Ein kurzer Überblick über die Entstehung des ultraorthodoxen Viertels Me'a Sche'arim
Me'a Sche'arim wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Um die Entwicklung dieses Jerusalemer Stadtviertels zu erläutern, muss ich weiter ausholen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildeten sefardische Jüdinnen und Juden oder Sefardim die Mehrheit der jüdischen Bewohner*innen von Jerusalem. Sefarad ist die hebräische Bezeichnung für Spanien. 1492 waren alle Jüdinnen und Juden, die nicht bereit waren zum Christentum zu konvertieren, aus Spanien und Portugal vertrieben worden. Diese hatten sich in Italien, auf dem Balkan, Griechenland und in der Türkei angesiedelt. Die Sprache der Sefardim, Ladino (Judenspanisch), war eine Umgangssprache, die sich erst nach der Vertreibung aus Spanien entwickelt hatte. Einige von ihnen waren weiter nach Palästina gezogen und hatten sich mit den einheimischen Arabisch sprechenden Jüdinnen und Juden, den Musta'arabim, zusammengeschlossen.
Aschkenasische Jüdinnen und Juden waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Minderheit. Aschkenasim sind die Nachkommen der Juden aus Deutschland und Nordfrankreich, die im 15. und 16. Jahrhundert vertrieben worden waren und sich in Mittel- und Osteuropa angesiedelt hatten.
Im 18. Jahrhundert kamen die ersten Chassidim, chassidische Jüdinnen und Juden, aus Osteuropa nach Jerusalem. Chassidim bedeutet „fromme Männer“. Chassidismus geht zurück auf Israel ben Eliezer (ca. 1700–1760), der auch BeSchT genannt wurde, ein Akronym für Baal Schem Tow, was „Meister des guten Namens“ bedeutet. Der BeSchT war ein frommer Kinderlehrer und Wanderprediger gewesen. Er war davon überzeugt, dass man Gott nicht nur durch das Studium der Torah und das Befolgen der jüdischen Religionsgesetze (Halachot) ehren solle, sondern auch durch Hingabe im Alltag. Sein Schüler Dov Bär von Meseritsch, auch Maggid von Meseritsch genannt, hatte den Lehren des Baal Schem Tow eine stärkere theoretische Grundlage verliehen indem er Elemente aus der Kabbalah des Issak Luria integrierte: Durch den sogenannten „Bruch der Gefäße“ war ein Funken göttlichen Lichts auf die Erde gekommen. Alle Erscheinungen in der physisch erfahrbaren Realität beinhalten göttliche Funken, die aufzuspüren sind. Die materielle Welt soll daher intensiv erlebt und geheiligt werden. Nach dem Tod von Dov Bär von Meseritsch gab es keine zentrale Führung der Bewegung mehr. Es kam zu einer Entwicklung von Höfen um Zaddikim („Gerechte“), die, mit einer spezieller Wahrnehmung ausgestattet, eine Mittlerfunktion zwischen Gläubigen und Gott einnehmen und Wunder tätigen können. Der Zaddik oder Rebbe widmete sich seinen Anhänger*innen und ihren Anliegen und wurde dafür materiell unterstützt. Diese chassidischen Höfe entwickelten sich zu Dynastien mit vererbbaren Titeln.
Im frühen 19. Jahrhundert erreichten Anhänger*innen von Elijah ben Salomon Salman (1720– 1797) Safed und Jerusalem. Elijah ben Salomon Salman wird auch Gaon von Wilna oder HaGra genannt, ein Akronym für HaGaon Rabbi Elijahu, was „die Exzellenz Rabbi Elijahu“ bedeutet. Der Gaon von Wilna hatte die Bewegung der Chassidim mit einem Bann belegt. Er hatte sich zwar ebenfalls mit der Kabbalah beschäftigt, pochte aber auf die rabbinische Autorität, die Vorrangstellung der Halachah und das Torahstudium – auf eine intellektuelle religiöse Auseinandersetzung. Er opponierte den ekstatischen Riten, die die Chassidim eingeführt hatten. Seine Anhänger werden auch Mitnagdim („Widersprechende“) oder Peruschim (vom hebräischen Verb „parasch“, was die Bedeutung „sich absondern, sich entfernen“ hat) genannt. Der Kampf zwischen den Peruschim und den Chassidim setzte sich durch die Einwanderung aschkenasischer Jüdinnen und Juden im Heiligen Land fort.
Im 19. Jahrhundert kamen außerdem Misrachim oder misrachische Jüdinnen und Juden aus Gegenden außerhalb des Osmanischen Reiches – aus Nordafrika, Georgien, Bukhara, Kurdistan und Persien – nach Jerusalem. Die heterogene jüdische Gemeinde in Jerusalem wuchs sehr schnell, besonders die Gruppe der Aschkenasim. Was aber hatte aschkenasische Jüdinnen und Juden veranlasst, in so großer Zahl ihre Heimatgemeinden in Osteuropa zu verlassen und sich dauerhaft in Jerusalem niederzulassen?
Für die Aschkenasim war das Leben im Heiligen Land mit der Vorstellung verbunden, ein intensiveres religiöses Leben zu führen als in der Diaspora. Darüber hinaus existierte im Judentum die Vorstellung, durch gute Taten zu Gott vorzudringen und damit die Ankunft des Messias ein wenig zu beschleunigen.
