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Lazarus Bendavid - Autobiographie (1806)

Eine digitalisierte Version von Lazarus Bendavids Autobiographie finden Sie auf den Seiten des Göttinger Digitalisierungszentrums.

aus: Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit Ihren Selbstbiographieen. Zweite Sammlung, hrsg. von M.S. Lowe, Berlin 1806, S. 1-72.

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Lazarus Bendavid.

Der Mensch in seinem Leben macht ein Ganzes aus: seine Gedanken sind in der Darstellung von seinen Gefühlen unzertrennbar. Er steht als Mittelpunct in dem weiten Weltall Gottes da, zieht durch seine Gefühle alles Äussere ihm Erreichbare an sich, wirkt durch seine Gedanken auf alles ihm Erreichbare ausser sich hinaus, und erhebt sich gleichsam durch diese geistig-anziehende und abstoßende Kraft zum Menschen. Eins ohne das andere kann nicht bestehen, so wie der Mensch überhaupt nicht ohne beyde. Eben darum aber, weil sich in des Menschen Leben alles mit andern Wesen durchkreuzt, ist es bey seinem Leben so schwer, sich der Wahrheit nach darzustel-[4]len, sich dem Publicum so ganz zu geben, wie man ist, wie man gedacht und gefühlt hat. Der Mensch steht nicht isolirt da: er hat über andere Menschen gedacht, durch andre Menschen gefühlt; aber wer ist berechtigt, auch die Geschichte anderer mit in die seine zu verweben? Und doch ist gerade dieser Theil unsers Lebens der erhabenste für uns selbst, der interessanteste für den Leser. In allem übrigen, was wir von uns erzählen, in allem, was wir auf die todte Natur gewirkt haben, und von ihr auf uns haben einwirken lassen, sprechen wir uns bloß egoistisch aus; durch unser Leiden und Wirken auf Menschen allein erheben wir uns zu Weltbürgern. Hiedurch gewinnt die kleinste, unbedeutendste Erzählung, Geist und Leben, hiedurch wird der Weltbürgersinn in jedem Leser geweckt, fühlt er sich mit dem Erzähler von Einer Natur, rechnet sich zu seiner Gattung und nimmt Theil an seinem Schicksal, wie [5] an dem eines Bruders oder einer Schwester. Das Alltägliche erhält einen poetischen Schwung, und das wahrhaft Erzählte kleidet sich in die interessante Gestalt eines Romans. Aber wie gesagt: so lange der Mensch lebt, ist es ihm verbothen, seiner Geschichte diesen Reiz zu geben: er muß bloß von sich, und mir von sich sprechen. Wie widrig für den, der nicht gerade Lust hat, sich den ganzen Tag in dem Spiegel zu begaffen! Zitternd gehe ich daher an die Geschichte eines Lebens sonder Thaten und sonder Reiz; aber ich soll und muß sie liefern. Nun! So willich sehen, wie ich mich dieses Geschäfts entledige, so gut es möglich ist!

Ich, Lazarus Bendavid, bin den achtzehnten October eintausend siebenhundert zwey und sechzig zu Berlin gebohren. Mein Vater David Lazarus, war aus Braunschweig; meine Mutter Eva Hirsch aus Berlin, und eine Tochter [6] des ersten Sammtfabricanten in den Preuß. Staaten, Hirsch David in Berlin. Meine Eltern hatten beyde eine liberale Erziehung genossen. Sie schrieben beyde sehr richtig jüdisch und deutsch, sprachen beyde gut französisch, und besonders machte mein Vater sehr schöne kaufmännische Aufsätze und besaß eine große Belesenheit in den französischen classischen Schriftstellern. Ihre Religionsbegriffe waren nach einem ihnen eignen System geformt, und wichen ziemlich vortheilhaft von denen der mehrsten Juden damahliger Zeit ab. Tausend und aber tausend kleine Ceremonialgesetze, deren Übertretung von andern Juden für die höchste Sünde gehalten wird, waren in unserm Hause fast sogar dem Nahmen nach nicht gekannt: nie wurde in demselben über andre Religionsverwandte, und was noch mehr ist, nicht einmahl über Abtrünnige vom jüdischen Glauben, das Anathema gesprochen, nie hörte ich etwas von [7] Gespenstergeschichten, noch wurde mir eine begangene Unart mit der Drohung verbothen: Gott wird dich strafen! Ich wurde bloß zu einem sittlichen, ordentlichen Lebenswandel, in welchem mir meine Eltern selbst mit beyspielloser Gewissenhaftigkeit als Muster vorangingen, und zur Verrichtung des Morgen- und Abendgebeths, als einziger Religionsübung, angehalten.

Dieß geschah aber sehr frühzeitig. In meinem dritten Jahre konnte ich schon ziemlich geläufig hebräisch lesen, und wußte eine Menge hebräischer und franzö[si]scher Wörter ins Deutsche zu übersetzen.

Um diese Zeit ereignete sich ein Vorfall mit mir, dessen ich mich nicht selbst erinnere, und den ich nur meiner Mutter nacherzähle. Ich darf ihn nicht verschweigen, denn mir ist er wichtig; wichtig, weil ich sehe, daß der Keim zu meiner ganzen Sinnesart schon damahls vorbanden war; daß sie bis jetzt die nähmliche [8] geblieben ist, und nur durch Zeit und Umstände einige Abänderung erhalten hat. – Meine Kinderfrau nähmlich sollte das Zimmer aufwaschen, und war zu dem Ende barfuß. Dieser nicht ästhetische Anblick war mir unerträglich, und ich bath, sie möchte sich die Strümpfe anziehen. Man sagte mir, es ginge nicht, und ich behauptete: ich könnte keine Kinderfrau ohne Strümpfe leiden; ich weinte, schrie, wurde derb gezüchtigt, in den Keller hinunter getragen, und noch aus dem Keller schrie ich: ich kann keine Kinderfrau ohne Strümpfe leiden! Ich weiß nicht, was ferner erfolgt ist; aber das weiß ich, daß auch noch heute, wo ich das schreibe, und 43 Jahr alt bin, kein körperlicher Schmerz, keine Leiden und keine Versprechungen in mir das unangenehme Gefühl eines ästhetisch oder moralisch-häßlichen Anblicks in einen gleich-gültigen oder gar angenehmen verwandeln können; weiß, daß ich noch jetzt meine [9] Aufmerksamkeit auf ein Frauenzimmer hefte oder von demselben wegwende, oft ohne mir einen andern Grund angeben zu können, als weil mich ihr geschmakvolles oder geschmakloses Fußwerk angezogen oder zurükgestoßen hat. Erzieher! wie sehr würde euch euer Geschäft erleichtert werden, wenn viele Menschen gewissenhaft die frühern Anlagen aufgezeichnet hätten, auf denen sich dann ihr Charakter als vollendetes Gebäude zeigte!

Als ich mein drittes Jahr zurückgelegt hatte, lehrte mich meine Mutter deutsch lesen. Ich saß auf ihrem Schooß, und sie, mit der Stricknadel in der Hand, führte mit derselben meine Aufmerksamkeit von einem Worte zum andern, das ich ihr nachsprechen mußte. Das Buch, worin ich lesen lernte, hieß Joseph Moritz von Brachfeld, und ist mir seitdem nicht wieder zu Gesichte gekommen. Ich kann daher gar nicht sagen, was es enthält; aber ich erinnere mich noch, daß es mir sammt seinen [10] saubern Kupferstichen auf Löschpapier Preis gegeben wurde, und ich den redlichen Gebrauch von dieser Erlaubniß machte, ein Kupfer nach dem andern, so wie die bereits abgelesenen Blätter gemächlich auszureissen. Dieß entsprang aber nicht aus Zerstörungssucht; sondern ich fand es besser, wenn alle Kupfer neben einander wären, und ich sie mit Einem Blicke übersehen könnte. Überhaupt nahm ich mit allem meinem Spielzeuge, dessen ich, als damahls noch einziges Kind meiner Eltern, sehr viel hatte, gewaltige Änderungen vor. Man hatte mir in meiner Drehorgel und der Knarre gezeigt, woher der Schall komme, und nun suchte ich diesen auch in dem Bauche meiner Geige, im Innern meiner zinnernen Uhr, und war äusserst betroffen, als ich sie zerstört und nichts gefunden hatte.

Ein Mensch, den meine Eltern angenommen hatten, mich in dem hebräischen Text der Bibel zu unterrichten, lehrte mich [11] nach meiner Genesung von den Kinderblattern, im Winter 1766, das gewöhnliche und zugleich das sogenannte Finger-Einmahleins, wodurch die Producte über fünf auf eine sehr sinnreiche, und streng erweisbare Art, an den Fingern anschaulich gemacht werden.

In meinem sechsten Jahre wurde ich zu einem Polen in eine thalmudische Schule gethan. Ich kann nicht ohne Abscheu an diesen Unmenschen denken, der mit einer Wonne der Hölle die 4 oder 5 unschuldigen Wesen, die bey ihm in die Schule gingen, zerfleischte: seine meistens ganz unverdienten Züchtigungen, waren künstlich ersonnene Marter, die wir erleiden, und, unter Androhung härterer Strafe, unsern Eltern verschweigen mußten. Das geschah denn auch wirklich, so lange es ging; aber als ich einst so zerprügelt nach Hause kam, daß ich durchaus nicht sitzen konnte, stellte meine gute Mutter eine Ocular-Inspection an, [12] die ihr eine Ohnmacht vor Schrecken zuzog, und mir die Befreiung von diesem Wüthrich verschaffte.

