David Friedländer
Ernst Fraenkel (1917) - David Friedländer und seine Zeit
zitiert nach: Ernst Fraenkel: David Friedländer und seine Zeit. In:Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, Jg. (1936), H. 2-3, S. 65–76.
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Die Geschichte der Juden ist mehr als die irgendeiner anderen Gemeinschaft nur im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu begreifen, und darum gibt es keine jüdische Geschichte ohne Verständnis für die allgemeingeschichtlichen Erscheinungen, die auf ihre äußere und innere Gestaltung eingewirkt haben. Doppelt reizvoll und doppelt schwierig wird die Erfassung und Darstellung einer Epoche jüdischen Geschehens, in der sich revolutionierende Erschütterungen in der Sphäre des geistigen und sozialen Lebens der Umwelt vollziehen, wenn es gilt, wechselseitige Wirkungen in ihren historischen und kulturellen Bedingtheiten zu beobachten und die Wurzeln eines bestimmten Wandlungsprozesses im nationalen oder universalen Denken bloßzulegen. Eine solche Periode bestimmter soziologischer und sozialpsychischer Bewegungen ist die Zeit, in deren Rahmen die acht Jahrzehnte des Lebens David Friedländers eingespannt sind.
Wie Aufklärung, Klassik und Romantik im deutschen Geistesleben Strömungen in Kunst und Philosophie sind, so bedeutet die „Haskala“ für die in Deutschland, besonders die in Preußen wohnenden Juden eine Wandlung in der Idee der Erziehung und Bildung, in der Auffassung von Religion nach Form und Inhalt; in Moses Mendelssohn und seinem Kreise – Hartwig Wessely, Marcus Herz, Isaak Euchel, Lazarus Bendavid und David Friedländer, – später in Zunz, Geiger, Hirsch und Riesser entstehen der jüdischen Gemeinschaft Persönlichkeiten, die durch ihr Wirken auf geistigem, sozialem und gesellschaftlichem Gebiet dem Antlitz des Judentums ihrer Zeit eine neue Prägung geben und eine geistige Revolution „von oben nach unten“ hervorrufen. Wenn in dieser epochalen Periode ein neues Weltbild entstand, wenn sich eine neue Erkenntnis von den inneren Beziehungen zwischen Gott und Mensch ergab, wenn die „Perfektibilität“ der Menschheit in dem Mittelpunkt alles Strebens stand, wenn die Begriffe Freiheit, Toleranz und Humanität vom Schlagwort zur Forderung an die Zeit gemacht wurden und als reale Folge neuer Ideen neue politische Willensimpulse erwuchsen, dann konnten die Juden von diesem Erwachen der Geister in der Umwelt nicht unberührt bleiben, sie, die Glieder einer Gemeinschaft, auf der besonders der Druck der Unfreiheit lastete. Ihre führenden Persönlichkeiten schufen sich ein in bewußtem Gegensatz zur Vergangenheit stehendes neues Bildungs- und Erziehungsideal, das die in der Zeit schöpferisch schaffen-[66]den Kräfte benutzte und sie für ihre Zwecke verwendete. Wie im Judentum diese äußere und innere Wandlung in bezug auf humanitär-pädagogische Tendenzen und in bezug auf das staatsbürgerliche Leben sich vollzog, dafür sind Leben und Wirken des Mannes charakteristisch, den Heinrich von Treitschke als den „wackern David Friedländer“ bezeichnet hat[i], dessen Charakterbild anderseits durch H. Graetz in einer Weise gezeichnet worden ist[ii], die alle Merkmale seiner historischen Forschungsmethode und der Art seiner Darstellung, besonders im XI. Band seiner „Geschichte der Juden“ zeigt[iii].
Die Forschungen in den Jahrzehnten nach Graetz und I. H. Ritter, dessen kenntnisreiche, aber trockene Darstellung im Rahmen seiner Gesamtzeichnung der „jüdischen Reformation“[iv] auch heute noch die beste Kenntnis vom Wirken David Friedländers vermittelt, haben inzwischen neue Quellen für die geschichtliche Erkenntnis der in dieser Zeit wirkenden Männer und Ideen erschlossen; es ist daher nicht nur eine Pflicht der Dankbarkeit gegenüber diesem unablässig für den Fortschritt und die Rechte seiner Glaubensgenossen kämpfenden Manne, sondern auch ein Gewinn für das Verständnis der gleichzeitigen geistesgeschichtlichen Entwicklung der Juden in Preußen-Deutschland, wenn versucht wird, im Rahmen des zu Gebote stehenden engen Raumes ein Bild von ihm und seiner Zeit zu skizzieren[v].
David Friedländer wurde am 6. Dezember 1750 in Königsberg i. Pr. als Sohn des Schutzjuden Joachim Moses Friedländer geboren. Wenige Monate vorher hatte Friedrich II. in dem „Revidierten General-Privilegium und Reglement“ die rechtlichen Grundlagen „vor die Judenschaft im Königreiche Preußen der Chur- und Mark Brandenburg usw.“ geschaffen – jenes Gesetz, das mit seiner seelischen und wirtschaftlichen Bedrückung, mit seiner Tendenz, den Nutzen der Juden für den Staat durch Vermehrung der Lasten zu erhöhen, ihren Fortschritt durch möglichst enge Schnürung ihrer Fesseln zu verhindern, trotz mannigfacher, meist auf wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen beruhenden Modifikationen, im großen und ganzen bis zum Jahre 1812 in Geltung blieb und die Verhältnisse dieser Epoche bestimmte[vi]. In Königsberg aber war die Behandlung der Juden von Seiten der Behörden und das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung im allgemeinen nicht ungünstig. Die schwebenden Fragen der Gemeinde oder einzelner Gemeindemitglieder konnten in persönlicher Aussprache mit den Vertretern der Behörden in loyaler Weise behandelt werden, und besonders bei den wirtschaftlich [67] besser gestellten jüdischen Familien ergaben sich allmählich mancherlei Berührungspunkte mit den christlichen[vii], besonders wenn in den jüdischen Kreisen der Wille bestand, sich in bezug auf Aneignung allgemeiner Bildung der Umgebung anzupassen.
Innerhalb dieser kulturell und wirtschaftlich gehobenen Schicht der Königsberger jüdischen Bevölkerung ragte, auch durch das Ansehen bei seinen Mitbürgern, Joachim Moses Friedländer hervor.
