Die Dekonstruktion von Stereotypen in Comics anhand des Beispiels „Sturmtruppen“ von Bonvi
In der Comic Art, der sogenannten „neunten Kunst“ (Lacassin 1971), sind Stereotype ein gängiges Erzählverfahren. In dieser Analyse wird es die schon oftmals problematisierte Definition von Comic nicht näher betrachtet, es sei aber kurz darauf hingewiesen, dass der Comic ein hybrides Genre zwischen Literatur und bildender Kunst ist. Nach Groensteen (2014) ist der Comic ein Hybrid, weil er zwei unterschiedliche Sprachen bzw. zwei codes miteinander verbindet und verflicht: die Sprache des Wortes und die Sprache des Bildes.
"Diese Mischung der Ausdrucksformen im Comic macht seine Lektüre so besonders. Es handelt sich um eine sowohl geschriebene als auch gezeichnete Erzählung – doch allein die Art und Weise der Wahrnehmung von Text und Bild ist vollkommen verschieden: Das Lesen eines Textes ist Dechiffrierung, während das Lesen eines Bildes kraft seine analogen, mimetischen Charakters auf dem Prinzip des (Wieder-)Erkennens, der Unmittelbaren Identifizierung sowie der Interpretation beruht." (Groensteen: 36)
Um die gezeichneten Bilder lesen bzw. dechiffrieren zu können, nutzt der Leser das Prinzip des (Wieder-) Erkennens, welches ebenso ein gängiges Prinzip in der Werbung ist. Die gezeichneten Bilder werden durch die Stereotypisierung mit typischen Eigenschaften der Referenz dargestellt.
"...The stereotype is a fact of life in the comics medium. It is an accursed necessity- a tool of communication that is an inescapable ingredient in most cartoons. Given the narrative function of the medium, this should not be surprising. Comic book art deals with recognizable reproductions of human conduct. Its drawings are a mirror reflection, and depend on the reader’s stored memory of experience to visualize an idea or process quickly. This makes necessary the simplification of images into repeatable symbols. Ergo, stereotypes." (Eisner 1996b: 11)
Sie können nach Will Eisner (1996b) als spezifische Erzählweise und semiotische Notwendigkeit des Comics gesehen werden.
Nach Frahm (2010:11) haben die Comics bereits im 20. Jahrhundert eine parodistische Ästhetik etabliert, die:
"...die rassistischen, sexistischen und klassenbedingten Stereotypen reproduziert und zugleich aufgrund ihrer immanent erkenntniskritischen Anlage reflektiert – durch den operationalisierten Modus der Wiederholung in der Konstellation von Bild und Schrift einerseits, die Serialisierungen von Bildern, Figuren und Geschichten andererseits."
Es wird dadurch ein spezifisches parodistisches, aber auch politisches Potenzial des Comics anerkannt. Comics parodieren gemäß Frahm (2010:36) die Vorstellung eines Vorgängigen jenseits des Zeichens:
"Sie sind eine Parodie auf die Referenzialität der Zeichen. Sie parodieren die Vorstellung, dass Zeichen und Gegenstand etwas miteinander zu tun haben sollen."
In dieser Arbeit soll von der Hypothese ausgegangen werden, dass in Comics Stereotypen auf eine eigene Art und Weise dekonstruiert werden können. Durch Verwendung von veralteten Stereotypen und Serialisierung von Bildern, Figuren und Geschichten wird ein Gegenstand bzw. die Realität parodiert. Übertreibung, Ironie und Parodie sind in diesem Sinn als strukturelle Elemente der Comic Art zu sehen. Diese Elemente begründen eine politische parodistische Ästethik des Comics (vor allem des Comics ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts), die im Folgendem am Beispiel der italienischen Comic-Serie Sturmtruppen von Bonvi analysiert werden soll. Diese Serie gehört zur Untergruppe der satirisch-humoristischen Antikriegscomics, die zuerst im folgenden Abschnitt für ein besseres Verständnis der Comic-Serie Sturmtruppen erläutert wird.
Soldaten zum Lachen: Satirisch-humoristische Antikriegscomics
Der Krieg, das militärische Leben und seine Widersprüche sind seit der Entstehung der Gattung im 19. Jahrhundert eine wichtige Quelle für humoristische Antikriegscomics. Die ersten „Soldaten zum Lachen“, die ein wichtiges Vorbild für Sturmtruppen waren, findet man schon zwischen 1890 und 1896, in der französischen Comic-Strip- Reihe „Les Facéties du sapeur Camember” von Cristophe (Abb. 1), veröffentlicht im Feuilleton Le Petit Français illustré.
Camember ist ein ungelernter Soldat, ein „sapeur“ (dt. Sappeur oder Steinhauer), ein Truppenhandwerker der französischen Armee im 19. Jahrhundert. Sein Schöpfer ließ Camember ein Französisch voller Hyperkorrekturen sprechen, das von ihm selbst als kultivierte Sprache empfunden wird. Es werden die Autoritätsverhältnisse sowie die Unfähigkeit Camembers, die Sprache der Oberen zu verstehen, dargestellt.
