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Angehende Geschichtslehrer und -lehrerinnen in der Virtual Reality – Ein innovatives Lehrprojekt

Innovative Lehrprojekte 2020

Blick ins virtuelle Klassenzimmer | Foto: Axel Wiepke
So könnte das virtuelle Lernen mit VR-Brille und Controllern – auch in Corona-Zeiten – aussehen. | Foto: Axel Wiepke
Photo : Axel Wiepke
Blick ins virtuelle Klassenzimmer
Photo : Axel Wiepke
So könnte das virtuelle Lernen mit VR-Brille und Controllern – auch in Corona-Zeiten – aussehen.
Virtual Reality in der Lehramtsausbildung ist in Potsdam schon Wirklichkeit. Die Geschichtsdidaktikerin Prof. Monika Fenn und ihr Mitarbeiter Jakob Arlt sowie die Informatikerin Prof. Ulrike Lucke und ihr Mitarbeiter Axel Wiepke haben eine virtuelle Lernumgebung für angehende Geschichtslehrerinnen und -lehrer entwickelt. Ihr dazugehöriges Seminar fördert die Universität Potsdam (UP) als besonders innovatives Lehrprojekt. Magda Pchalek sprach mit ihnen über virtuelle Probleme, echte Erfahrungen und warum VR im Studium für angehende Lehrerinnen und Lehrer hilfreich ist.

Eine Ihrer Lehrveranstaltungen wird von der Unileitung als „innovatives Lehrprojekt“ gefördert. Worum geht es dabei?

Monika Fenn: Lehramtsstudierende an der UP und deutschlandweit wünschen sich eine engere Verknüpfung von Theorie und Praxis bereits im Studium. Auch aus empirischer Sicht ist dies durchaus anzustreben: Bereits bei der Beobachtung von Lehrkräften während der eigenen Schulzeit verankern sich (oft ungünstige) Lehrmuster; diese überdauern das Studium, manifestieren sich unter ungünstigen Bedingungen sogar und halten sich bis in die Berufsphase. Gezielte praktische Interventionen zum Unterrichtshandeln und theoretisch gestützte Reflexionsprozesse im Studium können dem entgegenwirken und den Kompetenzerwerb gezielt fördern. Mit unserem Projekt bietet sich die Möglichkeit, die Potenziale digitaler Technik für ein derartig gestaltetes, Theorie und Praxis verknüpfendes Lehramtsstudium gewinnbringend zu nutzen.

Jakob Arlt: Konkret heißt das, dass wir gemeinsam mit dem Team von Frau Lucke ein virtuelles Klassenzimmer als praktischen Übungsraum für Unterrichtshandeln, speziell für den Geschichtsunterricht, entwickelt haben. Über die Möglichkeit der Immersion schaffen wir wertvolle Praxisnähe für die (Geschichts-)Lehramtsstudierenden. In der virtuellen Lehr-Lernumgebung versetzen wir diese in eine Unterrichtssituation, in der sie ein impulsgesteuertes Unterrichtsgespräch in einer Auswertungsphase von Geschichtsunterricht führen müssen. Es soll die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, über die Konstruiertheit und Perspektivität von Deutungen und Werturteilen nachzudenken und dies zu artikulieren.

Monika Fenn: Unsere inhaltliche Wahl fiel auf diesen Aspekt, weil es Schülerinnen und Schülern Schwierigkeiten bereitet, über Geschichtskultur verbreitete Sach- und Werturteile anderer zu durchschauen. Leider werden gerade über Social Media-Angebote im Netz Meinungen verbreitet, die auf kein triftiges Sachurteil zurückzuführen sind. Nicht haltbare Narrative werden häufig als Meistererzählung einer scheinbar eindeutig rekonstruierbaren Vergangenheit verbreitet. Im Projekt möchten wir Studierende über die digitalen Möglichkeiten des VR-Geschichtsunterrichts befähigen, problemorientierte Lernsettings selbst zu realisieren, unter deren Nutzung sich Schülerinnen und Schüler diesen Sachverhalt selbst erschließen.