Seinem Vater war er aus Oberschlesien – die Familie stammt wahrscheinlich aus dem kleinen Orte Friedland in der Nähe von Zülz[viii] – in der Mitte der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts nach Königsberg gefolgt. Schon dieser, der Schutzjude Moses Lewin, Vorsteher der jüdischen Gemeinde und „Königl. Preußischer Schutzjuden-Ältester“, muß es zu einem gewissen bürgerlichen Wohlstand gebracht haben[ix]. Joachim Moses Friedländer hatte eine ausgezeichnete jüdische Ausbildung genossen, bevor er nach Königsberg kam. In Prag hatte er zu den besten Schülern des berühmten talmudisch-kabbalistischen Rabbi Eibeschütz gehört[x]. In seiner neuen Heimat „etablierte“ er dann, nachdem er sich 1738 mit Hinde Fischel, der Tochter des Danziger Schutzjuden Lewin Fischel, verheiratet und neben einer stattlichen Mitgift das Recht auf die „Ansetzung“ auf den Schutzjudenbrief seines kurz vorher verstorbenen Schwiegervaters erhalten hatte, eine „Packkammer von Seiden und and. Schles., Holländ. und Schweizer Waren“[xi]. Das Unternehmen entwickelte sich trotz mancher wirtschaftlicher Schwierigkeiten, besonders während des Siebenjährigen Krieges, so gut, daß die Kriegs- und Domänenkammer in einem Gutachten betr. „eines Gesuchs des Joachim Moses Friedländer wegen Bewilligung eines Generalprivilegs“ an das Generaldirektorium 1764 melden konnte: „Wie es denn auch der Wahrheit gemäß ist, daß dieser Jude unter allen hiesigen Schutzjuden der bemittelste ist, und niemals anderen als den Gros Handel mit Packkammerwaren getrieben hat“[xii]. So erhielt denn Joachim Moses Friedländer wenige Wochen nachher für sich und seine Kinder das Recht, „sich in Königsberg in Preußen oder anderen Städten in unseren Landen, Schlesien und diejenigen Städte, wo nach den Statuten keine Juden domizilieren dürfen, ausgenommen, niederzulassen und nach diesem ihm allergnädigst konferierten Generalschutzprivilegio ihren Handel und Wandel im Kaufen und Verkaufen auf öffentlichen Jahrmärkten sowohl als außer denenselben zu führen und zu treiben, ohne deshalb Chargen Jura zu bezahlen, und nur bloß die gewöhnlichen Trauscheine lösen zu dürfen“[xiii]. Dieser Wohlstand seines Hauses und die reichen Erfahrungen und Kenntnisse, besonders auf dem Gebiete der fremden Sprachen, die er auf seinen oft Monate lang dauernden Ein- und Verkaufsreisen sammelte und auch für seine eigene weitere Ausbildung verwertete, ermöglichten es Moses Friedländer, der im [68] Gegensatz zu vielen seiner Glaubensgenossen die deutsche Sprache beherrschte und sich noch im Alter gern Herder und Lessing vorlesen ließ, seine sieben Kinder so gut erziehen zu lassen, daß L. von Baczko in seinem 1787 erschienenen Buche die anerkennenden Worte fand: „der Kaufmann und Bankier Joachim Moses Friedländer hatte seinen Kindern eine so gute Erziehung angedeihen lassen, daß sie bei erlangter Selbständigkeit mit zu den gebildetsten Familien der Stadt gehörten“[xiv].
Vergegenwärtigt man sich, daß das Bildungsideal der Juden in Deutschland bis zur Zeit Mendelssohns im allgemeinen sich in der Kenntnis des Hebräischen, der Bibel und des Talmuds erschöpfte[xv] und daneben höchstens noch ein sekundäres Interesse für Mathematik bestand, alles aber, was sonst den Kreis der Wissenschaft ausfüllt, unbeachtet blieb, daß sogar die „fremde Wissenschaft“, d. h. jedes nicht dem Talmud gewidmete Studium verpönt war[xvi], so wird einem klar, daß dieser Wille sich der allgemeinen Bildung der kulturellen Umwelt anzupassen und diese seinen Kindern zu vermitteln, zu einer Sonderstellung Moses Friedländers führen mußte. Aber trotz dieser Beschäftigung mit der „humanen“ Bildung war das Friedländersche Haus von streng jüdischem Geist erfüllt, und sorgfältig wurden die Zeremonialgesetze beachtete[xvii]. Mit tiefer Dankbarkeit hat David Friedländer später – in einer Krisis seiner inneren Beziehung zum Judentum – dieser seiner Erziehung im Elternhaus gedacht: „Wir können nicht anders als die Wirkung segnen, welche die frühere väterliche Erziehung in späteren Jahren auf uns gehabt hat“[xviii].
In Königsberg beginnt damals bereits etwas von jenem freiheitlichen, von Humanitätsgedanken erfüllten Geist zu wehen, der einige Jahrzehnte später so befruchtend auf die preußischen Reformen wirken wird.
Es ist die Zeit, da zwischen Immanuel Kant und Moses Mendelssohn die Gemeinsamkeit des Denkens bereits ein Verhältnis herzlicher Zuneigung gestiftet hatte und da sich unter den Jüngern Kants bereits zahlreiche Angehörige der jüdischen Gemeinschaft befanden. Als Kant – nach fünfzehnjähriger Privatdozentur – 1770 zum ordentlichen Professor der Philosophie in Königsberg ernannt wird, wählt er den 23jährigen Marcus Herz, seinen Lieblingsschüler, ungeachtet des lauten Widerspruchs einiger Mitglieder des akademischen Senats, zum Respondenten bei seiner Prof. Inaugural Dissertation „De mundi sensibilis forma et principiis“[xix]. Die Unterstützung von Mitgliedern der Familie Friedländer war es gewesen, die es dem Berliner armen Judenjungen Marcus Herz, der bei einem Königsberger Kaufmann seine Lehre durchmachen sollte, ermöglichte, seinem Wissensdrange folgend, Medizin und Philosophie zu studieren, sodaß er bald durch seine schriftstellerischen Arbeiten die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich zog und geistig außerordentlich befruchtend auf seine Königsberger Glaubensgenossen wirkte[xx].