Bis zu meinem achten Jahre blieb ich nun, weil meine Eltern sich mit der Wahl eines neuen Lehrers nicht übereilen wollten, im väterlichen, oder vielmehr im großväterlichen Hause, wo ich von einem in demselben befindlichen alten gutmüthigen Murrkopf aus Ostrode einige Anweisung erhielt. Mein Großvater, selbst ein sehr unterrichteter Mann, beschäftigte sich mit seinen Enkeln ungemein gern. Von ihm wurden wir in der Bibel unterrichtet, von ihm zum Klettern, Trägem schwerer Lasten und sonst gymnastischen Übungen angehalten. In dem Gärtchen hinter seinem Hause versammelte sich die ganze Jugend der Nachbarschaft; es wurden Schlachten geliefert, und ich nebst meinem Vetter Jonas, als die stärksten unter allen, zu Heerführern vom Großvater, ernannt. Einst bekamen wir von [13] ihm eine sammtene Mütze zur Belohnung, weil wir ein kleines Ding von Cousine, das er nicht leiden konnte, durch List in ein Hundehaus gelockt, dieses vernagelt, und im Triumph Herumgetragen hatten. Als Heerführer mußten wir für die Waffen unserer Mannschaft sorgen, und alle Besenstiele der ganzen Nachbarschaft wurden zusammengeschleppt, um daraus die Gewehre und Degen für unsre Soldaten zu schnitzen. Wir verfertigten Patrontaschen von schwarzem Papier, und Grenadiermützen von rothem mit Schilden von Silberpapier, bauten Schlitten, und erlangten dadurch in mechanischen Arbeiten der Art eine große Fertigkeit. Da die mehrsten meiner Anverwandten mütterlicher Seite Fabricanten waren, lief ich mit den Kindern bey den Meistern und Stuhlarbeitern herum, wenn etwas zu bestellen war, sah ihre Werkstätte, ihre Stühle, und versuchte oft den Schützen selbst zu führen. Die Meister, denen mei-[14]ne Wißbegierde gefiel, zeigten mir die Einrichtung ihrer Stühle gern; und so erwarb ich mir frühzeitig nicht nur einige Waaren- und Fabrications- sondern auch technologische Kenntniß.

Meinem Vater behagte das nicht ganz, und ich wurde daher wieder in eine förmliche thalmudische Schule, zu einem Polen, Nahmens Jacob gethan. Edler Kinderfreund, ruhig schlummere deine Asche! Du hattest deine neun Zöglinge, wie deine Kinder geliebt und behandelt, und dankbar erinnere ich mich der drey Jahre, in denen ich deinen lehrreichen Unterricht genossen habe. Mit welcher Menschenkenntniß dieser Mann zu Werke ging, hievon nur ein Zug. Als er einst das Logis veränderte, ließ er uns den ersten Vormittag nach dem Beziehen der neuen Schulstube ganz müßig sitzen. Nachmittags redete er uns an, und fragte, ob wir nun auch wüßten, wie das Zimmer aussähe. Sehet, Kinder? sagte er, hier ist [15] ein gelber Fleck in der Wand, dort eine grüne Kachel in dem schwarzen Ofen, hier eine runde Scheibe zwischen den viereckigen u. s. w.; alles das hättet ihr heute Vormittag mit Muße betrachten sollen, damit es euch in eurer Aufmerksamkeit nicht störe. Habt ihr es nicht gethan, so thut es noch jetzt; und nun, Spaß bey Seite, Ernst hervor! Hiemit begann der Unterricht wie gewöhnlich mit aller möglichen Emsigkeit wieder aufs neue. Ausser dem Thalmud und der Bibel lernten wir, was sehr ungewöhnlich in jüdischen Schulen ist, von ihm die hebräische Grammatik und die Logik des Aristoteles nach Ma[i]momides. Selbst an Tagen, wo keine Schule gehalten wird, behielt er uns unter seiner Aufsicht, indem er mit uns spatzieren ging und an unsern Spielen Theil nahm. Doch wurde nicht viel gespielt, weil wir eine ganz andre Unterhaltung hatten. Mein Vater nähmlich besaß eine ziemliche Sammlung von Büchern [16] der heterogensten Art, von denen ich eins nach dem andern, wie es mir in die Hände fiel, ohne Auswahl und Anleitung las, und mir Stellen, die mir gefielen, ausschrieb. (Man hatte mir im väterlichen Hause Privatunterricht im Schreiben, Rechnen und Buchhalten ertheilen lassen.) Meine Schulkameraden, die von meiner Belesenheit wußten, verlangten, daß ich ihnen etwas davon erzählen sollte. Ich erzählte ihnen daher eine von mir selbst erdachte Lebensgeschichte eines Mannes, dem ich den Nahmen Pittum gab, und sie fanden so viel Vergnügen daran, daß wir uns früher als nöthig war, in der Schule versammelten. Hier sowohl als auf unsern Spaziergängen mußte ich erzählen und sie hörten zu. Ich würde diese Anekdote vielleicht vergessen haben, wenn mich der zu frühe verstorbene Prof. Löwe zu Breslau, der einer meiner Schulkameraden war, bey seinem letzten Besuch in Berlin nicht wieder darauf [17] aufmerksam gemacht hätte. Doch wurden Kinderstreiche genug vorgenommen. Gewöhnlich versteckten wir uns einzeln in den Häusern auf dem neuen Markt, wo das Schulhaus war, und wenn dann ein Kind aus einer andern Schule vor einem dieser Häuser vorbey ging, wurde von dem Versteckten das Loosungswort: ein Braten! gerufen; wir liefen alle zusammen, und neckten den Fremdling, prügelten ihn auch mitunter mit den hölzernen Pritschen, die wir bey uns hatten. Alles, was wir vornahmen, geschah in Corpore, weil wir uns wirklich durch die väterliche Sorgfalt des Lehrers wie Brüder betrachteten.

Eine dieser Corporationen kam mir aber theuer zu stehen. An einem Nachmittag, wo der Lehrer noch nicht zu Hause war, spielten wir auf dem Markt Pferde: einer faßte den andern beym Rock, und nun sollte es so die steile Treppe hinauf getrabt werden. Unser Kutscher fiel [18] zurück, und zog die Vordern alle mit sich die Treppe herab. Die übrigen kamen mehr oder minder beschädigt davon; ich aber hatte das Unglück, das linke Bein zu zerbrechen. Als ich nach Hause gebracht wurde, war es meiner Mutter, welche die Heftigkeit meines Vaters, und sein Mißbehagen an jenen Jungenstreichen kannte, lieb, daß er nicht gegenwärtig war, und sie entschloß sich, ihm den ganzen Vorfall zu verheimlichen. Ausser einer einzigen Schwester meiner Mutter, und dem Chirurgus Larmann, glaubte jedermann, ich hätte die Masern, und mein Vater hat von dem Beinbruch in seinem Leben nichts erfahren. Nach sechs Wochen war ich wieder hergestellt, wiewohl mir doch eine Schwäche in dem beschädigten Fuß geblieben ist, die ich jetzt vorzüglich fühle.

Die Freude meines guten Lehrers, als ich wieder in die Schule kam, war grenzenlos: es wurde ein ordentliches Fest von [19] ihm veranstaltet, und was mehr ist, er rückte mit den übrigen Schülern im Unterricht nicht weiter, sondern wiederholte, was sie in den sechs Wochen gelernt hatten, damit ich nichts versäumt haben sollte.

Als er nach Verlauf von drey Jahren nach seiner Heimath zurückkehrte, nahm er aufs zärtlichste Abschied von uns, und hielt uns eine Rede, in dem Geschmack der des Erzvaters Jacob an seine Kinder, worin er uns unserm ihm sehr wohl bekannten Charakter, unser künftiges Schicksal voraussagte. Auch nicht in einem von uns hat der Menschenkenner sich geirrt: die Hauptzüge einer Voraussagung haben pünctlich zugetroffen. So gewiß ist es, daß der einsichtsvolle Lehrer in seinem Zögling dessen Schicksal als Mann erblicken, und mit Bestimmtheit voraus sagen kann! Die Zöglinge, die sich nach der Abreise ihres Lehrers, in verschiedene andere Schulen vertheilt sahen, wollten nun auch das, was sie [20] an Gemeingut, besaßen, vertheilt wissen. Bey den Gewehren, Taschen u. dgl. hatte die Theilung keine Schwierigkeit; aber wie mit der Trommel? Es wurde daher von einem von uns in Vorschlag gebracht, und von allen freudig angenommen: sie dem Holze, dem Pergament u. s. w. nach, bis auf die Trommelstöcke sogar in völlig gleiche Stücke zu zerschneiden, von denen jeder einen Theil erhalten, und diesen als Bund der Freundschaft aufbewahren soll. Lange habe ich diese heiligen Reliquien mit Ehrfurcht aufbewahrt, bis trübere Tage mich meiner Jugendjahre und der Erinnerung an dieselbe vergessen machten! Zeit der jugendlichen Freude, der Innigkeit und der Freundschaft, du bist für den Menschen nur Einmahl auf der Welt.

