Schöne Blumen und menschliche Schwächen
Pflanze des Monats Januar 2013
Spicers Venusschuh
Die Begeisterung der Engländer für exotische Pflanzen nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts fast wahnhafte Züge an. In relativ kurzer Zeit entstanden riesige Gärtnereien. Sammler der Firmen Veitch und Sander waren überall in den Tropen unterwegs, um neue und begehrte Orchideen zu sammeln und nach England zu schicken.
Heinrich Gustav Reichenbach war es endlich gelungen, eine halbwegs befriedigende Stellung zu finden. Seit 1863 war er Direktor des Botanischen Gartens in Hamburg und Professor ebenda. Die viel bedeutendere Position in Heidelberg hatte dagegen sein Konkurrent Wilhelm Hofmeister erhalten, sehr zum Missvergnügen des überaus eitlen Reichenbach. Da er sein Genie als Orchideen-Spezialist in Deutschland nur unzureichend gewürdigt sah, suchte er engen Kontakt zu den englischen Gärtnereien. So hatte er auf viele Neuentdeckungen der Sammler Veitchs und Sanders ersten Zugriff.
Im Jahr 1878 blühte in der Spicer’schen Privatsammlung in England eine neue Orchidee. Sie stammte aus einer Sendung exotischer Pflanzen, die der Sohn des Hauses seinen Eltern aus seiner Teeplantage in Assam geschickt hatte. Die Fahne, das nach oben gerichtete Blütenblatt, ist bei diesem Venusschuh schneeweiß, nur am Grunde grünlich, und hat einen markanten rotbraunen Mittelstrich. Die Gärtnerei Veitch konnte ein Teilstück der attraktiven Pflanze erwerben, die Reichenbach zu Ehren der Spicers Cypripedium spicerianum (Spicers Frauenschuh) nannte. Veitch begnügte sich damit, die Pflanze vegetativ zu vermehren und gelegentlich Teilstücke zu horrenden Preisen – 80 bis 100 Pfund, ein Mehrfaches des damaligen deutschen Jahresdurchschnittsverdienstes – an betuchte Sammler zu verkaufen.
Dem Konkurrenten Sander, noch recht neu im Geschäft und ehregeizig, ließ das keine Ruhe. Bei einem Teebesuch im Spicer’schen Hause erfuhr er Genaueres zur Lage jener Teeplantage. Sogleich schickte er einen Sammler los, der schließlich 40.000 Pflanzen dieser Art aus Indien nach England verschiffte. Das war eindeutig zu viel; der Preis für die Pflanzen fiel ins Bodenlose, und Sander hätte sich mit der Aktion fast selbst ruiniert.
Kurz vor seinem Tod musste Reichenbach hinnehmen, dass Pfitzer, Hofmeisters Nachfolger in Heidelberg, die Pflanze in die neue Gattung Paphiopedilum (Venusschuh) versetzte. In seinem Testament verfügte er, sein Herbarium solle 25 Jahre nach seinem Tod unangetastet bleiben. Der eitle Forscher hoffte so, seine Bedeutung für die Nachwelt zu steigern. Tatsächlich bewirkte er erhebliches Chaos in der Orchideenforschung, da für 25 Jahre niemand potenzielle Neufunde mit seiner Sammlung vergleichen konnte. Sowohl Hofmeister als auch Pfitzer gelten heute als bedeutendere Botaniker. Sanders Gärtnerei litt unter dem Rückgang des englischen Orchideenwahns wie auch unter der Art des Chefs, mit Geld umzugehen, bis ihr die Folgen des Ersten Weltkriegs schließlich den Garaus machten. Spicers Venusschuh jedoch gedeiht bis heute in Orchideensammlungen weltweit.