Einer von denen, die ergriffen waren von dem Geist einer neu anbrechenden Epoche, der heraus wollte aus der zeitbedingten Enge der ihn umgebenden Anschauungen, in dem ein tiefes Bildungsstreben, keine [69] Bildungssucht lebte und dem, wie er später in dem Eingange in „die Briefe über die Moral des Handels“ schreibt, „in der Rosenzeit der Jugend die Einbildungskraft ein reizendes Bild von der ganzen Menschheit entwarf“, war David Friedländer. Den klugen, gebildeten und wohlhabenden jungen Mann zieht es nach Berlin zu dem Freunde Lessings, dem Verfasser des überall gelesenen „Phädon“, dem Verteidiger jüdischer Lehre gegenüber Lavater, zu dem Weltweisen, der Mittelpunkt des Berliner geistigen Lebens geworden ist, zu Moses Mendelssohn. In Begleitung von Marcus Herz, der auf seine Veranlassung und durch seine Unterstützung mit ihm geht[xxi] und ihm von da ab bis zu Herz’ Tode (1804) in engster geistiger Zusammenarbeit und innigster Freundschaft verbunden bleibt, kommt David Friedländer 1770 nach Preußens Hauptstadt.
„Die jüdische Kolonie“, so berichtete im Jahre 1772 bei einem Besuche in Berlin der Professor J. Ch. Hennings, „ist beträchtlich[xxii]. Man zählt 400 Familien, die auf 2000 Köpfe gezählt werden. Sie hat den großen Vorzug, daß sie durch den Ruhm ihrer Gelehrten einen noch größeren Glanz erhält wie durch die Schönheit der Damen. Ein Brief von Reimarus führte mich in das Haus des berühmten Mendelssohn ein. … Bei dem Banquier Itzig, der einen Palast bewohnt, sehe ich häufig den gelehrten Friedländer, welcher in der gebildeten Welt sehr geschätzt wird“[xxiii].
Diese kurzen Sätze eines Zeitgenossen zeigen uns einmal die Bedeutung einer bestimmten Schicht der jüdischen Gesellschaft dieser Zeit für Preußens Hauptstadt und die Beachtung, die Friedländer in ihr zu finden beginnt. Durch seine 1772 erfolgte Verheiratung mit Blümchen Itzig, einer der Töchter D. Itzigs, von denen Hennings zu rühmen wußte: „Itzigs Töchter erhöhen die Anmut ihrer Schönheit durch ihre Talente, besonders für Musik, und durch einen fein gebildeten Geist“[xxiv], trat er einerseits in engste verwandtschaftliche Beziehungen zu der reichsten und angesehensten Familie der Juden in Preußen, andrerseits verschafften ihm seine finanziellen Mittel und seine engen Verbindungen mit Königsberg die Möglichkeit, sich wenige Jahre nach seiner Übersiedlung nach Berlin wirtschaftlich selbständig zu machen.
Es ist die Zeit, da Preußens König in der „Etablierung von Manufakturen und Fabriken im Lande“ besonders für Seiden- und Baumwollwaren neue Möglichkeiten für den wirtschaftlichen Aufbau seines Landes sieht, und wo er bereit ist, auch seinen jüdischen Untertanen, die ihre Geldmittel für diese wirtschaftlichen Zwecke zur Verfügung stellen, Konzessionen und Privilegien zu erteilen. So gründet auch David Friedländer 1776 mit dem Kaufmann Gardemin eine Seidenfabrik in der Heiliggeiststraße, die bald ausgezeichnet florierte[xxv]. Gemeinsam [70] mit seinem Bruder Abraham Friedländer, der ihm nach Berlin gefolgt war und 1782 eine „noch nie im Lande gewesene Seidenfabrik für alle Arten von Florett- und Frisolettband auf Stühlen“ errichtete, stellte er die engsten geschäftlichen Verbindungen mit dem Stammhause in Königsberg her, sodaß wir hier in der Verbindung von Großhandel und Produktion bereits eine Art modernen Unternehmertums entstehen sehen[xxvi].
Wenn aber David Friedländer durch seinen Fleiß, seine Tüchtigkeit und Verbindungen bald seine wirtschaftliche Unabhängigkeit gesichert sehen konnte[xxvii], so war er doch weit entfernt, ganz in seinem Beruf aufzugehen. Denn sein eigentliches Interesse gehörte der Wissenschaft, seine Lebenserfüllung sah er in der Ausbildung seiner eigenen Persönlichkeit und in der Verwertung seiner Erfahrungen und Kenntnisse, die er sich aus eigener Kraft angeeignet hatte, im selbstlosen Dienste an der jüdischen Gemeinschaft, zu deren leitenden Persönlichkeiten er bald gehörte. Indem er zum treuesten Schüler Moses Mendelssohns wird, dessen Lehren zu verbreiten und in möglichst weite Kreise zu bringen, er bis an das eigene Lebensende nicht ermüdet, wird er gleichzeitig einer der Hauptträger und eifrigster Propagandist der „Berliner Aufklärung“.
Die deutsche Aufklärung hat ihre eigene geistige Physiognomie. Die stärksten gedanklichen Impulse und ihre eigentliche geistige Kraft sind in dem neuen Ideal der Gläubigkeit begründet und in der neuen Form, die sie in sich verkörpert. Alle geistige Problematik der Aufklärungsepoche ist in die religiösen Probleme eingeschmolzen, und von diesen empfängt sie ihre stärksten Antriebe[xxviii]. Es ist die sog. „natürliche oder Vernunftreligion“, zu der sich die freidenkenden Geister bekennen; sie treten mit besonderem Nachdruck der hauptsächlich von den französischen Schriftstellern begründeten atheistischen Richtung gegenüber[xxix]. Gerade diese charakteristische Haltung der deutschen Aufklärung zur Idee der Religion führte dazu, daß die deutschen Juden, besonders aber die gebildeten jüdischen Kreise in Berlin enthusiastisch diese neue Geistesrichtung ergriffen. Denn die starke religiöse Überzeugung, von der sie getragen war, und die in den einflußreichsten Führern grade der deutschen Aufklärung auch die Forderungen der Offenbarungsreligion durchaus anerkannte, ersparte dem Judentum zunächst die Notwendigkeit, sich mit einer wissenschaftlichen Anfechtung seiner allgemeinen religiösen wie seiner geschichtlichen Grundlage auseinanderzusetzen[xxx]. [71]
Im Mittelpunkt dieser „Berliner Aufklärung“ stand neben Lessing Moses Mendelssohn. Von ihm wird man dasselbe sagen können, was von Kant gesagt worden ist[xxxi]: „Seine Gedanken wie alles, was diese lebensprühende Zeit geschrieben hat, empfingen ihre volle Wirkung erst durch die Macht der Persönlichkeit. Die schlichte Größe dieses ganz von der Idee erfüllten Lebens packt die Gewissen.“ Die Macht der Persönlichkeit war es, die Klarheit des Denkens, die milde verständnisvolle Art im lehrhaften Gespräch, die Güte und Reinheit der Gesinnung, die Mendelssohns Schüler in jene Beziehung zu ihm brachten, die man vielleicht als „geistiges Treueverhältnis“ bezeichnen darf. Gerade in diesem Verhältnis zeigt sich auch, daß die Kreise der Berliner „Aufklärungshelden“ durchaus nicht völlig in ihrem Verstandesenthusiasmus aufgingen. Die stereotype Verbindung von Kopf und Herz war nicht bloß eine Phrase, die Moral und Ästhetik jener Männer beruhte vorzugsweise auf ihrem Interesse für das menschliche Herz[xxxii].