Aus der Schule meines ehrlichen Lehrers Jacob trat ich als ziemlich guter Thalmudist heraus. Ich wußte ganze Abhandlungen des Thalmuds auswendig, und ver-[21]stand sie auf wirkliche Fälle anzuwenden. Ausserdem hatte ich Fortschritte in der Bibel nach dem hebräischen Texte und der chaldäischen Paraphrase des Pseudo-Onkeles, in der Grammatik und Logik gemacht: und da mir in dem Hause meines Großvaters eine syrische und arabische Grammatik in die Hände gefällen war, verschaffte ich mir, durch die Verwandschaft dieser Sprachen mit dem Hebräischen und Chaldäischen, auch einige Kenntniß in diesen. Überdieß hatten mir meine Eltern einen französischen Sprachmeister gehalten, der nicht nur seine Sprache philosophisch kannte, sondern auch mit den lateinischen Classikern vertraut war. Hr. Naudé, so hieß er, war uneigennützig, und ungeachtet er nur einen Thales für 24 Stunden erhielt, erboth er sich doch freiwillig, mir, ohne daß meine Eltern etwas davon wußten, statt des Französischen einige Stunden im Lateinischen zu geben.

Ich hatte, wie schon gesagt, alles bunt [22] durch einander gelesen, was mir vorkam: den Abulfeda und den Koran, das neue Testament und Rousseau’s Emil, Voltaires Pücelle und Therèse philosophe, die deutschen Dichter und Wolfs Metaphysik, kabalistische und medezinische Bücher. Hr. Naudé hatte dagegen im ganzen nichts einzuwenden; aber er lehrte mich meine Zeit eintheilen, und Nutzen von meiner Lectüre ziehen. Mehr aber als das verdanke ich ihm die Sorgfalt, die er auf die Verbesserung meines deutschen Styls verwendete, und den Sporn, den er mir gab, deutsche Aufsätze auszuarbeiten.

Ich wurde nun abermahls in die Schule eines Polen geschickt, von dem ich weder Gutes noch Böses zu sagen weiß, weil ich bey ihm, da ich keine Fortschritte machte, nur ein halbes Jahr blieb, und zu dem Hauslehrer eines reichen hiesigen Juden in die Schule gethan wurde. Die drey Kinder seines Brotherrn, mein Vetter Jonas und [23] ich waren seine einzigen Schüler; da ich aber den andern weit überlegen war, und der Lehrer das wöchentliche Pensum, das ich gewöhnlich schon Montags begriffen hatte, nicht für mich allein ausdehnen wollte, damit sein Brotherr diese Begünstigung nicht als eine Zurücksetzung seiner Söhne betrachten möchte: so kam er auf einen eignen Gedanken. Ich hatte, wie schon gesagt, in dem Hause meines Großvaters Bekanntschaft mit Fabricanten- und Kaufleuten gemacht; die noch fortdauerte. Dieß ergriff mein Lehrer, und forderte mich auf, bey diesen Leuten Waaren in Commission zu nehmen, damit in der Stadt an den Tagen, wo ich nichts in der Schule zu thun hätte, zu hausiren, und den Gewinn mit ihm zu theilen. Der Gedanke gefiel mir, weil er mich als selbstständig darstellte und ein Kaufmann damahls das höchste Ideal war, das ich kannte und das ich zu erreichen strebte. Die Sache wurde bald ins Werk [24] gesetzt, und in kurzer Zeit hatte ich, vorzüglich da ich ziemlich geläufig französisch sprach, viele Kunden bey der franz. Kolonie, wodurch ich über 90 Thaler gewann; die ich mit meinem Lehrer theilte. Meine Eltern wußten nichts davon, und das Hausiren nahm ein possirliches Ende.

Einen Morgen gehe ich, ein 12jähriger kleiner Knabe von sehr finsterm Ansehen, mit meinem großen Packen unter dem Arm und der Elle in der Hand durch die alte Leipziger Straße. Einem dort wohnenden Bäcker mußte dieß Ensemble aufgefallen seyn, und er rief mich hinein. Er fragte nach Manchester, und da ich wirklich sehr guten hatte, wollte er wissen, wie lange ein Paar Hosen von diesem Zeuge wohl halten könnten. Ich. erwiederte, daß dieß von dem Umstand abhinge, ob er fleißig ritte, oder nicht; im letzten Fälle würden sie wohl vier Jahre halten. Was, rief er, nur vier Jahre! Eine manchesterne Hose muß [25] ewig halten. Das empörte mich, den Metaphysiker, und ich demonstrirte ihm nach Wolf, daß alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben müsse, und nichts in der Welt ewig sey. Mein Bäcker hörte das mit dem größten Phlegma an, packte mit eben diesem Phlegma die vier Zipfel meines Tuchs, worin meine Waaren lagen, zusammen, schob mich mit dem Ausdruck: Possen! zur Thüre hinaus, und warf mir meine Waaren in der größten Unordnung nach. Ich vermag es nicht den Eindruck zu beschreiben, den diese Beschimpfung auf mich gemacht hat. Schluchzend packte ich alles zusammen; schluchzend durchlief ich die Straßen, und schluchzend kam ich zu meinem Lehrer, und schwor bey allem was heilig ist, daß ich mich nie wieder einer solchen Beschimpfung aussetzen, nie wieder hausiren gehen würde. Des erhaltenen Antheils an dem Gewinne wegen, wollte er mich von diesem Vorsatz abbringen. An-[26]fänglich schlug er den Weg der Güte ein, und als dieser nichts fruchtete, wurde ich derb durchgeprügelt. Allein ich blieb bey meinem Vorsatz, und um mich seinen fernern Schlägen zu entziehen, entdeckte ich die ganze Sache meiner Mutter, die es bey dem Vater dahin zu bringen wußte, daß ich von dieser Schule in eine andere, zu einem Manne aus Mähren geschickt wurde.

Hier rückte ich nun an den Zeitpunct heran, wo nach jüdischem Glauben der Mensch für seine Thaten selbst verantwortlich und als Mitglied der Gemeinde betrachtet wird, und hier fing ich an über Religion nachzudenken. Es lag, durch die mancherley Schriften, die ich gelesen hatte, ein sehr verworrnes Gemische von Religionsbegriffen in meinem Kopfe, und da sie mir niemand ordnete, mußte ich sie selbst aufs Reine bringen. Die jüdische Religion, mit allem, was sie Strenges hat, schien mir, als die ältere und die in der ich geboren [27] bin, die wahrste; und nun war mein Entschluß gefaßt: weder rechts noch links von dem Wege abzuweichen, den der Herr zu wandeln befohlen. Mit der wahrsten, herzerhebenden Innbrunst verrichtete ich meine Gebethe, und mit der Hingebung eines Schwärmers beobachtete ich streng die eingetretenen Fasten. Ich stand alle Morgen um vier Uhr auf, um das Gebeth in den dem Versöhnungsfeste vorhergehenden Tagen, in der großen Synagoge zu verrichten, weil die kleinern Synagogen meiner Andacht nicht genügten und die versammelte, bethende Menge mein jugendliches Herz besser zum Schöpfer zu erheben schien. Meine Eltern legten meinen Andachtsübungen zwar kein Hinderniß in den Weg, thaten aber denselben nicht den geringsten Vorschub: nie habe ich von ihnen ein Wort des Lobes oder des Beyfalls darüber vernommen.

Ich besuchte zwar täglich die Schule, [28] war aber für jetzt von den gewöhnlichen Lehrstunden befreiet, weil ich mich zu einer großen Abhandlung vorbereitete, die ich einstudiren und als Rede am Tage meiner Einsegnung, des zurückgelegten dreyzehnten Jahres, halten mußte. Mein vierzehnter Geburtstag kam heran, und ich wurde ganz neu gekleidet. Das kirchliche Ceremoniel und die Besuche der Gratulanten hatten mich sehr ermüdet, und weil ich am Abend, wo ein großer Schmaus seyn, und ich als Redner auftreten sollte, gern munter bleiben wollte, legte ich mich Nachmittags schlafen. Bey meinem Erwachen fand ich mein neues Kleid, die blaue seidne Weste, das neue Oberhemde und den neuen Hut nicht. Alles war gestohlen. Ich hatte den Kopf zu voll mit meiner Rede, als daß mich dieser Verlust sogleich hätte kümmern sollen: wie denn dergleichen Dinge auch noch jetzt gar keinen Einfluß auf mich haben; aber die Sache nahm doch nachher eine eigne Wendung.

