Mein Erasmus Semester in Tallin
Meine Entscheidung für ein Erasmussemester in Tallinn war tatsächlich eher spontan. Was mich überzeugte, waren die guten Reisemöglichkeiten (Helsinki ist in zwei Stunden mit der Fähre zu erreichen, St. Petersburg und Riga in ca. sechs Stunden mit dem Bus) und der Ruf Estlands, als das digitale Land Europas. Außerdem freute ich mich darauf, an der Tallinn University Kurse im Bereich Human-Computer-Interaction belegen zu können.
Studium an der Tallinn University
Das Studiensystem in Estland, bzw. an der Tallinn University, unterscheidet sich von meinen Studienerfahrungen in Deutschland insofern, dass die Seminare nicht mit einer Hausarbeit oder Projektarbeit abgeschlossen werden, sondern dass für jede Sitzung „Hausaufgaben“ erledigt werden müssen (je nach Kurs heißt das Texte lesen, Konzepte erstellen, Projektideen entwickeln, Position Paper schreiben…) und man somit in relativ kurzer Zeit einen breiten Überblick erhält, es jedoch weniger die Möglichkeit gibt, in die Tiefe zu gehen. Obwohl ich das Studiensystem in Deutschland bevorzuge, hat mir das Studium an der Tallinn University sehr viel Spaß gemacht, insbesondere der Estnisch-Kurs und die Kurse des Masters in Human-Computer-Interaction, die ich belegen konnte. Glücklicherweise ist es an der Tallinn University möglich, als Erasmus-StudentIn fakultätsübergreifend Kurse zu belegen und man kann (nach Absprache) auch Kurse anderer Fakultäten belegen (dies gilt jedoch nicht für die Kurse der Baltic Film and Media School (BFM), die nur für Studierende offen sind, deren Heimatuniversitäten einen Kooperationsvertrag mit der BFM haben).
Die Betreuung durch die Mitarbeiter*innen der Tallinn University ist sehr gut, es lohnt sich für die Introduction Week bereits anwesend zu sein.
Es gibt eine unübersichtliche Anzahl an ESN-Gruppen, die unermüdlich Veranstaltungen organisieren und Reisen anbieten. Ich selbst war auf keiner ESN-organisierten Reise, habe aber von anderen gehört, dass sie Spaß hatten, auch wenn der Zeitplan in der Regel sehr eng war und es keinen Raum für eigenes Erkunden gab
Wohnen in Tallinn
Der Großteil der Erasmus-Studierenden in Tallinn ist in Student Dorms untergebracht, in denen man sich in der Regel zu zweit oder zu dritt ein Zimmer teilt und dann zu zehnt die Küche. Da ich gerne ein Zimmer für mich allein haben wollte, trat ich schon früh diversen Facebook-Gruppen für die Zimmersuche bei, um darüber ein Zimmer in einer WG zu finden. Am Ende hatte ich sehr viel Glück mit dieser Strategie, da eine Estin auf mein Zimmergesuch reagierte, das ich in einer Tallinn Erasmus Gruppe gepostet hatte. So fand ich also ein Zimmer in einer 2er-WG in einem sehr beliebten Stadtteil Tallinns – in Kalamaja. Im Rückblick bin ich immer noch sehr froh mit meiner Entscheidung gegen ein Student Dorm, ich denke aber auch, dass ich dadurch eine ziemlich andere Erasmus-Erfahrung hatte, als der Großsteil der Erasmus Studierenden. Sich zu zehnt eine Wohnung und zu zweit oder zu dritt ein Zimmer zu teilen ist eine sehr intensive Erfahrung, die wahrscheinlich auch mal nervt, gleichzeitig aber auch dafür sorgt, dass man schnell Anschluss findet.