Von dem Tage an, an dem der 21jährige Friedländer in Mendelssohns Kreis tritt, wird er nach seinen eigenen Worten „vierzehn Jahre lang die Glückseligkeit genießen, des Unterrichts und des näheren Umgangs dieses großen Mannes gewürdigt zu werden, täglich wird er bei ihm sein“; er wird ihm im Laufe der Zeit von allen aus seinem Kreise innerlich am nächsten kommen[xxxiii]. Mit ihm wird der Lehrer nach den Sabbath- oder Feiertagsabenden, an denen sich im Mendelssohnschen Hause junge Männer und ältere Freunde versammelten, um sich zu bilden und zu belehren, und an denen über Moral, Sprachkunde, hebräische Literatur, besonders aber über Erziehungs- und Bildungsfragen mit Ruhe und Würde disputiert wurde, am nächsten Tage das Gespräch fortsetzen, wo es tags zuvor abgebrochen worden ist; mit ihm bespricht er in banger Sorge wohl auch die Maßnahmen, die einmal notwendig werden könnten, um die mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden, die sich innerhalb und außerhalb der Glaubensgemeinschaft dem Bildungsstreben und dem Wunsche nach bürgerlicher Freiheit entgegenstellen[xxxiv]; und der dankbare Schüler ergreift jeden Gedanken, jedes Wort des Lehrers und nimmt es als dauernden Besitz in sich auf. Mendelssohns Gedanken, wenn sie auch in ihm und durch ihn teilweise andere Gestalt annehmen als bei dem Weltweisen, sind bestimmend für seine eigene Gedankenwelt und für seine jüdische Arbeit. Mit einer gewissen Bewußtheit, aber auch aus einem Mangel an Originalität vermeidet er eigene Wege. Er ist und will bleiben: der Mann, der durch Wort und Tat die Ideen des Lehrers zu verwirklichen trachtet, der – und hier liegt die Schwäche seiner geistigen Persönlichkeit – noch unbedingt an Mendelssohns Gedanken festhält, da diese bereits in ihrer philosophischen Begründung überholt sind. Gewiß wird man feststellen, daß hier und da Einflüsse im Wandel des Geistes der Zeit auch bei ihm nicht ganz unbeachtet bleiben. Wenn der Lehrer ohne jedes Verständnis für die geschichtlichen Bedingtheiten im Leben der Gemeinschaften ist, so erkennt der Schüler bereits: „Es ist ebenso lehrreich als es seelenerhebend ist, die ganze Menschheit auf ihrem Wege zur Ausbildung zu begleiten und die Fort-[72]schritte zu sehen, die sie von Jahrhundert zu Jahrhundert macht“[xxxv]. Aber im ganzen verführt auch ihn der Rationalismus der Aufklärung dazu, die reale Macht der irrationalen Kräfte, wenn nicht ganz unbeachtet zu lassen, so doch mindestens zu unterschätzen. Das Exlibris, das seine Bücher schmückte, von Chodowieckis Meisterhand gestochen, zeigt in einen Fels gemeißelt seinen Namen, umgeben von der allegorischen Gestalt Merkurs, dem eine Muse auf ihrer Laute ein traumhaft schönes Bild vorzuzaubern scheint. So sah er, der tatkräftige Mann des praktischen Lebens, dessen Verdienste auf den Gebieten, wo zäher Wille und kämpferischer Geist notwendig waren, unbestritten bleiben, die Idee der Religion und mit ihr die Idee des Judentums in einer verschwommenen, unwirklichen Gestalt, die weder den Gesetzen des Verstandes noch den Forderungen des Gemütes und des Herzens genügen konnte. Indem er in der Vernunft die alleinige und lebensbestimmende Grundlage für die Menschheit sehen und werten zu müssen glaubte, „verpaßte er“, nach einem Worte Ismar Elbogens[xxxvi], „seine Zeit“, ahnte er nichts von der geistigen Bewegung einer neu anbrechenden Epoche.
Friedländers publizistische Tätigkeit ist zum größten Teil aktuell, d. h. zeitbestimmt und zeitgebunden. Sie galt, ob es sich um deutsche Übersetzungen aus der Bibel oder von Gebeten, um Erzählungen von Anekdoten aus dem Talmud, um Reden der Erbauung für gebildete Israeliten, um die Briefe über die Moral des Handels, um die Herausgabe der Schriften anderer Autoren oder um das Lesebuch für jüdische Kinder[xxxvii] handelt, immer nur dem einen Gedanken: den geistigen und sittlichen Inhalt des Judentums von den Schlacken zu reinigen, die es im Laufe einer zwangsmäßen Ghettoentwicklung angesetzt hatte, das jüdische Bildungsniveau durch Erziehung der Jugend aus dem Geiste der Bibel zu heben, hebräische Sprache und hebräischen Stil in alter Reinheit und Klarheit wiederherzustellen sowie die deutsche Sprache und das deutsche Geistesgut zum allgemeinen Besitztum der Juden in Deutschland zu machen. Daß der Kampf um Mendelssohns deutsche Bibelübersetzung[xxxviii], der ein Kampf der Geistesenge gegen Geistesfreiheit, ein Kampf der Unbildung gegen die Bildung war, schließlich doch zu ihrer Einführung beim Jugendunterricht führte, war ein Sieg des Zeitgeistes über veraltetes Herkommen und starre Abgeschlossenheit[xxxix].