Ich hatte meine Rede zur großen Zufriedenheit meiner Zuhörer wohl schon über eine halbe Stunde, und, der häufigen an mich gerichteten Fragen um nähere Erklärung ungeachtet, ohne mich irre machen zu lassen, gehalten. Als aber über einen behaupteten Satz unter den Anwesenden ein Streit entstand, woran ich keinen Theil nahm – eine Sache, die unter den Juden bey dergleichen Reden üblich ist – als ich daher müßig saß, fiel mir mein gestohlnes Kleid ein, und verwirrte mich dergestalt, daß ich mich schlechterdings nicht besinnen konnte, wo ich in meiner Rede geblieben war. Glücklicherweise zog sich jener Streit in die Länge, und da die Gäste lieber zu Tische gehen, als noch ferner hören wollten, verlangten sie, daß ich meine Rede nicht weiter fortsetzen sollte. Wie willkommen mir dieß auch war, so sehr spielte ich doch den Heuchler und verlangte weiter zu sprechen: ich wurde überstimmt, und kam ohne die [30] Beschämung davon; der ich gewiß ausgesetzt gewesen wäre, wenn man mich beym Wort gehalten hätte. Bey Tische mahlte sich mir meine begangene Heucheley mit den schwärzesten Farben aus, und ergriff mich, als hätte ich eine Mordthat begangen. Mein Großvater hatte mir den höchsten Abscheu vor dem Lügen eingeflößt: das Lügen an sich, sagte er, ist ein Laster; aber nie kann auch ein Laster begangen und vor der Welt versteckt werden, wenn man nicht lügt. Wer daher sich der Lügen enthält, kann nicht lasterhaft werden. Diese Vorschrift meines Großvaters, die Entheiligung meiner Frömmigkeit, die ich mir durch die Lüge zugezogen hatte und der Wahn, daß mir meine Kleider, als eine von Gott wegen der nachher gesagten Lüge verhängte Strafe, gestohlen worden wären, bestürmten mich schrecklich; ich konnte nicht essen, und eine Thräne schlug die andre. Die Anwesenden schrieben, weil es schon spät war, diese ihnen [31] auffallende Erscheinung auf Rechnung der Müdigkeit, und man brachte mich zu Bette. Allein meine kluge Mutter sahe weiter, und fragte mich den andern Morgen nach dem Grund meiner Thränen. Ich gestand ihr denselben mit weinenden Augen und mit der Zerknirschung eines Büßenden. Siel beruhigte mich auf eine Art, wie das nur eine gute Mutter kann, und fo[r]derte von mir das Versprechen, mich künftig der Lüge zu enthalten. Gute Mutter! ich habe es dir feierlich gegeben; und heiliger Schatten derselben! ich habe dir Wort gehalten! Seit dieser Zeit weiß ich mich keiner Lüge von Bedeutung anzuklagen.

Da Hr. Naudé Berlin verlassen hatte, setzte ich meine lateinischen Lehrstunden bey dem jetzigen Professor Herrn Schlosser fort, mit dem ich die Dichter las, und nebenher suchte ich für mich noch einige neuere Sprachen zu erlernen. Hingegen wurde mein Unterricht in der thalmudischen Schu-[32]le laxer, und ich verband mich, mit Bewilligung meiner. Eltern, mit einem meiner Anverwandten, der eine eigne Handlung errichtete, zur Führung seiner Bücher und Besorgung der übrigen Geschäfte, für eine Tautième vom Gewinn. Allein ich blieb nicht lange bey ihm, sondern, da mir gewisse bey dem Handelsstande unvermeidliche Dinge nicht gefielen, trennte ich mich nach Verlauf von einem Jahre von ihm. Ich hatte einige hundert Thaler in der Zeit gewonnen.

Hier drängen sich nun die Begebenheiten, und da sie fast gleichzeitig sind, weiß ich nicht recht wo ich anfangen soll. Weil aber die Religion, diese Vermittlerin der mechanischen Naturnothwendigkeit mit dem Reiche der Freiheit, des Menschen mit der Gottheit, das wichtigste für den Menschen ist, so mag die Veränderung meiner religiösen Gesinnung zuerst erzählt werden. Bis zu meinem vierzehnten Jahre hing ich, meinem Vorsatze getreu, der jüdischen Religion [33] mit aller nur möglichen Schwärmerey an. Nun bekam ich, zum bessern Verständniß der lateinischen Dichter, Bannier’s und Damm’s Götterlehre zu lesen, und wie ein Blitzstrahl durchzuckte die Zweifelssucht mein Gemüth. Die Propheten der Christen und der Muselmanen konnten meinen Glauben nicht erschüttern: sie waren später als die des alten Testaments, das sich gegen jede spätere Prophezeihung genug verwahrt hat. Aber daß die Geschichte uns von den Griechen und Römern auch Orakel aufbewahrt hat, daß man diese, wenn man nicht alle Glaubwürdigkeit der Geschichte verwerfen will, doch nicht wie Lügen behandeln darf, daß daher für den mosaischen Glauben kein besserer Gewährsmann vorhanden ist, als für den der Heiden: – das war es, was mich bestürmte, und meine Ruhe störte. In mich gekehrt und ohne mich jemand anzuvertrauen, dachte ich Tag und Nacht über diese Frage nach, widerlegte in schriftlichen [34] Aufsätzen die Heiden, verwarf dann wieder meine Widerlegung, und kam endlich nach einem halben Jahre Hin- und Herschwankens zu dem Resultat:

Eure Ringe

Sind alle vier nicht echt. Der echte Ring

Vermuthlich ging verloren. Den Verlust

Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Väter

Die vier für einen machen.

Nathan der Weise Aufz. 3. Auftr. 7.

Von diesem Augenblicke an war mein Religionssystem für immer entschieden: es stand den Resultaten nach, wenn auch anders begründet, fest, wie es noch heute steht. Mit Aufgebung alles Positiven, behielt ich den Glauben an Gott, an Unsterblichkeit und eine beßre Zukunft; und nicht nach und nach, sondern mit einmahl hörten meine jüdischen Andachtsübungen auf, beobachtete ich kein einziges Ceremonialgesetz mehr, besuchte ich die Synagoge nur dann, wenn meine Eltern es verlangten, und ging in christliche Kirchen, um mein Ohr an dem herz-[35]erhebenden der Orgel und meinen Geist an den Reden der Prediger zu weiden. Gebethet, im eigentlichen Sinne des Worts, nach vorgeschriebenen Formeln, habe ich, mit der Ausnahme, die ich später erzählen werde, seit dem nie; aber wenn mein Herz von einer frohen oder kummervollen Empfindung überströmt, wenn die Welt mit allem, was sie in sich faßt, für meine Freude oder meinen Kummer zu eng ist, dann, Allvater! erhebe ich mich zu Dir ausser der Welt, ergieße mich vor Dir in inniger, kindlicher Herzlichkeit, innigem kindlichen Vertrauen, und fühle meine Freude erhöhet, meinen Kummer gemildert! Das Gute, das dem Menschen widerfahrt, rührt von Dir her, da der Mensch mit aller Vorsicht, die Umstände nicht in seiner Gewalt hat; das Böse ist des Menschen Schuld selbst, da er immer, wenn er aufrichtig seyn will, es in etwas versehen hat, das ihm jene üblen Folgen zuzog. Du, Allvater! willst das Gute! [36]

Von Geographie und Mathematik hatte ich noch nicht die mindeste Kenntniß, weil alles was ich wußte, mir durch den Zufall geworden war, und dieser es wollte, daß mir keine Bücher der Art zu Gesichte gekommen waren. Jetzt machte ich aber mit einem jungen Menschen, Nahmens Marcus aus Hamburg Bekanntschaft, der Mathematik bey einem hiesigen Professor hörte. Als ich ihn einen Morgen sehr traurig fand, und er mir als Ursache dazu angab, daß er einen Satz nicht begreifen konnte, und vom Professor darüber Verweise erhalten hätte, bath ich ihn, mir das Buch zu geben, weil ich doch sehen wollte, ob ich den Satz nicht verstehen würde. Es war der dritte Satz im 6ten Buche des Euklids: und natürlich, da ich das Vorhergehende nicht wußte, war alles das böhmisch für mich. Das verdroß mich, und ich suchte mir die ersten sechs Bücher des zu Wien herausgekommenen deutschredenden Euklids in Quarto – Lo-[37]renzens Übersetzung war damahls noch nicht erschienen – zu verschalten, studirte sie vom Anfange bis zu Ende durch, und brachte es in kurzer Zeit so weit, daß ich nicht nur die Sätze demonstriren und die Aufgaben construiren konnte, sondern auch die Nummer eines jeden Satzes genau anzugeben wußte, weil ich glaubte, das gehöre auch dazu. Bey meinen Arbeiten bediente ich mich eines elenden einfachen Zirkels, den ich noch besitze, und da er keine Ansatzstücke hatte, goß ich mir von Zinn die nöthigen Ansätze.

Marcus nahm mich einen Tag zu seinem Professor mit. Als ich bey diesem im Examen bestand, und er erfuhr, daß ich keinen Lehrer gehabt hatte, führte er mich bey Lambert ein. Dieser nahm mich sehr gütig auf, gab mir Bücher zur fernern Fortsetzung meiner mathematischen Studien, und erlaubte mir, wenn mir eine Schwierigkeit aufstieße, mich an Schulze, den nachmahli-[38]gen Oberbaurath, der viel in seinem Hause war, und auch zuweilen an ihn selbst zu wenden. Ich trieb daher die Mathematik mit allem nur möglichen Eifer; und, ungeachtet durch Lamberts bald darauf erfolgten Tod mir seine Bibliothek nicht mehr zu Gebothe stand, litt ich doch keinen Mangel an Büchern und Instrumenten, weil ich unterdeß mit Mendelssohn bekannt wurde, der die auserlesensten mathematischen Werke besaß und sie mir gern lieh: so wie Schulze die Gefälligkeit hatte, mir mit Instrumenten auszuhelfen. Mit der Mathematik wurde Geographie, Zeichnen von Karten, Grundrissen und Façaden verbunden.