Wie vermutlich in jeder „Erasmus“-Stadt gibt es auch in Tallinn Firmen und Einzelpersonen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie Erasmus-Studierenden überteuerte Zimmer mit eher schlechten Konditionen anbieten. Eine estnische Bekannte meinte zu mir, dass es in Tallinn möglich sein sollte, ein Zimmer für 200-250€ zu finden, 300€/Monat sollte man nur für ein sehr gut ausgestattetes und gut gelegenes Zimmer bezahlen (Stand: 2018). Die Realität der meisten Erasmus-Studierenden, die nicht im Wohnheim unterkommen, sieht anders aus, aber vielleicht hilft das ja trotzdem als ungefährer Richtwert. Weiterer Tipp: in den Wintermonaten vermieten einige Hostels auch längerfristig Zimmer
Leben in Tallinn
Im Schnitt würde ich sagen, dass die Lebenshaltungskosten in Tallinn ähnlich zu denen in Berlin sind. Wenn man Glück hat, zahlt man deutlich weniger Miete, in den meisten Fällen aber wahrscheinlich ungefähr gleich viel. Nahrungsmittel kosten an sich gleich viel, manches ist günstiger, anderes ist teurer. Alkohol kostet in Bars mehr als in Deutschland.
Sobald man sich registriert und seine estnische ID-Card erhalten hat, kann man den öffentlichen Verkehr in Tallinn kostenlos nutzen. Wenn man einigermaßen zentral wohnt, lassen sich aber auch die meisten Orte fußläufig in 10-30 Minuten erreichen.
Fast überall kann man in Tallinn mit der Karte bezahlen, somit ist man nicht darauf angewiesen immer Bargeld dabei zu haben.
- Bars
NoKu – beliebte und gemütliche Bar in der Altstadt Tallinns, sie befindet sich im ersten Stock und man benötigt einen Code um unten reinzukommen
Red Emperor – die meisten Erasmus Studierenden gehen hauptsächlich in diese Bar
- Essen
Balti Jaama Turg – im Erdgeschoss (in Estland ist das der 1. Stock) viele Streetfood-Stände, im 1. Stock Ramsch- und Designläden
Kaja Pizza Köök – etwas versteckt, aber die beste Pizza Tallinns in gemütlicher Atmosphäre
- Kultur
Estnisches Nationalmuseum in Tartu – hier kann man definitiv mehrere Stunden verbringen und etwas über die estnische Geschichte lernen
Estonishing Evenings – tolle Eventreihe in Telliskivi (mehr Infos auf fb)
Black Nights Film Festival – tolles Programm, sehr günstige Preise und entspanntes Ticketkaufen (in Bezug auf die letzten beiden Punkte absolutes Gegenprogramm zur Berlinale)
Kumu Dokumentaal – jeden Mittwochabend zeigt das Kumu (Kunstmuseum) einen Dokumentarfilm, Eintritt ist kostenlos, die Einführung (auf Estnisch) kann auch mal eine halbe Stunde dauern, aber ich habe dort tolle Filme gesehen
- Queeres/Feministisches Leben in Tallinn
OMA Keskus – Estnischer LGBT Center, mit tollen Veranstaltungen und gemütlichen Räumlichkeiten, über den fb-Account werden viele queere Veranstaltungen geteilt
Kohvik August – queer-friendly Café/Bar
Feministeerium – veröffentlicht zu feministischen Themen (in der Regel auf Estnisch, soweit ich weiß ist aber eine englische Version in Planung)
Studienfach: Europäische Medienwissenschaft
Aufenthaltsdauer: 08/18-01/19
Gastuniversität: Tallinn University
Gastland: Estland
Rückblick
Tallinn ist eine kleine, gemütliche Stadt direkt am Meer, die für ein halbes Jahr viel zu bieten hat und die zunächst mich und dann meine Besucher*innen mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern begeistert hat. Die Nähe zu Russland und die Sowjet-Geschichte Estlands waren für mich als (West-)Deutsche zudem sehr interessant. Mir persönlich hat das Studium sehr gut gefallen, aber ich denke das hängt immer von der jeweiligen Kurswahl ab.
Die anderen Erasmus-Studierenden waren in der Regel zwischen 19-22 Jahre alt. Wenn ihr also schon im Master seid und tendenziell „langsam“ studiert, solltet ihr euch darauf einstellen unter euren Erasmus friends der*die (mit Abstand) Älteste zu sein.