An diesem Siege hatte Friedländers unermüdliche Arbeit nicht zum wenigsten mitgewirkt. Er ist es, der überall dort, wo Widerstände gegen neuzeitliches Denken und gegen die für notwendig erkannten innerjüdischen Reformen auftauchen, die Abwehr betreibt und organisiert. Er ist es, der auf Veranlassung Mendelssohns am schärfsten den Kampf gegen den Berliner Rabbiner Lewin Hirschel führt, als dieser, angeregt durch die orthodoxen Rabbinen von Lissa und Glogau, den Druck von Wesselys „Worte der Wahrheit und des Friedens“, die Friedländer 1782 ins Deutsche übersetzt, verbieten, ja sogar Wessely aus Berlin [73] ausweisen lassen will[xl]. Er ist die stärkste werbende Kraft in Berlin, der Organisator und gleichzeitig der unermüdliche Mitarbeiter, als der „Sammler,“ (Hameassef), gleichsam das jüdische Parallelstück zu der „Berliner Monatsschrift“, seit 1783 als Sprachrohr der Haskala erscheint, und die geistige Verbindung mit den Freunden im Lande, besonders in Königsberg und Breslau herstellt, die gleich ihm von der Notwendigkeit durchdrungen sind, „dem Judentum und der Judenheit eine neue Form zu geben, in der sie sich an einem entscheidenden Wendepunkte der Zeiten mit den geringsten Opfern erhalten konnten“. Wo die Möglichkeit besteht, aufklärend und belehrend zu wirken, dort ergreift Friedländer das Wort, und, wenn seit 1786 sein Name oft in der Berliner Monatsschrift erscheint, so dienen seine Beiträge dazu, den nichtjüdischen Lesern des Blattes, dem gebildeten Berliner Bürgerpublikum in allgemein verständlicher Form das Verständnis für Talmud und Judentum zu eröffnen.
Nicht Vielgeschäftigkeit, nicht Geltungsdrang, wie wohl behauptet worden ist[xli], ist es, was ihn immer wieder dorthin treibt, wo seine Energie, seine Anregungen und sein praktischer Sinn gebraucht werden, sondern das Bewußtsein der Verantwortung dafür, in entscheidender Zeit an entscheidende Stelle gestellt zu sein, das Gefühl aber auch, nach dem Tode des geliebten Lehrer ein geistiges Kapital als Erbe zu verwalten, das für die Gesamtheit der Juden in Preußen Ertrag bringen soll und muß. Weil er erkennt, daß eine Reform des Judentums an Haupt und Gliedern auf Grund der in ihm wohnenden Entwicklungstendenzen nicht nur möglich, sondern notwendig ist, kann er selbst, der Toleranz als Grundlage für das Zusammenleben der Menschen fordert, seinen konservativen Glaubensgenossen gegenüber intolerant werden; mit scharfem Spott und beißender Ironie wendet er sich gegen die Halbheit in der Erziehung, die glaubt, zwischen der Starrheit des traditionsgebundenen Talmudstudiums und zeitgemäßer allgemeiner Bildung einen bequemen Mittelweg finden zu können[xlii].
Er weiß, daß für die Sicherung der neuen Kulturbestrebungen nichts dringender notwendig ist als die Errichtung einer jüdischen Schule in Berlin, auf welche in einer Zeit, in der Rousseaus Ideen und Basedows praktische Arbeit außerordentlich anregend wirken, die Grundsätze des verbesserten Jugendunterrichtes, wie sie sich in dem Kreise der „Meassfim“ ausgebildet hatten, angewendet werden.
Deswegen widmet er sich mit Feuereifer den Bestrebungen zur Gründung einer jüdischen Freischule, wird ihr eigentlicher Organisator und zugleich ihr tätiger Beaufsichter[xliii]. Fast 20 Jahre hat er gemeinsam mit seinem Schwager Isaak Daniel Itzig als Direktor die Aufsicht über die Anstalt geführt wie über die mit ihr verbundene hebräische Druckerei und Buchhandlung (vgl. unten S. 168 die Miszelle von Moritz Stern), aus der auch wissenschaftliche Bücher in nicht geringer Zahl hervorgingen[xliv]. Als später 1825 die jüdische Freischule, in der auch christliche Kinder unterrichtet wurden, geschlossen wurde, weil an ihre Stelle die Berliner Gemeindeschule trat, konnte sie trotz mancherlei Schwierigkeiten und Wechselfällen auf eine segensreiche Tätigkeit fast eines halben Jahrhunderts zurückblicken. Die jüdische Freischule, deren Gründung und Entwicklung mit dem Namen David Friedländers unlöslich verbunden ist, ist [74] nicht nur Ausgangspunkt für das jüdische Schulwesen Berlins, sondern auch Vorbild für mancherlei andere Gründung, besonders in Österreich, geworden.
Inzwischen drängte die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der preußischen Juden zu einer Lösung der Frage ihrer staatsrechtlichen Stellung. Seitdem der Kriegsrat Chr. W. Dohm 1783 in seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ aus der Lage der Juden den Schluß gezogen hatte, daß der Staat, statt die Juden zu, zwingen schlechte Bürger zu sein, ihnen gestatten müßte, gute zu werden, und daß daher die einschlägigen Gesetze geändert werden müßten, war diese Frage in Wort und Schrift außerordentlich stark diskutiert worden. Dabei spielte die Frage nach der Beziehung zwischen religiöser Verpflichtung und staatlichen Gesetzen eine außerordentlich große Rolle. Selbst in wohlwollenden Kreisen glaubte man, daß die religiösen Vorschriften und Zeremonialgesetze teilweise im Widerspruch zu den staatsbürgerlichen Pflichten ständen. Anderseits war in den preußischen Juden mit dem Zunehmen ihrer wirtschaftlich-sozialen Tätigkeit und mit der wachsenden Bedeutung ihrer kulturell-gesellschaftlichen Stellung das Bewußtsein der inneren Zugehörigkeit zu dem Staate, für den sie lebten und arbeiteten, mächtig emporgestiegen, und sie waren tief durchdrungen von der Notwendigkeit, alle Hemmnisse aus dem Wege zu räumen, die möglicherweise einer absoluten Eingliederung in das Staatsganze entgegenstanden. Kein jüdisches Sonderleben im Staate, sondern Aufgehen im Staate, der Schützer einer jeden auf Vernunft gegründeten Religion sein müßte, das war das Ziel, das David Friedländer wohl ursprünglich vorschwebte, als er sein „Sendschreiben an den Probst Teller“ richtete[xlv], das man später gemeinhin zur Beurteilung seines Charakters benutzen zu müssen geglaubt hat.