Ich würde mich bestimmt der Mathematik ausschließend gewidmet haben, wenn sich nicht zu gleicher Zeit noch ein Umstand ereignet hätte, der meinem Geiste wieder eine andre Richtung gab. Ich kaufte mir ein Buch in einem Buchladen, und fand in demselben einen Primaner vom Joachims-[39]thalschen Gymnasium. Es kam auf die lateinische Chrestomathie von König die Rede. Ich sagte: von König; der Ladendiener behauptete aber, vermuthlich weil er nicht wußte, daß dieß ein eigner Nahme ist, es müßte: vom Könige heißen. Das gab zu grammatikalischen Erörterungen Anlaß, wodurch der Primaner sah, daß ich im Philosophischen der Sprache überhaupt kein ganzer Fremdling wäre. Er ersuchte mich daher um meine nähere Bekanntschaft, und verschaffte mir bald die seines ehrwürdigen Vaters, des Predigers, und seiner liebenswürdigen Schwester C... Der alte Mann erschrack, als er die Unordnung hörte, mit der ich bisher studirt hatte; noch mehr aber, als er mein religiöses Glaubensbekenntniß vernahm, aus dem ich ihm kein Hehl machte. Ohne im mindesten die Absicht zu haben, mich zur christlichen Religion zu bekehren, lag ihm bloß die Regulirung meiner Studien und der Gedanke am Herzen, [40] mich zu etwas Positiven in der Religion zurückzuführen. Zu dem Ende entwarf er mir einen förmlichen Studienplan, und gab mir zur Erreichung des andern Zweckes die Werke des Cartesius, Leibnitz; Locke, Plato u. s. w. nach und nach mit nach Hanse, um mir dadurch zu beweisen, daß die Philosophen in ihren Meinungen uneins wären, und man zum Glauben seine Zuflucht nehmen müßte. Auch gab er mir wöchentlich einige Stunden Unterricht in der griechischen Sprache, und brachte mich so weit, daß ich die Ilias mit ihm lesen konnte. In Betracht des Studienplans, habe ich den von ihm entworfenen genau, und mit Vortheil befolgt; allein seine Absicht zur Umschaffung meiner religiösen Gesinnungen wurde nicht erreicht: alles, was ich las, bestärkte mich vielmehr in denselben.

Habe ich dem Vater viel zu verdanken, so hat sich die Tochter in meinem Herzen ein Monument errichtet, das keine Zeit und [41] kein Schicksal je aus demselben zerstören wird. Sie, nur ein Jahr älter als ich, schön, zart, gebildet und sittsam, lehrte mich fühlen, öfnete mein Auge für die Schönheit der Natur und der Kunst, und lehrte mich die Anfangsgründe der Musik auf dem Fortepiano, das sie meisterhaft spielte. Bis spät in die Nacht blieb ich, mit Vorwissen des Vaters und in Gegenwart des Bruders, bey ihr, wir lasen die deutschen und französischen Dichter, ich mußte ihr auf dem Clavier vorspielen, und sie setzte mir die Finger. Edles Wesen! wenn ich dich, wie man mir sagte, vor fünf Jahren wieder gesehen und nicht erkannt haben soll, verzeihe! vergessen habe ich dich nicht. Du warest das Ideal, das ich bey meiner nachmahligen Bekanntschaft mit vielen deines Geschlechts gesucht, und nicht gefunden habe! – Meine Stunden wurden regelmäßig eingetheilt, und von Morgens um 5 Uhr bis spät am Abend, wenn meine Eltern zu Bette waren, wo ich [42] zum Prediger ging, studirte ich ununterbrochen, Philosophie, Mathematik, Geschichte, die Theorie der schönen Künste und Sprachen.

Aber der Prediger hatte ein Wort hingeworfen, das mich um so mächtiger ergriff, als ich bis jetzt noch gar nicht daran gedacht hatte: Bestimmung. Was ist deine Bestimmung? fragte er mich; fragte ich ihm nach. Der Kaufmannsstand, war mir durch meine eigne Erfahrung verleidet; und so viel sah ich wohl ein, daß ich keine Hoffnung hätte, als Nichtchrist irgendwo einen Posten zu erhalten. Ich entschloß mich daher, Mechanicus zu werden: vorzüglich da es mir nicht an Fähigkeiten dazu mangelte. Brander in Augsburg war mein Muster: ich wollte Gelehrter und Mechanicus zugleich werden. Dazu kam noch, daß mein Freund Marcus ebenfalls diese Neigung hatte, und noch überdieß etwas besaß, das mir fehlte, – Geduld: eine Eigenschaft, die für den [43] Mechanicus, der als Künstler auftreten will, unentbehrlich ist. Wir entdeckten unser Vorhaben dem Dr. Bloch und Mendelssohn, die sich zwar alle Mühe gaben, uns unentgeldlich bey einem Meister unterzubringen, aber damit nicht zu Stande kamen; bis ich denn endlich so glücklich war, Hrn. Mechanicus Schulze allhier, für ein Stück Geld, das ich mir als Hausirer und Kaufmann erworben hatte, dahin zu bringen, daß er uns in die Lehre nahm. Dieser redliche Mann hielt uns nicht auf, und da wir regelmäßig alle Nachmittag zu ihm kamen, und mit Überlegung fleißig waren, so lernten wir bald recht gut drechseln, feilen, Glasschleifen und alles was zum Metier gehört. Wir hatten schon angefangen, uns mit Erfolg zu etabliren, und wenn es nach unserm Wunsche gegangen wäre, würde ich jetzt an der Drehbank stehen, und vielleicht in dem Schooße einer Familie das Glück genießen, das dem isolirten Menschen nie zu Theil [44] wird. Aber so gut sollte es mir nicht werden! Marcus, der meine rechte Hand war, und der alles was zum Poliren gehört, mit ungemeinem Fleiß besorgte, da hingegen mir die Geduld dazu fehlte, Marcus, sag' ich, ward von mir durch die widrigsten Umstände getrennt, und ist nachmahls in Lübeck nächtlicher Weise ermordet worden. In ihm hatte ich einen Freund und Gehülfen, und mit ihm die Lust zur Mechanik verloren: ich kehrte wieder ausschließend zu meinen Studien zurück, und hörte bey Achard Physik und Chemie.

Meine Mutter war nun todt, mein Vater lebte zu Nancy im großen Elend, der Freitisch, den mir einer meiner Anverwandten seit einiger Zeit edelmüthig gegeben, hatte, wegen der Ankunft eines nähern Verwandten, aufgehört, meine Gesundheit war durch Studien, Unglücksfälle, schlechte Nahrung, und unregelmäßige Lebensart aufs äußerste [45] zerrüttet, und die drey und vierzig Thaler und einige Groschen, womit ich volle dreyviertel Jahr Haus gehalten und für mich alles, für meinen Bruder[1] aber, den Tisch ausgenommen, die übrigen Bedürfnisse des Lebens bestritten hatte, waren bis auf sechs Groschen zusammengeschmolzen; und doch war ich nicht unruhig, doch machte mir das keinen Kummer. Jugendlicher Leichtsinn war es nicht; ich war nie leichtsinnig, und wollte Gott! ich besäße einen kleinen Grad von leichtem Sinne! Aber nie habe ich über Unannehmlichkeiten gemurret, die in der Ordnung der Natur lagen, und die mir nicht durch Menschen zubereitet waren; und über-[46]dieß, ich weiß nicht, es rief mir gleichsam eine innere Stimme; unablässig den Vers des Psalmisten zu: Nie habe ich den Gerechten verlassen, und seine Kinder ums Brot betteln gesehen! Aber als nun ein Brief von meinem Vater ankam, der acht und einen halben Groschen Porto kostete, wodurch ich also meine ganze Baarschaft erschöpft sah, ich mir zwey und einen halben Groschen von meiner Wirthin borgen mußte, und in dem Briefe meines Vaters sein trauriges Schicksal, dem ich auf keine Weise abhelfen konnte, abermahls geschildert fand; da drängte sich meine ganze Lage, mit allem was sie Schreckliches hatte, vor meinem Gemüthe fürchterlich zusammen: der Kelch meiner Leiden war bis zum Überlaufen voll, und doch war mein Auge trocken. Es glühete mir über dem ganzen Körper und ich sah den Brief meines Vaters mit starren, unverwandten, verzweiflungsvollen Blicken an. Ich konnte es nicht mehr im Zimmer aushalten, und lief ins Freie. Da [47] finde ich mich mit einmahl unter den Linden vor dem Pontonhause, ohne zu wissen, daß ich diese große Strecke von meiner Wohnung her, schon zurückgelegt hatte: so innigst war ich mit meiner aussichtslosen Lage beschäftigt! Ich wäre gewiß eben so dumpf noch weiter gegangen, wenn mich der Oberbaurath Schulze nicht angeredet hätte. Es war nicht der gewöhnliche Gruß, mit dem er mich anredete; nein, es war der Ton der Freundschaft und der Theilnahme, den ich hörte: Was ist dir! fragte er mich, du siehst ja wie die Verzweiflung aus. Was fehlt dir! Wie gewiß ich lieber Hungers gestorben wäre, als mich jemand entdeckt hätte, von dem ich nicht wußte, wie er meine Klagen aufnehmen würde, so sehr war mein volles, der Ergießung bedürftiges Herz gegen diese theilnehmende Sprache gleich aufgeschlossen. Ich erzählte ihm alles. Da wird wohl bald Rath zu schaffen seyn, sagte er; du hast etwas gelernt, und du mußt Unterricht geben. Nun [48] überlegte er mit mir, wie bis dahin für mich gesorgt werden sollte aber wir waren noch nicht zu Ende unsrer Überlegung, als ein Mann, dessen Bescheidenheit mir untersagte, ihm hier öffentlich, durch Nennung seines Nahmens, als meinem Retter zu danken, an Schulze herantrat, und ihn um Nachweisung eines Menschen ersuchte, der eine mathematische Arbeit an seiner Stelle verrichten könnte. Schulze empfahl mich, ging mit dem Manne bey Seite, und verließ uns dann mit den Worten: machen Sie das Übrige unter sich aus.