Was macht sie innovativ?

Axel Wiepke: Für Erfahrungen zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern werden traditionell Videos, Texte oder Schauspiel als Lernmedium eingesetzt. Im Vergleich dazu besticht die virtuelle Lernumgebung durch den hohen Grad an Immersion, die Möglichkeit zu interagieren und zugleich Umgebungen und Abläufe zu standardisieren sowie Datenschutz und Privatsphäre zu wahren. Sich in eine Situation hineinversetzen zu können, wird durch diese Technologie gut unterstützt. Neben dem bisher noch unüblichen Einsatz von VR in Lehre und Ausbildung bringen wir in dem Projekt eine neue Art von Interaktion mit virtuellen Agenten ein. Auf Basis eines Strukturbaums können Unterrichtsgespräche zu einem bestimmten Thema geführt werden. Dieser wurde so konzipiert, dass er offen genug für authentische Impulse der Lehrperson ist und zugleich spezifisch genug für die Lenkung des Gesprächs. Darüber hinaus wurde darauf geachtet, die Themen des Gesprächsbaums austauschbar zu gestalten, um diesen langfristig auf die Bedarfe anderer Fachdisziplinen transferieren zu können.

Warum wollten Sie mal etwas anders machen?

Axel Wiepke: Nach meinem Lehramtsstudium war ich eher ernüchtert angesichts der wenigen Möglichkeiten, sich mit dem Verhalten von Schülerinnen und Schülern auseinanderzusetzen. Als ich ein paar Jahre später vor einer realen Klasse stand, mit 30 verschiedenen jungen Persönlichkeiten, sah ich mich mit diversen Problemen konfrontiert. Ich war aufgeregt, die gelernten „Rezeptlösungen“ schienen mir reduktiv, und die Schülerinnen und Schüler verhielten sich auf einmal wie Kinder, was mich völlig unerwartet traf. Ein paar von ihnen spielten mit Sammelkarten aus „meiner“ Schulzeit oder diskutierten über aktuelle politische Themen; eine Schülerin wollte mir unbedingt vom Goldfisch ihrer Eltern erzählen und – wahrscheinlich für mich am wenigsten zu erwarten: Eine Gruppe wollte unterrichtet werden. Auf solche Situationen fühlte ich mich durch mein Studium nicht ausreichend vorbereitet. Daher wollte ich eine Umgebung schaffen, in der sich die erste Berührung mit einer Klasse erleben lässt. Natürlich ersetzt keine Trainingsmethode den ersten realen Kontakt mit einer Klasse, doch sollte es die Möglichkeit geben, sich bestmöglich vorzubereiten.

Wie entstand die Idee für das Projekt?

Ulrike Lucke: In einem Meeting sprachen Frau Fenn und ich über Ansätze für mediengestützte Lehre. Sie berichtete mir von den Problemen, passende Lehrvideos für den Einsatz in der Geschichtsdidaktik zu finden. Ich erzählte ihr von unserem VR-Klassenzimmer, das wir einmal für das Training im Umgang mit Unterrichtsstörungen entwickelt hatten. So entstand die Idee, praxisnahe Filme in der Virtuellen Realität zu produzieren. Im Austausch mit den Mitarbeitern unserer Teams haben wir den Gedanken dann schnell um die Unterstützung von Unterrichtsgesprächen erweitert.