Gewiß ist dieses Sendschreiben in seiner Verworrenheit und Unklarheit, in seiner Zwiespältigkeit zwischen Festhalten am Judentum und gleichzeitigem Angebot der Taufe, ohne sich an Dogmen zu binden, ein Ausdruck der Unzulänglichkeit, aber diese Unzulänglichkeit ist zweifellos nicht sittlicher, sondern intellektueller Art. Wenn Teller in seinem Buche „Die Religion der Vollkommneren“ das Christentum als eine Religion des Wissens und der Liebe jedwedem darzubieten schien, dann konstruierte sich David Friedländer auf Grund seines rationalistischen Denkens ein Judentum, das bedenkenlos alle Zeremonialgesetze zum alten Eisen warf, indem er an Stelle einer vielleicht notwendigen Nachprüfung der jüdisch-religiösen Anschauungen und einer Reform des Gottesdienstes und seiner Zeremonien etwas Neues, Ungeschichtliches setzte, das die Vergangenheit negierte und die geschichtliche Kontinuität unterbrach. Nicht nur, daß er das wahre Wesen des Judentums in seinem Ethos, seinem Gesetz und seiner Geschichtsbedingtheit verkannte, war sein Fehler – er glaubte auch mit einem ebenso blutlosen und unlebendigen Christentum rechnen zu können, wie das Judentum, das er sich zurechtgezimmert hatte.
Wie wenig er die Zeitströmung im christlichen Lager erkannte und beachtete, ersieht man aus der Tatsache, daß im gleichen Jahre 1799, in dem sein Sendschreiben erschien, Schleiermacher, von dessen Tätigkeit er bei der Nähe des Berliner geistigen Lebens doch wohl wissen mußte, seine „Reden über die Religion“ veröffentlichte, in denen er den Rationalismus und den Pietismus in der protestantisch-theologischen Auffassung seiner Zeit durch einen neuen feineren und individuelleren Gefühlsinhalt vertiefte[xlvi]. Für Schleiermacher war die Religion weder Metaphysik noch Moral oder eine Mischung von beiden; gegenüber Aufklärung und natürlicher Religion brachte er die geschichtliche Natur des Menschen und der von ihm geschaffenen Kulturformen, die Realität der großen sozial-[75]geschichtlichen Schöpfungen wie Religion, Wissenschaft, Poesie und Staat zur Erkenntnis und entwickelte so im Menschen des 19. Jahrhunderts ein stärkeres Gefühl sozialen, nationalen und kirchlichen Zusammenhangs, eine geschichtlich begründete Achtung vor den großen Gestalten des Glaubens und des Staatslebens[xlvii].
Wenn Teller, der in seinem Buche als Ziel des Christentums das Aufgehen der Religion in die Moral betrachtet und von der „vollkommeneren Religion“ nichts als durchaus praktisches Wissen von Gott, seinen Wohltaten, seinem Willen und allen seinen Veranstaltungen zur Glückseligkeit der Geschöpfe wie des Menschen fordert, vor den Konsequenzen zurückschreckte, als Friedländer mit den Seinen bekenntnislosen Eintritt in das Christentum begehrte, so konnte Schleiermacher von seiner tief innerlichen Gläubigkeit aus Friedländers Absichten nur mit geringschätzender Ironie behandeln. Indem dieser aber selbst Dogmatiker seines Rationalismus geworden war, verkannte er die Idee der Religion und damit die Idee des Judentums und des Christentums, übersah er aber auch die neuen starken religiösen Impulse, die sich als Reaktion gegen den nüchternen und kalten Moral- und Verstandeskult bildeten. Mit Recht konnte Herder wenige Jahre nachher sagen, „daß, als am Ende des 18. Jahrhunderts sich einige jüdische Hausväter einem neu gebildeten aufgeklärten Christentum auf Bedingungen associieren und affilieren wollten, niemand darauf merkte“[xlviii].
Das Sendschreiben an den Probst Teller war mehr als ein Fehlschlag, es war Ausdruck einer Krisis innerhalb des Judentums dieser Zeit oder besser: einer gewissen Schicht innerhalb dieses Judentums; es wirft einen Schatten auf die Gestalt Friedländers, daß er diese Krisis nicht erkannte oder, wenn er sie erkannte, das verkehrteste Mittel wählte, um ihr entgegenzutreten. In um so hellerem Lichte aber erscheint uns seine Persönlichkeit, wenn wir seinen mannhaften von tiefstem Verantwortungsbewußtsein getragenen Kampf für die Gleichberechtigung der Juden in Preußen verfolgen. Von dem Tage an (17. März 1787), an den „die Deputierten der sämtlichen jüdischen Kolonien in den preußischen Staaten“ ihre erste Eingabe an die von Friedrich Wilhelm II. eingesetzte Kommission zur Reform des Judenwesens machten, bis zum Erlaß des Judenemanzipationsedikts von 1812 ist Friedländer die treibende Kraft im Kampf gewesen. Immer wieder, auch nach Rückschlägen, und wenn die erhoffte Reform am Widerstände der Bürokratie zum Erliegen zu kommen drohte, erhebt Friedländer seine Stimme. Die von ihm entworfenen und veröffentlichten „Aktenstücke“ zeigen seine bis ins einzelne gehende Kenntnis der Verhältnisse (wie besonders die sehr interessante jüdische Kriminalstatistik für das Jahr 1789 beweist)[xlix], seine praktische Gewandtheit, seine Uneigennützigkeit und sein nur der Gesamtheit, nicht einzelnen Bevorrechtigten oder gar Familienangehörigen gewidmetes Streben[l].