Der Mann ließ sich nun mit mir in ein Gespräch ein, um meine Tauglichkeit zudem vorhabenden Geschäft näher zu erproben, und da ich ihm seine vorgelegten Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortete, engagirte er mich nicht nur, so lange die Arbeit dauern würde, mit einem monathlichen Gehalt von sechszehn Thalern, sondern gab mir, da Schulze ihm meine Umstände gesagt haben mußte, diesen Gehalt auf einige Monathe aus eignem Antriebe [49] voraus. Wenn ich die Schätze des Krösus je finden sollte, gewiß, sie würden mir die Freude nicht machen, welche ich bey der Erblickung der zehn Stück Friedrichsd’or empfand, die ich nun in Händen hatte. Beschreiben läßt sich meine Empfindung nicht: wer nie von dem höchsten Grad der Verzweiflung zu dem höchsten Grad der Hoffnung und des Vertrauens plötzlich übergegangen ist, der würde mich doch nicht verstehen; und ihr glückliche Menschen, denen diese Empfindung zu Theil geworden ist, ihr theilt sie gewiß mit mir, und findet in euch selbst die beßre Beschreibung!

Gleich den andern Nachmittag ging ich an meine Arbeit, die sieben Monathe gedauert hatte. Mittlerweile hatte Schulze und mein Mann für Unterricht gesorgt, und ich erwarb mir dadurch zusammen an vierzig Thaler monathlich.

Da ich mir nun beßre Kost verschaffen, und meinen Vater unterstützen konnte, gelangte meine Gesundheit auch bald wieder, [50] ohne alle medicinische Hülfe, zu ihrer vorigen Stärke; mein Gemüth ward heiter, und ich konnte meine Studien, in der Zeit, die mir meine Brotgeschäfte übrig ließen, mit Eifer betreiben. Vorzüglich beschäftigte mich nun die Astronomie. Hr. Prof. Bode hatte mir erlaubt, die Sternwarte zu besuchen, und als ich dadurch die Einrichtung einer Sternwarte und die Verfahrungsweise kennen gelernt hatte, bauete ich mir aus meinem Kammerfenster hinaus, von wo ich einen ziemlich weiten Theil des Himmels übersehen konnte, ein Observatorium im Kleinen auf, und lernte die Sternbilder, mit Hülfe des Bodeschen Werks, und selbst verfertigter Pyramiden nach Tobias Mayers Anweisung, kennen. Den Mond beobachtete ich fleißig, und durch falsche Prämissen überredete ich mich, daß sein Licht sich nicht in die sieben Hauptfarben zerlegen lasse. Ich stellte deßhalb Versuche an, die das Gegentheil zeigten, und ward dadurch veranlaßt, über die Theorie der Farben nachzu-[51]denken, und meine erste in Druck erschienene Abhandlung über diesen Gegenstand, die sich im März-Stücke von 1735 der Berl. Monathschrift befindet, zu schreiben. Bald darauf gab ich in der Voßischen Buchhandlung meine Theorie der Parallelen heraus. Dadurch kam ich sowohl mit vielen Berlinischen, als auch mit auswärtigen Gelehrten, unter andern mit Kästner in Bekanntschaft. Der alte, ehrwürdige Director Castillion, den es freute, einen jungen Menschen gefunden zu haben, der den Euklid und Archimedes nach der synthetischen Methode wußte, und mein Freund und Wohlthäter, der Oberbaurath Schulze, hatten mir schon längst Testimonia gegeben; nun bath ich mir auch eins von Kästner aus, das er mir mit der umgehenden Post, in Begleitung eines sehr freundschaftlichen Briefes, schickte, und das er in folgenden scherzhaften Ton eingekleidet hatte: „Bendavid weiß so viel Mathematik, daß er auf jede Professur Anspruch machen kann; nur nicht auf meine, so lange ich lebe.“ [52]

Um diese Zeit fiel es mir ein, den Reformator der Juden zu machen. Ich hatte mir einen Plan dazu entworfen, und wollte die Ausführung desselben mit Abschaffung eines Mißbrauchs anfangen. Bey jeder Feuersbrunst bezahlen die Juden in Berlin, da sie nicht selbst löschen, zehn Thaler. Ich trug also bey den Ältesten darauf an, daß die Judenschaft sich eine Spritze anschaffen und selbst löschen sollte. Ich wollte die Spritze bauen und sie bey jeder Feuersbrunst unentgeldlich als Röhrmeister dirigiren. Viele der Ältesten unterstützten mein Vorhaben, und durch ein Circular, in dem ich alle religiöse Bedenklichkeiten hob, erhielt ich bald so viele Subscribenten, daß ich mit den unterschriebenen Summen wohl vier Spritzen hätte bauen können. Allein die Sache kam doch nicht zu Stande, aus Gründen ......... nun! brich mein Herz, denn meine Zunge muß schweigen!

Weil ich aber mein Vorhaben auf die Juden [53] zu wirken, durch den ersten mißlungenen Versuch, nicht aufgegeben hatte, glaubte ich mich äusserlich nach ihren Sitten bequemen zu müssen. Mein Vater war so eben gestorben, und ich besuchte daher, gleich nach der erhaltenen Nachricht von diesem Todesfall, die Synagoge, um nach jüdischem Gebrauch, das Seelenamt für ihn zu halten, und den Vorbeter zu machen; ich besaß keine Beth-Amuletten selbst, sondern ich borgte mir welche. Zwey Tage ließ man mich mein Wesen treiben; am dritten aber, vor dem Anfang des Gebeths, kam eine Deputation von drey Männern an mich heran, und erklärte mir, daß ich, der ich öffentlich vier Ceremonialgesetze, die sie mir vorrechneten, übertreten hätte, ihr Vorbeter, der über sie den Segen aussprechen muß, nicht seyn könnte: ich sollte mich auf das Seelenamt allein beschränken. Ich fragte sie, ob sie mich denn für keinen ihrer Glaubensgenossen erkennen, und als aus der Gemeine ausgeschlossen betrachten wollten. Da sey [54] Gott für! war ihre Antwort. Aber .... Nun gut, erwiederte ich, ich merke, was das Aber sagen will; Sie sagen mir die Gesellschaft auf. Mir schon recht, denn hiemit sage ich sie Ihnen auch auf. Mit diesen Worten packte ich meine Beth-Amuletten zusammen, und ging aus der Synagoge. Nie bin ich seit dem wieder hineingegangen.

In der Ostermesse 1789 erschien im Schöneschen Verlag die erste Auflage meines Werks über das mathematische Unendliche, und im Winter darauf hielt ich öffentliche mathematische und ästhetische Vorlesungen, nach eignen Ausarbeitungen. Die Geometrie hatte ich der Algebra folgen lassen, und sie ganz analytisch vorgetragen, wobey ich vom Kreis anfing, den ich aus der Formel construirte, und von diesem zu den Dreyecken überging. Diese Methode fand, ihrer Neuheit wegen, bey meinen Zuhörern, meistens Officieren, viel Beyfall, ungeachtet sie eigentlich an und für sich nichts taugt. [55]

In dem nähmlichen Winter wurde mir von einem vormahls in Holland etablirten Manne der Antrag gemacht, seinen Sohn, der Medicin studirte, nach Göttingen zu begleiten. Die Bedingungen waren annehmbar, und der Antrag stimmte überhaupt mit meinem Wunsche, eine Universität zu besuchen, sehr überein. Am 11. April 1790 fuhren wir nach Göttingen.