Damit sich die Männer in Jerusalem ganz dem Gebet und den Torahstudien hingeben konnten, musste die Finanzierung des täglichen Lebens gewährleistet sein. Der Alte Jischuw lebte hauptsächlich von Spendengeldern aus den Dispora-Gemeinden, was Chalukka genannt wurde. Bereits in der Antike war in der Diaspora Geld gesammelt worden, um die Torahgelehrten im Heiligen Land zu unterstützen. Chalukka war darüber hinaus über Jahrhunderte ein wichtiges Bindeglied zwischen den Diasporagemeinden und der jüdischen Gemeinde in Palästina gewesen. In den 1830er Jahren begann sich die rasch anwachsende aschkenasische Gemeinde in Untergruppen, in sogenannten Kolels zu organisieren. Ein Kolel war eine Gruppierung von Jüdinnen und Juden, die aus einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Region in der Diaspora stammten und von der dortigen jüdischen Gemeinschaft finanziell unterstützt wurden.
1880 waren von den 31.000 Bewohner*innen Jerusalems 17.000 Jüdinnen und Juden. Sie lebten jedoch in überfüllten und maroden Häusern unter schlechten hygienischen Bedingungen, eingepfercht in ein relativ kleines Viertel, was viele Jüdinnen und Juden dazu bewog, ein Leben außerhalb der Stadtmauern in Betracht zu ziehen, obwohl dieses Gebiet damals als gefährliche Wildnis galt.
Christliche Institutionen, allen voran Protestanten aus England und Deutschland, aber auch das russische Zarenreich hatten bereits seit den 1840er Jahren entlang der Jaffa Road, die Jerusalem mit Jaffa verband, gebaut. Administrativ erleichtert wurde die Bautätigkeit durch eine Reform von 1867, die es auch Personen, die keine Untertanen des Osmanischen Reichs waren, erlaubte Land zu kaufen.
Me’a She'arim war die fünfte jüdische Siedlung außerhalb der Jerusalemer Altstadt. Im Dezember 1873 wurde der Bau beschlossen. Ursprünglich waren hundert Häuser für in der Altstadt lebenden Peruschim geplant. Da das Treffen, bei welchem der Bau des neuen Viertels beschlossen wurde, jener Paraschah (der wöchentliche Bibelabschnitt, der samstags in der Synagoge gelesen wird) vorausging, in dem Gott Jizchak hundertfach (Hebräisch: Me’a she'arim) segnete (Gen 26,12), kam die Siedlung zu dem Namen Me’a Sche'arim: „Isaak säte in diesem Lande und bekam in demselben Jahre das Maß hundertfach; so segnete ihn der Ewige.“
Als Architekt von Me’a Sche'arim wurde Conrad Schick (1822–1901) beauftragt. Dass die Wahl auf diesen deutschen Protestanten gefallen war, der 1846 als junger Missionar nach Jerusalem gekommen war, hängt damit zusammen, dass Schick inzwischen sehr erfolgreich als Architekt, Ingenieur und Archäologe in Jerusalem arbeitete.
Für Me’a Sche'arim konzipierte Conrad Schick eine schlichte Siedlung aus Steinreihenhäusern, die ein gebogenes Rechteck bildeten. Die massive Rückseite der Häuser sollte als Schutzmauer fungieren. Nach innen gruppierten sich die Häuser um einen großen offenen Hof und Garten und, in dessen Mitte, um eine Synagoge und eine Jeschiwa (ein Schulgebäude zum Studium religiöser Texte). Geschützt vor Banditen und wilden Tieren wurde Me’a She'arim außerdem durch Eisentore, die nachts verschlossen wurden.
Me’a She'arim wurde in den Jahren 1874–1882 gebaut. Die Siedlung existierte also bereits, bevor die erste Welle zionistischer Einwander*innen – Erste Alija – 1882 Palästina erreichte.
Die Begründer von Me’a Sche'arim verfassten ein Regelbüchlein für ihre neue Gemeinschaft, in welchem auch das Motiv des Siedlungsbaus, Jerusalem zu erlösen, festgehalten war. Eine Regel war das Verbot, das eigene Anwesen an einen Nicht-Juden zu veräußern. Verboten war außerdem ein Verkauf „an den, der von den Worten der gesegneten Rabbiner abweicht“.
Die Siedlung war nicht nur eine religiöse Gemeinschaft aus strenggläubigen Peruschim. Sie strebte auch in weltlichen Dingen nach Autarkie und wurde schnell zu einer Art Kleinstadt, die an ein osteuropäisches Schtetl erinnerte. Neben der Synagoge und der Jeschiwa gab es eine Mikwe, Zisternen, einen Lebensmittelladen, einen zentralen Backofen und ein Gästehaus. Darüber hinaus kümmerte sich eine Gemeindeversammlung um alltägliche Angelegenheiten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Me’a Sche'arim weiter nachverdichtet und zählte 300 Häuser. Mit seinen Mauern und Toren, sowie seinem religiösen Zentrum war es ein Jerusalem en miniature.
Miriam Visacki