Seine vielfachen Beziehungen zu führenden Männern der Zeit ermöglichten es ihm, in brieflicher oder persönlicher Aussprache seine Wünsche für die jüdische Gemeinschaft zur Sprache zu bringen. Über zwei Jahrzehnte dauerte dieses Ringen um das Recht, Staatsbürger nicht nur zu heißen, sondern auch zu sein, bis dann durch die Übernahme des Ministeriums durch Hardenberg 1810 die Dinge in schnelleren Fluß kamen. Als er das Steuer der Regierung ergriff, faßte er auf eine Anregung der Deputierten der jüdischen Gemeinden, besonders Friedländers, den Entschluß, an Stelle des alten Schrötterschen Entwurfes einen neuen ausarbeiten zu lassen, der dann später Friedländer zur Begutachtung übermittelt wurde. [76]
Als im März 1812 das endgültige Gesetz den Juden in Preußen die ersehnte Freiheit brachte und sie in den Genuß gleicher bürgerlicher Rechte und Freiheit mit den Christen setzte, da konnte Friedländer mit berechtigtem Stolz von einer Krönung seiner Arbeit sprechen.
Es ist eine dankbare und reizvolle Aufgabe, die aber durch das außerordentlich große Material weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausgeht, Friedländers Stellung im geistigen Leben Berlins zu untersuchen und zu betrachten. Wie fast alle geistig tätigen Persönlichkeiten dieser Zeit steht er im regsten persönlichen Verkehr oder Briefwechsel mit Menschen, die ihn in ihrem Wirken oder in ihrer geistigen Haltung interessieren. Wir sehen ihn mit Männern der Wissenschaft im Briefverkehr, wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, mit denen ihn enge Freundschaft seit den frühesten Jugendjahren der Brüder verband, mit Kant, der an Friedländer, „bekannten jüdischen Negozianten in Berlin“ ein Schreiben mit der Bitte um Empfehlung für einen Schützling richtet. Mit Goethe steht er durch Vermittlung Zelters im Austausch von Münzen und Kunstwerken, und mit der tiefen Freude des kultivierten, kunstliebenden und kunstverständigen Mannes läßt er die lebendigen geistigen Kraftströme der Zeit auf sich wirken, wenn er auch, wie aus dem interessanten Briefwechsel mit C. A. Bötticher hervorgeht, als Mann, der die Schwelle des Greisenalters längst überschritten hat, mit seinem tiefsten Herzen nur in der Vergangenheit, in der Zeit Lessings und des geliebten Mendelssohn lebt und für die Schöpfungen des Weimarer Geheimrats im Gegensatz zu der jüdischen gebildeten Gesellschaft Berlins nicht nur kein Verständnis zeigt, sondern ihn sogar ironisch glossieren zu müssen glaubt[li]. Die Zeit war, so lebendig er sie miterlebte, doch für ihn gleichsam mit der Blüte der Aufklärungsepoche stehen geblieben.
Mancherlei Ehrungen hatte ihm seine unermüdliche Arbeit im allgemeinen Interesse gebracht. Kunth, der alte Freund aus den Tagen, da er als Erzieher der jungen Humboldts ihm diese ins Haus gebracht hatte, berief ihn in das Kuratorium der neugegründeten Berliner Handelsschule[lii], 1810 wurde er von der Regierung auf Grund seiner kaufmännischen Kenntnisse und seines weiten Blickes zum „Assessor des Königl. Manufaktur- und Kommerz-Kollegiums“ ernannt[liii], und die Berliner Bürgerschaft ehrte den Gemeinsinn des tätigen Mannes, indem sie ihn zum Stadtrat der Hauptstadt Berlin wählte.
Als David Friedländer die Augen geschlossen hatte, am 25. Dezember 1834, beklagte die Berliner Judenschaft in dem Nachruf „den Verlust eines Mannes von Geistesschärfe und unerschütterlicher Redlichkeit, der seinen Glaubensgenossen durch belehrende Schriften und segensreiche Tätigkeit als Muster vorangegangen ist“[liv]. „Eine edle Persönlichkeit, fest und milde, tatkräftig und besonnen, seinem Glauben und seinem [77] Ismar Freund. David Friedländer und die politische Emanzipation der Juden in Preußen Vaterlande mit gleicher Liebe zugetan, von idealer Gesinnung und praktischem Verstand, voll künstlerischem und wissenschaftlichem Interesse“, so charakterisiert ihn G. Droysen in dem schönen biographischen Denkmal, das er seinem Vater, dem preußischen Historiker I. G. Droysen, gesetzt hat, der selbst in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Friedländer stand. Wir aber werden ihn nicht einen großen Mann nennen, wir werden ihn einen klugen, tatkräftigen und von hohem Idealismus erfüllten Mann nennen. Er drängte nicht seine Zeit in neue Richtungen, aber er nahm das Gute dieser Zeit in sich auf und suchte es für die Allgemeinheit zu verwerten.
[i] H. v. Treitschke, Deutsche Gesch. im 19. Jahrh., 7. Aufl., 1912, 2. Teil, S. 417. [ii] H. Graetz, Jüd. Gesch., Bd. 11, besonders SS. 130, 160, 1721f. [iii] Zur Kritik an H. Graetz u. seiner historischen Methode, besonders hinsichtlich der Darstellung der Verhältnisse der Juden in Deutschland im 19. Jahrh. vgl. Hermann Cohen, Jüdische Schriften, II, S. 451, S. Baron in MGWJ, 1918, S. 12, Adolf Brüll in ADB, Bd. 49, S. 511. [iv] I. H. Ritter, David Friedländer, sein Leben und Wirken, 1861.[v] Ich hoffe, in einer größeren Arbeit in nicht allzu ferner Zeit ein Gesamtbild David Friedländers und seiner Zeit als Beitrag zur geistesgeschichtlichen Entwicklung der Juden in Preußen an der Wende des 18. u. 19. Jahrhs. geben zu können. [vi] I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, 1, S. 15 ff. [vii] Ritter a. a. O., S. 17. [viii] Für die Geschichte der Familie Friedländer bietet außerordentlich gutes Material E. Friedländer, Das Handlungshaus Joachim Moses Friedländer in Königsberg. Hamburg 1913. [ix] Ein zeitgenössischer Schilderer der Geschichte der aus Salzburg vertriebenen Emigranten erzählt: „Allenthalben, wo Juden wohnten, erwiesen sie diesen Flüchtlingen alle Liebe. In Königsberg legten sie auch Proben ihres Mitleids gegen die Salzburger ab. Unter anderm schenkte ihnen der Jude Moses Lewin zwey Oxthofft Wein, damit sich die Abgematteten auf der Reyse dadurch wiederum erquicken könnten.