Ein weiteres Vorbild für Sturmtruppen war die italienische Comic-Strip-Reihe Marmittone (Abb. 2). Sie stammt aus der faschistischen Epoche, zwischen 1928 und 1942 und wurde von Bruno Angoletta in der Zeitung für Kinder und Jugendliche “Corriere die piccoli” veröffentlicht. Marmittone bedeutet zunächst „großer Topf“, damit war der große Kessel gemeint, in dem für die Soldaten gekocht wurde. Im militärischen Jargon wird mit marmittone aber auch ein unfähiger und unerfahrener Rekrut bzw. Neuling bezeichnet. Dieser Comic thematisiert die Autoritätsverhältnisse und die Unsinnigkeit der militärischen Disziplin, ein Motiv, das im Comic Sturmtruppen wiederkehrt. Der Protagonist endet in fast allen Episoden aufgrund seiner Naivität und seiner Unfähigkeit sich zu disziplinieren im Gefängnis.
Eine parodierende nicht realistische Darstellung des Krieges und des militärisches Leben ist erst zur Zeit des Koreakrieges in den USA zu finden. Beispielsweise in der amerikanischen Strip-Reihe Beetle Bailey (Abb. 3). Bailey ist ein einfacher Soldat, welcher seine Abenteuer in Camp Swampy besteht. Dazu tauchen regelmäßig die gleichen Nebencharaktere, wie sein Sergeant und der Koch der Einheit, auf. Bailey ist berüchtigt für seine Faulheit und seine Disziplinlosigkeit.
Parodistische Stereotypen in Sturmtruppen
Sturmtruppen (http://www.bonvi.it/sturmtruppen) ist eine satirische, italienische Antikriegs-Comicstrip-Reihe. Sie wurde von Bonvi, Pseudonym für Franco Fortunato Gilberto Augusto Bonvicini (Parma 1941- Bologna 1995), erdacht und gezeichnet. Die ersten Episoden wurden ab 1968 täglich im Vier-Bilder-Format in der Zeitung „Paesesera“ veröffentlicht und arbeiten die Sinnlosigkeit des Krieges und die Groteske des Soldatenlebens heraus. Zeitgeschichtlicher Hintergrund ist die 1968er-Bewegung und die in den USA entstandenen Proteste gegen den Vietnamkrieg.
Der Korpus der Analyse basiert auf einer thematischen Sammlung online. Die Comic-Strips des Korpus bestehen in 90% der Fällen aus zwei oder drei Panels. Trotz dieser Kürze erzählen die Panels eine Geschichte, wie ein Erzählung, eine Kurzgeschichte oder einen Kurzfilm. Es gibt eine Ausgangssituation und eine Endsituation, die Figuren agieren zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem mehr oder weniger bestimmten Ort (Abb. 4).
Historischer Schauplatz des Comics ist der Zweite Weltkrieg. Protagonisten des Comics sind fiktive Kampfeinheiten, die anachronistisch Sturmtruppen[2] genannt werden. Es handelt sich um ein Bataillon anonymer Soldaten, die gegen einen sehr selten in Erscheinung tretenden Gegner kämpfen. So stehen der Überlebenskampf und die Alltagsprobleme wie sexuelle Enthaltsamkeit, soziale Hierarchien und Essensversorgung im Mittelpunkt.
Die Themen und Figuren des Comic-Serie wiederholen sich von Strip zu Strip, so wird ein effizientes und schnelles Wiedererkennen der Figuren ermöglicht. Die Verknüpfung von einem Comic-Strip mit dem nächsten erfolgt in Sturmtruppen über eine Gag-Struktur ohne einen spannungsbildenden Cliffhanger.
Die dargestellten Figuren sind karikaturistisch gezeichnet, kleine tollpatschige Männchen, die riesige Stahlhelme tragen (Abb. 5).
Ein visueller Stereotyp der deutschen Soldaten, besteht in einem großen, gut gebauten Körper und blondem Haar. Die Sturmtruppen von Bovi besitzen jedoch kein „teutonisches Äußeres“, ausgenommen ihrer Uniformen. Sie sind dagegen klein, meistens übergewichtig und besitzen riesige Nasen unter gewaltigen Stahlhelmen.
Diese Figuren werden parodistisch von Panel zu Panel wiederholt, wodurch Bonvidas das Soldatenleben und den Krieg lächerlich macht. Der Autor ist nicht daran interessiert, veraltete Stereotypen zu verbreiten, sein Ziel ist es hingegen, die Frage nach dem Sinn des Krieges zu stellen.