Monika Fenn: Unterrichtsgespräche im Geschichtsunterricht so zu führen, dass diese die Schülerinnen und Schüler zum eigenen Reflektieren anregen, ist sehr anspruchsvoll. Studien zeigen, dass Studierende, aber auch Lehrkräfte mit langjähriger Berufserfahrung häufig engführende Fragen stellen und Unterrichtsergebnisse am Ende des Gesprächs selbst referieren. Dies geschieht auch dann, wenn sie selbst davon überzeugt sind, die Schülerinnen und Schüler selbst auf die Erkenntnisse kommen zu lassen. Forschungsergebnisse legen nahe, dass eine gezielt angelegte Lernumgebung und ein impulsgesteuertes Unterrichtsgespräch dem entgegenwirken. Wir haben bereits sehr gute Erfolge in der Förderung von Gesprächskompetenz im Geschichtsunterricht bei Studierenden in unseren Lehrveranstaltungen erzielt, wenn diese Best-Practice-Beispiele in Form von Unterrichtsvideos beobachtet und reflektiert haben. Diese sind allerdings Mangelware. Die VR-Umgebung bietet einerseits Studierenden die Chance, Gespräche mit virtuellen Schülerinnen und Schülern selbst zu erproben, und andererseits die Möglichkeit, diese Unterrichtsversuche per Video mitzuschneiden, sodass im Optimalfall ein Best-Practice-Videopool entsteht.

Gibt es in der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und -lehrern schon vergleichbare Projekte oder sind Sie da Vorreiter?

Jakob Arlt: Unser großer Standortvorteil liegt in der hier in Potsdam möglichen gemeinsamen Arbeit mit dem Team des Lehrstuhl für komplexe multimediale Anwendungsarchitekturen, das dieses VR-Klassenzimmer erschaffen hat. Die Möglichkeit einer solchen direkten Zusammenarbeit verbindet Erfahrungen und Kompetenzen aus unseren beiden Forschungsbereichen, was wertvolle Synergieeffekte bewirkt: Das von Axel Wiepke entwickelte und bereits preisgekrönte VR-Klassenzimmer haben wir nun mit Inhalten der Geschichtsdidaktik verknüpft, indem wir an Forschungsergebnisse angedockt und Pfade für mögliche Antworten der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Sach- und Werturteilsbildung auf verschiedenen Niveaustufen entwickelt haben.
Monika Fenn: Diese Antizipation war eine große geistige Herausforderung. Denn die Theorie zur Sach- und Werturteilsbildung musste zunächst praktisch in einem Lernsetting und einer möglichst optimalen Gesprächsführung übersetzt werden. Soweit mir bekannt, gibt es im europäischen Raum keine VR-Projekte, die in einem VR-Klassenzimmer fachspezifischen Unterricht simulieren. Es existieren bislang allenfalls vereinzelt Beispiele dafür, AR in der Lehramtsausbildung einzusetzen. Wir sind da also tatsächlich Vorreiter. Daher erfordert das Projekt auch gründliches Vorgehen, sehr viele Überlegungen und wohl auch einige Probedurchläufe zur Optimierung.

Was erhoffen Sie sich von der LV?

Monika Fenn: Das von uns in vergangenen Lehrveranstaltungen eingesetzte Peer-Teaching zeigte bei einer solchen Erprobung durchaus positive Effekte bei der Entwicklung von Gesprächskompetenz im Geschichtsunterricht. Mit dem VR-Klassenzimmer haben wir nun einen möglicherweise optimierten „Trainingsraum“, da wir im virtuellen Rahmen die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler noch besser simulieren können. Zudem ist dieses Übungsmedium mit geringer Variablenbreite einsetzbar, was auch aus empirischer Sicht vorteilhaft ist. Hinzu kommt unsere Erwartung, die Studierenden gezielt zur Reflexion ihres Gesprächshandelns anzuregen. Wir zeichnen die Versuche der Studierenden im VR-Klassenzimmer auf. In der Lehrveranstaltung selbst reflektieren die Studierenden anhand der Test-Videos die eigene Gesprächsführung kritisch, entwerfen mit dem Coach alternative Handlungsmöglichkeiten und üben diese erneut in der VR-Umgebung. So können unbewusst gespeicherte Gesprächsmuster gelöscht und durch geeignete ersetzt werden.