“ G. G. Göcking, Hofprediger in Berlin, Die vollkommene Emigrationsgeschichte usw. 1737, zitiert bei H. Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg 1867, S. 66. [x] Neuer Nekrolog der Deutschen 1834, Bd. II, S. 1181. [xi] E. Friedländer a. a. O., S. 16. [xii] ebda, S. 20. [xiii] ebda, S.21. Man kann sich einen Begriff von der Ausdehnung des Friedländerschen Unternehmens machen, wenn man hört, daß es im Laufe von fünf Jahren, wie in dem Gesuche angegeben wird, an die „Königl. Zoll-, Accise- und Postkassen 21000 fl. beigetragen habe“. [xiv] L. v. Batzko, Versuch einer Geschichte und Beschreibung von Königsberg 1787, S. 458. Verf. rühmt darin auch „die wertvollen Bücher und Kupferstichsammlungen mit kostbaren Werken über Geschichte, Reisebeschreibungen, schönen Wissenschaften in deutscher, englischer und französischer Sprache sowie seltene hebräische Werke, deren Besitzer, die Brüder David Friedländers, Bernhard, Meyer und Wulf Friedländer, die Benutzung ihrer Kunstschätze jedem Mitbürger aufs zuvorkommendste gewährten“. Jolowicz a.a.O., S. 91–93. [xv] Friedländer, Sendschreiben an den Probst Teller, S. 3. [xvi] Güdemann, Quellen zur Geschichte des Unterrichts usw., S. XXV ff. [xvii] Sendschreiben, S. 1. [xviii] Sendschreiben, S. 14. [xix] Über das Verhältnis Kants zu Mendelssohn vgl. J. Guttmann, Kant und das Judentum. [xx] Jolowicz a.a.O., S. 92. [xxi] J. Fürst, Henriette Herz, S. 93. [xxii] J. Ch. Hennings (1731–1815). Seit 1765 Professor der Moralphilosophie in Jena, wohin er an Stelle des mit ihm gemeinsam vorgeschlagenen Kant berufen worden ist. Vgl. ADB XI, S. 780 ff. [xxiii] L. Geiger, Berlin 1688–1840, I, S. 383. [xxiv] Ein Bildnis von Blümchen Friedländer nach einer Silberstiftzeichnung von Anton Graff bei E. Friedländer a. a. O. [xxv] „Unter den Unternehmern von Seidenmanufakturen sind jetzt ... die Kaufleute Gardemin u. Komp. in der Heilig Geiststr. seit 1776: 65 Stühle. 1500 Stücke für 90000 Rthlr.“ Nikolai, Beschreibung Berlins, II, S. 516. [xxvi] In einer Denkschrift vom 10. und 14. Oktober 1783 machte Friedländer interessante Angaben über die Entwicklung des Berliner Stammhauses in Königsberg und seines Bruders Fabriken: „Diese beyde ansehnliche Etablissements stehen mit dem Königsberger Handlungshause in der genausten Verbindung und befördern gemeinschaftlich den Absatz einländischer Fabrikate außerhalb Landes. In einer Reihe von acht Jahren haben sie abgesetzt für 527 136 Rthlr. Berlin. Seiden, Baumwollwaren und Leinen, Schles. Leinen, Berlin. Wollenwaren und Transitware überhaupt.“ Dazu kam noch der große Umsatz nach außerhalb des Landes an Rauch- und Pelzwaren sowie an Juchten. E. Friedländer a.a.O., S. 35 ff. [xxvii] 1800 zog er sich als reicher Mann ganz vom Geschäft zurück. [xxviii] E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 130 ff. [xxix] J. Auerbach, Zeitschr. f. d. Gesch. d. Jud. in Deutschland 1887, Bd. I, S. 9. [xxx] J. Guttmann a. a. O. S. 48. [xxxi] Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 106. [xxxii] R. Haym, Wilhelm von Humboldt, S. 11. [xxxiii] D. Friedländer, Etwas über Moses Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung (in Berlinische Monatsschrift, 1786, S. 528). [xxxiv] D. Friedländer, Moses Mendelssohn, Fragmente von ihm und über ihn. 1819, S. 31. [xxxv] D. Friedländer, Der Prediger nebst einer vorangeschickten Abhandlung usw. 1788, S. 4. [xxxvi] Geschichte der Juden in Deutschland, S. 189. [xxxvii] „David Friedländer ist durch ein vorzüglich brauchbares Lesebuch für Kinder jüdischer Nation und eine deutsche Übersetzung jüdischer Gebete rühmlichst bekannt.“ Nicolai a.o.O., Bd. III, Anhang 3, S. 7. [xxxviii] H. Graetz, Geschichte, Bd. XI (1900), S. 556 ff. [xxxix] J. Auerbach a.a.O., S. 25. [xl] Graetz, das. XI, S. 561 ff. [xli] Graetz, das., S. 124. [xlii] Vgl. die charakteristischen Briefe Friedländers an Meier Eger in Glogau, veröffentlicht von L. Geiger in Zeitschr. f. d. Gesch. d. Jud. i. Deutschl., Bd. I, 1887, S. 256 ff. [xliii] Ritter a. o. O., S. 38. [xliv] L. Geiger in Zeitschr. f. d. Gesch. d. Jud., Bd. I, S. 86. [xlv] Vgl. den Aufsatz von Ellen Littmann weiter unten S. 92 ff. [xlvi] Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der Erhebung, S. 24. [xlvii] W. Dilthey, Fr. Schleiermacher in ADB, XXXI, S. 450. [xlviii] Herders Werke 1829, Bd. XII, S. 218. [xlix] Vgl. zu Friedländers politischer Tätigkeit weiter unten Ismar Freund, S. 77 ff. [l] L. Geiger, Briefe D. Friedländers (in: Zeitschr. f. d. Gesch. d. Jud., I, 1887, S. 256). [li] L. Geiger, Zur Charakteristik David Friedländers (in: Allg. Ztg. d. Judentums, 58. Jahrgg., S. 220 ff.) [lii] P. Goldschmidt, Das Leben des Staatsrats Kunth, S. 34. [liii] Über diese Behörde s. Acta Borussica (Seidenmanufaktur), Bd. 11, S. 483, Anm. 2, und S. 487. [liv] Ritter a. a. O., S.173 ff.
Zitierhinweis:
Ernst Fraenkel: David Friedländer und seine Zeit, 1917, in: haskala.net. Das online-Lexikon zur jüdischen Aufklärung / hg. von Christoph Schulte, URL<>, letzter Zugriff [Datum, Uhrzeit].