Jahren 1894–1921 / Zum 60. Jahrestag seines Todes / 2001“).

Vor dem Stadtmuseum überblickt eine Büste von Emanuel Lasker einen Steintisch mit Schachfeld, als würde er Besuchende zum Spielen einladen. Im Innern informiert auch eine kleine Ausstellung über das Leben des späteren Schach-Genies. Ein gepflegter Park am Seeufer trägt seinen Namen und eine große Informationstafel zu seinem Leben in Berlinchen und nach dem Wegzug.

Emanuel Lasker – Immanuel per Geburtsurkunde, der Name wurde in der Schule angepasst – wurde am „Nachmittag des Heiligen Abend“, dem 24. Dezember 1868, als viertes Kind des Kantors der örtlichen Synagoge – Michaelis Aaron – geboren. Er besuchte in Berlinchen die Grundschule. Nach dem Abschluss des Gymnasiums in Landsberg an der Warthe im Jahr 1888 zog er nach Berlin, um sich dem Studium der Mathematik und der Philosophie an der Berliner Universität zu widmen. Dank seinem älteren Bruder Bertold, der dort Medizin studierte, begann Emanuel Laskers Schachkarriere. Und bereits im Jahr 1894 standen sich im kanadischen Montreal dann zwei Schachgrößen gegenüber: Der 58-jährige Weltmeister Wilhelm Steinitz sollte sich am Abend des 26. Mai dem gerade einmal 25-jährigen Emanuel Lasker geschlagen geben. 27 Jahre lang behielt Lasker den Titel als Schachweltmeister – die längste Zeit in der Schachgeschichte.

Lasker kehrte trotz der Erfolge zur Wissenschaft zurück: Er beendete das Mathematikstudium und promovierte in Erlangen 1902 in Philosophie. In den USA gründete und editierte er das „Lasker's Chess Magazin“. Er schrieb Schachbücher für Anfänger und Fortgeschrittene und wurde auch im Berliner Verlag „Hans Joseph“, der sich auf Schach, Philosophie und Geschichte spezialisierte, später eine Zeit lang Geschäftsführer.

Emanuel Lasker war mit Albert Einstein befreundet, der später ein Grußwort zu der Lasker-Biografie von Dr. Jacques Hannak „Emanuel Lasker. Biographie eines Schachweltmeisters“ beisteuern sollte. Außerdem reiste Lasker aufgrund seiner Schach-Wettbewerbe viel durch die Welt. 1933 konnte er aufgrund des in Deutschland zunehmend brutaler werdenden Antisemitismus nicht in seine Heimatstadt Berlinchen zurückkehren, weshalb die Familie zunächst nach England emigrierte. Von einer Reise nach Moskau, auf die er seine Frau mitgenommen hatte, entkamen sie 1937 den beginnenden Stalin’schen Säuberungen und zogen in die USA. Er starb am 11. Januar 1941 in New York.

Das Schachspiel genoss damals bereits traditionell einen hohen Stellenwert sowohl in Deutschland als auch besonders in den jüdischen Gemeinden: „Welche Verbreitung auch später das Schachspiel bei den Juden genoß, beweist die Entscheidung einer Rabbinerversammlung, etwa um 1700, daß man auch am Sabbath Schach spielen dürfe, weil dieses Spiel die Denkkraft schärfe und somit den Geist geeigneter zum religiösen Studium mache. (…) Während früher jüdische Spieler nur ausnahmsweise Gelegenheit hatten, sich mit nichtjüdischen Gegnern zu messen, wurde dies nach erfolgter Gleichberechtigung, etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, möglich und besonders in Deutschland zeigte es sich bald, daß die Juden einen hohen Prozentsatz der begabtesten Schachspieler stellten.“ Mit Wilhelm Steinitz und Emanuel Lasker waren damals, bereits Ende des 19. Jahrhunderts, zwei von insgesamt fünf Weltmeistern im Schach jüdischer Herkunft. Von 13 Anwärtern auf den Weltmeistertitel bis 1948 waren fünf jüdische Großmeister.

Peggy Lohse

 

Quellen, Literatur und Internet

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Staatsbibliothek zu Berlin: Messtischblatt Berlinchen: SBB_IIIC_Kart_N 730_Blatt 11563 von 1934.

 

Berlin, Johann: Berlinchen – seine Vergangenheit und Umgebung. Prignitzer Volksbücher (Hefte zur Heimatkunde der Prignitz, Heft 17), Pritzwalk 1909.

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