Auf dieser Universität habe ich die persönliche Bekanntschaft mit den meisten der dasigen Professoren gemacht, und mir die Freundschaft von Kästner, Lichtenberg, Michaelis, Bürger und des Biedermanns Feder erworben. Ausser Physik bey Lichtenberg, Chemie, bey Gmelin, und Kirchengeschichte bey Plank, habe ich kein einziges Collegium gehört. Desto fleißiger benutzte ich aber den großen Schatz der Bibliothek, und da mein Eleve Mediciner war, suchte ich mir auch einige medicinische Kenntniß zu verschaffen. Ich studirte von Morgens um 4 Uhr bis Nachts [56] um 12 Uhr, und zur Erholung besuchte ich meine Bekannten oder las die Kirchenväter.

Von Göttingen ging es nach Halle, wo ich mit Eberhard und Klügel viel umging, und für das Archiv des Erstern: die Principien der Mathematik ausarbeitete. Als ich mit dem zweiten Theil gedachter Principien beschäftigt war, trat Eberhard zu mir ins Zimmer, und verkündigte mir, daß er bey der Universität darauf angetragen habe, mir den Doctorhut zu ertheilen. Ich war mit meiner vorliegenden Arbeit zu beschäftigt, und die Sache war mir, der ich nicht auf der Universität bleiben wollte, so erstaunlich gleichgültig, daß nur ein so feiner Menschenkenner wie Eberhard nicht durch die Kälte beleidigt werden konnte, mit der ich seine frohe Bothschaft aufgenommen hatte. Er, der die Sache aus dem richtigen Gesichtspuncte betrachtete, sagte mir vielmehr über mein Betragen sehr viel Aufmunterndes. Kästner schrieb mir bey dieser Gelegenheit unter andern: [57]

Was soll Ihnen der Doctorhut?

Der ist ja nur für Schwaben gut,

Die dociren müssen,

Was sie selbst nicht wissen.

Er hatte hiebey einen rechtschaffenen und gelehrten Schwaben im Auge, den er nicht leiden konnte, und der beständig seinem Witze zum Stichblatt dienen mußte.Bey meiner Zurückkunft nach Berlin habe ich verschiedene in der deutschen Monathschrift abgedruckte Abhandlungen, philosophischen und ästhetischen Inhalts, und auch meine Kabalistischen Fragmente herausgegeben, deren sonderbare Veranlassung in der Abhandlung selbst angegeben ist. Unter meinen Papieren befinden sich noch nähere Aufschlüsse darüber, die aber, so lange ich und die Personen leben, die sie betreffen, nicht mittheilbar sind.

Auf einen Ruf, den ich als Hofmeister des jungen Hrn. v. H. in Wien erhalten hatte, reisete ich am 25. December 1791 nach dieser Hauptstadt. Die Bedingungen waren nicht [58] glänzend; aber die Lust, diese Stadt zu sehen, und die dortige Bibliothek zu benutzen, ließen mich nicht lange über meinen Entschluß in Ungewißheit, den ich auch nicht zu bereuen hatte. Ich fand einen äußerst guten, gelehrigen offnen Knaben von 6 Jahren, der für alles Gute und Edle empfänglich war, und der dem Erzieher seine auf ihn verwendete Mühe durch seine Folgsamkeit und die Fortschritte die er machte, ungemein lohnte. Er hatte ganz den Charakter seiner guten Mutter, die einsichtsvoll, gutmüthig, sanft und duldend war. Hätte ich das von dem Vater auch sagen können, ich würde vielleicht noch in dem Hause seyn. Aber ungeachtet er mir nichts gerade zu in den Weg legte, verdarb er doch indirecte vieles in meinem Erziehungsplan. Bey einem bedeutenden Wortwechsel mit ihm, kündigte ich ihm daher den Dienst auf, und verließ noch. den nähmlichen Tag das Haus.

In dem Hause des Hrn. v. H. wandelte mich meine Reformatorgrille abermahls [59] an, und ich gab das „Etwas zur Charakteristik der Juden“ heraus. Das Werkchen hat mehr Aufsehen gemacht als es, und ich habe darüber mehr gelitten, als ich verdiente. Als alle gegen mich geschmiedete Cabalen fehl schlugen, hetzte man den Cardinal Migazzi gegen mich auf, der mich vor sich kommen ließ, und mich in lateinischer Sprache, mit der wahren Miene eines Groß-Inquisitors über eine Stelle in dem Werkchen zu Rede stellte, die er nicht gelesen, und von der man ihm gesagt hatte, daß sie gegen die christliche Religion gerichtet seyn sollte. Ich wies ihn bald zu Rechte, und zeigte ihm, daß die Anklage auf einem Mißverständniß beruhe. Er entließ mich hierauf mit den Worten: Etsi tua defensio non vera sit, tamen sagax.

Diese Verfolgungen hatten mir nicht geschadet, vielmehr wurde ich dadurch bekannt, und von rechtschaffenen Leuten geschätzt. Einige Jahre nachher, als ich beym Fürsten Lichnowsky saß, ereignete sich ein [60] Spaß, der als Beleg dienen kann, wie bekannt ich dadurch geworden war. Eine Jüdin, die etwas bey ihm suchte, wurde von ihm gefragt; ob sie mich kenne. Ey, erwiederte sie, wer sollte den nicht kennen, der hat ja den Bendavid gemacht! Im Sommer 1793, wo ich mit meinem Eleven auf dem Lande, in der schönsten Gegend um Wien und unter den glücklichstem Nebenumständen lebte, habe ich den Versuch über das Vergnügen ausgearbeitet. Leser, die das Buch kennen, werden wohl selbst den Einfluß gemerkt haben, den die heitere Stimmung meiner Seele auf diese Ausarbeitung gehabt hatte. Lesern, die es noch nicht kennen, rathe ich mit dem zweiten Hauptstück anzufangen, und das erste zuletzt zulesen. Wenn ich das Buch jetzt noch zu schreiben hätte, ich würde es so geordnet, und bloß die Erklärungen aus dem ersten Hauptstücke vorangeschickt haben.

Ich hatte nach Wien einige Addressen mitgenommen, unter andern eine an Jaquin. [61] Die gütige und freundschaftliche Aufnahme, die jeder Fremde von diesen Menschenfreunden, dem Vater und dem Sohne zu erwarten hat, wurde auch mir zu Theil. Alle Mittwoch fand ich mich in der Gesellschaft in seinem Hause ein, und lernte dadurch die Frau Hofräthin von Greiner kennen. Dieses Muster einer würdigen Frau, die Mutter eines der vortrefflichsten Weiber, der Dichterin Caroline Pichler, machte damahls eins der ersten Häuser Wiens. Viermahl wöchentlich versammelte sich daselbst alles was Wien im Adel- und Bürgerstande an gebildeten Menschen aufzuweisen hatte. Die Hofräthin, die mich, besonders nach der Erscheinung meines in der von Alexinger herausgegebenen östreichischen Monathschrift befindlichen Romans: „Ferdinand und Mad. Weber,“ mit Auszeichnung behandelte, erwarb mir dadurch die Aufmerksamkeit der Gäste, und es dauerte nicht lange, daß ich aus den Guten nur die Bessern zu meinem Umgang zu wählen [62] brauchte. Vorzüglich spann sich zwischen dem Baron v. Retzer und mir ein wechselseitiges Interesse an, in welchem ich diesen Biedermann von mehr als Einer guten Seite zu bewundern Gelegenheit hatte.

Ihm verdanke ich, gleich nach meinem Austritt aus dem Hause des Hrn. v. H. die mir ewig schätzbare Bekanntschaft des Grafen Carl v. Harrach, dieses edeln, einzigen Menschen, der Gutes im Stillen wirkt, seinen Geist mit den Wissenschaften, und sein Herz mit Menschenliebe erfüllt hat. Erhörte bey mir ein Privatissimum in der kritischen Philosophie, aber er belohnte und behandelte mich nicht als bloßen Lehrer, sondern als Freund, und seine Freundschaft blieb nicht bey Worten stehen, sondern äußerte sich in Thaten. Ein gleiches kann ich vom Fürsten Lichnowsky rühmen; und wenn dieser auch auf die Real-Kenntnisse des Grafen C. v. H. keine Ansprüche macht, so stellt er ihm an guten Gesinnungen gewiß nicht [63] nach. Überhaupt ist das Betragen des östreichischen und böhmischen Adels, wenn er auch unter sich eine gewisse Rangordnung beobachtet, doch gegen alles, was zum Gelehrten- und Künstler-Stande gehört, nicht bloß gnädig herablassend, sondern so wahrhaft edel und aufmunternd, und findet von der andern Seite der höhere Kaufmannsstand so ungemein viele Freude in dem Umgange mit dem Gelehrten und Künstler, daß es gewiß nur immer die Schuld dessen ist, der sich nicht bald in allen guten Häusern beyder Stände als willkommener Gast betrachtet sieht.