Ulrike Lucke: Für die Forschung in der Bildungstechnologie ist es unerlässlich, die eigenen Entwicklungen auch in der Praxis zu erproben, um zum Beispiel empirische Daten zu Wirkmechanismen und Wirkungen – beabsichtigt oder nicht – zu erhalten. Nur wenn wir verstehen, wie Lehren und Lernen mit digitalen Medien funktioniert, können wir qualitätsvolle Angebote entwickeln.

Was sollen die Lehramtsstudierenden didaktisch mitnehmen? Was erhoffen Sie sich für die didaktische Ausbildung durch Virtual Reality?

Axel Wiepke: Über Virtual Reality können emotionale Situationen erzeugt werden, ohne eine physische oder gesellschaftliche Gefahr für Lehramtsstudierende oder Schülerinnen und Schüler zu erzeugen. Weiterhin bietet es eine Selbstlernumgebung, die Studierende zu jeder Zeit nutzen können, um Gelerntes anzuwenden oder Situationen nachzustellen. Zudem kann unser Projekt die professionelle Selbstreflexion unterstützen, eine Plattform für den Theorie-Praxis-Bezug bieten. Weiterhin ist es möglich, auch ohne physische Nähe bestimmte Unterrichtssituationen durch die Übermittlung von Konfigurationen des VR-Klassenzimmers mit anderen Lehrenden zu analysieren.

Ulrike Lucke: Im Endeffekt erhoffe ich mir durch den selbstverständlichen Einsatz digitaler Medien im Studium – vor allem im Lehramt – auch eine Stärkung der Medienkompetenz und Mediennutzung in Schulen. Nicht erst seit Corona wissen wir, wie groß der Nachholbedarf hier ist.

Monika Fenn: Dabei streben wir an, den Studierenden die technischen Möglichkeiten und Grenzen von Digitalisierung, z.B. mit VR aufzuzeigen und dadurch auch kritisch im Umgang mit digitalen Medien zu machen. Mit Blick auf den didaktischen Einsatz erhoffen wir uns, das VR-Klassenzimmer zum Gesprächstraining im Geschichtsunterricht deutschlandweit an Universitäten einsetzen und testen zu können, um langfristig damit einen zuverlässigen Übungsraum, ggf. auch für andere Fachbereiche, zu schaffen.

Gibt es erstes Feedback der Studierenden?

Jakob Arlt: In den begleitenden Seminaren gab es schon vielfach positives Feedback von den Studierenden. Ihnen gefiel unter anderem die Idee, an der Weiterentwicklung des VR-Klassenzimmers beteiligt zu sein und so vielleicht zukunftsweisende Technologie für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern mitzugestalten. Zudem sahen die Studierenden neben der Stärkung ihrer Medienkompetenz auch die Möglichkeit, praxisnah die Kompetenz impulsgesteuerter Gesprächsführung im Geschichtsunterricht zu entwickeln.

Innovative Lehrprojekte

Mit der Förderung innovativer Lehrprojekte unterstützt die Universität Potsdam die Weiterentwicklung der Lehre sowie den hochschulweiten Austausch über Lehrqualität und Lehrinnovation. Im Zentrum stehen dabei Lehrprojekte, die in besonderer Weise die Schwerpunkte des Leitbilds Lehre der Universität Potsdam aufgreifen. Dazu gehören Forschungsorientierung, Studierenden- und Kompetenzorientierung, interdisziplinäre und fachübergreifende Lehre, Tätigeitsfeldorientierung und Persönlichkeitsbildung sowie zielgruppenspezifische Lehre.

Eine Übersicht aller 2020 geförderten innovativen Lehrprojekte gibt es hier: https://www.uni-potsdam.de/de/zfq/innovative-lehrprojekte/projektuebersicht-2020

Informationen zur Ausschreibung für eine Förderung über die „Innovativen Lehrprojekte“ im Jahr 2021 gibt es hier: https://www.uni-potsdam.de/de/zfq/innovative-lehrprojekte