Beyde genannten Männer verschafften mir den Zutritt zu dem damahligen Policeypräsidenten, Grafen von Saurau, der mir die in Wien noch nie ertheilte Erlaubniß auswirkte, öffentliche Vorlesungen in meinem Hause über die kritische Philosophie halten, und die damahls von mir herausgegebenen Vorlesungen über die Kritik der reinen Ver-[64]nunft dabey zum Grunde legen zu dürfen. Ich hatte ein bedeutendes Auditorium; aber eben das erregte den Neid gewisser Menschen, deren Machinationen, wie geheim sie auch solche angelegt zu haben glaubten, mir doch bekannt waren. Unter dem Vorwande, die kritische Philosophie wäre schädlich, wurde es mir, der Opposition des Grafen v. Saurau ungeachtet, verboten, meine Vorlesungen öffentlich zu halten. So weit konnten es aber diese Menschen, wie sie gern wollten, nicht bringen, daß mir auch der Privatunterricht und dem Buchhändler der Verkauf meines Buchs untersagt worden wäre: beydes vielmehr hatte seinen ungehinderten Fortgang nach wie vor; wie ich es denn der Wahrheit gemäß dankbarlich bekennen muß, daß mir für meine Person von Seiten der Regierung, so lange ich in Wien lebte, in Ansehung der freien Ausübung meiner Geisteskräfte, nicht nur nicht der mindeste Zwang aufgelegt, sondern aller nur möglicher Vorschub gethan wurde. [65]

Ich war gleichsam Mode geworden, und es gehörte zum guten Ton von mir Unterricht zu erhalten. Daher hatte ich mehr Anfrage nach Stunden, als ich annehmen konnte und mochte. Es war mir nie ums Geldsammeln zu thun, und ich liebte meine Unabhängigkeit und meine Studien zu sehr, als daß ich mich hätte den ganzen Tag mit dem Unterricht befassen wollen. Ich nahen daher nur so viel Schüler an, daß ich täglich vier Stunden zu geben hatte, und die übrige Zeit theils zum Besuchen der Bibliothek, theils zum Ausarbeiten meiner Vorlesungen über die praktische Vernunft, die Urtheilskraft, und meiner Beyträge zur Kritik des Geschmacks benutzen konnte: letztere habe ich dem Grafen Carl zugeeignet. – Das hatte nun so seinen Fortgang bis den 6ten April 1797, und es ging in meiner Lage keine weitere Veränderung vor, als daß ich verschiedene Reisen machte, von denen ich aber hier nichts weiter sagen kann, als:

multos vidi homines, urbesque. [66]

Am gedachten Tage kam, wegen der damahls eingetretenen bekannten Zeitumstände der Befehl, daß alle Fremden die Stadt verlassen sollten. Ich hätte nicht nöthig gehabt, mich, als in diesem Befehl begriffen, zu betrachten; allein da ich mich wieder nach meiner Heimath und den dort gelassenen Leuten sehnte, und die Aussicht dessen, was da kommen sollte, mir eben keine große Freude in Wien versprach, so machte ich mich am 8ten April zu Fuß auf den Weg nach Prag. Meine Sachen hatte ich bey meinem ehrlichen Wirth, dem Schiffmeister Radl, der mir so lange ich in Wien für mich lebte, freies Quartier und Feuerung gab – ein großes Object in Wien – gelassen, und ich nahm in meinem Mantelsack nur so viel mit, als ich unumgänglich nöthig hatte.

 

Am 14. April Abends kam ich zu Biecowitz, 2 Meilen von Prag, an, wo ich, da mein Böhmisch nicht ausreichte, mich der Wirthin gehörig verständlich zu machen, die [67] Nacht unter 50 bis 60 Fuhrleuten und Handwerksburschen zubringen mußte. Ich legte mich nicht nieder, sondern während sie auf der Streu schliefen, schrieb ich einige Briefe nach Wien, Dresden und Berlin. Mit dem anbrechenden Morgen nahm ich Extrapost nach Prag.

Die Erlaubniß für Fremde zum Aufenthalte an diesem Orte war, wegen der übergroßen Menge derselben, auf kurze Zeit beschränkt. Daher fuhr ich nach einigen Tagen mit der sogenannten gelben Kutsche in der possirlichsten Gesellschaft von der Welt, nach Dresden: sie bestand aus einem Armenier, der nach Leipzig gehen wollte, einem reisenden Schauspieler, einem holländischen Hypochondristen und einer Soldatenfrau mit ihrem Säugling.

In Dresden, wo ich einige Bekannte hatte, besah ich alles, was die Natur und Kunst daselbst Schönes enthält, und fuhr dann nach Berlin in einer Stimmung, die durch das Zu-[68]sammendrängen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in mir veranlaßt ward, und die sich nicht beschreiben läßt. Bey Erblickung der Berlinischen Thürme stürzten mir unwillkührlich die Thränen aus den Augen, und ich mag nicht bestimmen, ob es Thränen der Freude oder des Kummers gewesen waren.

Ich war kaum acht Tage in Berlin, als ich aus Wien von einem Hrn. v. St. ein Schreiben erhielt, worin er mir eine Inspectorstelle bey der Pachtung eines Cassengefälls in Lemberg, die er übernommen hatte, unter sehr vortheilhafter Bedingung anboth. Ich machte mich daher nach einem vierzehntägigen Aufenthalt in Berlin sogleich auf die Reise; allein die Sache hatte mittlerweile eine solche Wendung genommen, daß ich dabey entbehrlich geworden war. Hr. v. St. entschädigte mich für meine Mühe, und ich dachte wieder in Wien zu bleiben. [69]

Allein kaum ließ ich mich wieder sehen, als meine Gegner Mittel fanden, mich von Wien zu entfernen. Ich erhielt daher von der Policey (Graf Saurau war nicht mehr Präsident derselben) den Befehl, daß: da ich keine feste Bestimmung hätte, meines fernern Bleibens in Wien nicht sey. Ich machte keine großen Anstalten, diesen Befehl zu hintertreiben, sondern, nachdem ich mich bloß hie und da erkundigt hatte, ob etwas dagegen zu thun wäre, und ich sowohl aus den erhaltenen Antworten, als aus den mancherley Vorsichtsmaaßregeln, welche in meiner Abwesenheit von Seiten der Regierung getroffen worden waren, wohl sah, daß meines längern Bleibens wirklich nicht war, kehrte ich über Schlesien nach Berlin zurück.

Ich hatte einige hundert Thaler erspart, und konnte es eine Zeitlang mit ansehen, um ruhig abzuwarten, was zu machen wäre.

Im November 1797 wurde mir die Geschäftsführung des Moses Isaacschen Fidei-[70]commissi angetragen, und, da es keine kaufmännischen, sondern bloß Rechnungs- und Cassen-Geschäfte sind, von mir angenommen, und bis jetzt beybehalten.

Im Jahre 1799 habe ich die Vorlesungen über die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft; 1800 den Versuch einer Geschmackslehre; in der Ostermesse 1801 die philosophischen Aufsätze vermischten Inhalts heraus gegeben. Am 3ten August desselben Jahres krönte die Königl. Akademie der Wissenschaften allhier meine Schrift: Philotheus, oder über den Ursprung unsrer Erkenntniß, die in der Ostermesse 1802 bey Maurer erschienen ist. 1802 habe ich den Versuch einer Rechtslehre nebst der zweiten Auflage der Vorlesungen über die Kritik der reinen Vernunft zum Druck befördert, und im Nov. desselben Jahres die Redaction des politischen Artikels in der Haude und Spenerschen Zeitung übernommen. Ausser dem habe ich viele Abhandlungen in der Berlinischen und [71] deutschen Monathschrift, den Horen, dem Archiv der Zeit u. a. abdrucken lassen, deren Überschriften ich aber nicht genau angeben kann, da ich von den wenigsten Exemplare besitze. Mit Ausnahme von Recensionen und Übersetzungen habe ich nichts anonym geschrieben; und der Verfasser des bey Stahel in Wien 1794 in 2 Octavbänden herausgekommenen, mir beygelegten Buchs: Über die Vaterlandsliebe, ist, der Vorrede zu Folge, ein ungarischer Gelehrter.

Am 4ten Aug. 1797 nahm mich die Gesellschaft der Freunde der Humanität allhier zu ihrem Mitgliede auf, und seit dem 5ten Jan. 1798 bezeugte sie mir bis jetzt immer die Ehre, mich zu ihrem Director zu erwählen. Bey Errichtung der philomathischen Gesellschaft, am 16ten Oct. 1800, wurde mir die Stelle ihres Secretairs übertragen, die ich noch bekleide.

Dieß ist der treu gezeichnete Schattenriß eines Lebens, das immer ein Spiel des Zufalls, [72] immer ohne feste Bestimmung, immer precär war, und es leider noch jetzt ist! Aber es ist es ohne mein Verschulden:

Ergo quicunque es, rescindere crimina noli,

Deque gravi durus vulnere tolle manus.

 

[1] Mein jüngerer Bruder, Salomon Bendavid, ist jetzt Lehrer in einem hiesigen jüdischen Hause. Er hat die Rechte studirt, wurde examinirt, bestand sehr gut im Examen, versprach nicht als Richter die Carriere zu machen, sondern als Justizcommissarius sein Brot zu verdienen, und wurde, weil er die Taufe nicht empfangen hat, nicht als Referendarius zugelassen.

Zitierhinweis:

Lazarus Bendavid:  [Autobiographie] Lazarus Bendavid. (1806) (Version II, 2017), in: haskala.net. Das online-Lexikon zur jüdischen Aufklärung / hg. von Christoph Schulte, URL<>, letzter Zugriff [Datum, Uhrzeit].