Der angedeutete Stereotyp des deutschen Soldaten steht in Sturmtruppen nur im Hintergrund. Es wird davon ausgegangen, dass die Soldaten der Wehrmacht effizient und folgsam seien. Ihre Kadergehorsamkeit wird lächerlich gemacht, sie wird als total und oft irrational dargestellt, auch bezüglich unsinniger Befehle. Die Übertreibung dieser kulturellen Eigenschaften der deutschen Soldaten hat das Ziel, den erwachsenen Leser zum Lachen zu bringen. Darüber hinaus sprechen die fiktiven Einheiten ein verdeutschtes Italienisch, das „tedeschese“[3]. Solche sprachlichen Stereotype bzw. Stereotype über eine (fremde) Sprache sind ein wichtiger Teil der ethnischen Stereotypisierungen. Die Sprache der anderen wird parodiert, imitiert, das geschieht oft, indem der Akzent eines nicht Einheimischen imitiert wird, wie es der Fall bei Sturmtruppen ist (Abb. 6).
Bonvi lässt die Soldaten ein verdeutschtes Italienisch sprechen, indem er bei jedem zweiten Wort die Endung „en“ anhängt (Sentinellen /allarmen /arruolaten /patrien/) und die phonologischen Merkmale der deutschen Sprache im Italienischen imitiert (arrifano/folontario/credefo/afesse); der italienische, stimmhafte Labiodental-Frikativ /v/ (wie in „volontario“ oder Welt) wird zum stimmlosen Labiodental-Frikativ /f/ („folontario“ oder brav und viel).
Es sind auch stereotypisierte Charaktere im Comic zu finden, die die italienischen Alliierten der Sturmtruppen darstellen, so z.B. Galeazzo Musolesi. Sein Name erinnert an Benito Mussolini und Galeazzo Ciano (Propagandaminister des italienischen Faschismus, verheiratet mit Edda Mussolini), aber auch an Mario Musolesi, italienischer Partisan, der den Faschismus bekämpfte. Schon in der Auswahl der Namen dieser Figur sind die satirischen Absichten von Bonvi deutlich zu erkennen. Durch den stereotypisierten Namen nimmt Bonvi an der politischen Debatte seiner Zeit teil. Bildlich wird diese Figur solchermaßen dargestellt:
Galeazzo Musolesi trägt einen Schnurrbart, die uns bekannt vorkommt (Eine parodierende Darstellung des Schnauzbartes von Franco und Hitler, obwohl sein stilisiertes Aussehen mehr an den spanischen Diktator Franco erinnert) (Abb. 7).
Sein Verhalten trägt alle Stereotype zusammen, die über den italienischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg verbreitet waren. In vielen amerikanische Comics des Golden Age sind italienische Soldaten als Feiglinge und Verräter dargestellt, die nicht einmal in der Lage sind, sich als ein Volk zu identifizieren und gemeinsam für ihre Heimat zu kämpfen. Dieser Stereotyp entstand insbesondere während der langwierigen italienischen Nationsbildung und beeinflusst durch das, im Anschluss an das Risorgimento entstandene Nord-Süd-Gefälle. Galeazzo Musolesi ist einer dieser sterotypisierten italienische Soldaten, ein Angsthase und Egoist, der immer versuchtm seine Alliierten sowie seine Kameraden zu betrügen. Er ist eine Persiflage der italienischen Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Durch Übertreibung (Hyperbel), Verzerrung, Parodie und Ironie werden die stereotypisierten Charakteristiken der Figuren in Satire verwandelt.
Bonvi kritisiert den Krieg sowie das militärische Leben und seine Wertvorstellungen durch Pointen, die den Leser zuerst amüsieren und dann zum Nachdenken anregen. Er bedient sich dabei bekannter und schon verbreiteter Stereotype von italienischen Alliierten, den Deutschen sowie von der „deutschen Sprache“. Diese Elemente werden im Comic parodistisch genutzt.
Fazit
Seit der Entstehung des Comics fanden viele engagierte Zeichner in der Comic-Art die natürliche Weise, sich über die politischen und gesellschaftlichen Themen ihrer Zeit auszudrücken. Ab den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere in den tabubrechenden Underground-„Comix“, wurden zunehmend Begriffe und Motive des politischen Mainstreams angeeignet. Schlagworte und Ikonen des politischen Diskurses wurden aufgegriffen und dekonstruiert. Durch Rekontextualisierung inmitten der anderen Bilder bedeutete das gewohnte politische Bild nunmehr nicht mehr dasselbe.
In dieser Zeit wurde das politische und revolutionäre Potential der Comics erkannt. So nahm auch Bonvi, der Autor von Sturmtruppen, wie viele andere Künstler, Schriftsteller und Comic-Zeichner, am politischen Diskurs der „Sessantotto“, einer Epoche der kulturellen und sozialen „Revolution“, teil. Nach Packard[4] sind die Inhalte der Comics kontextspezifisch: In einem anderen Gattungskontext wird der gleiche Inhalt anders verhandelt. Die karikaturesken Darstellungen in Comics verstärken die Komplexität des Stereotyps und brechen mit dessen einfacher Zuordnung. Dadurch werden veraltete oder negative Stereotype verarbeitet und dekonstruiert. Comics können demnach politisch werden, indem sie durch verspottende Nachahmung und Umkehrung von Stereotypen gesellschaftsrelevante Themen auf neue Weise problematisieren und verhandeln.
Fußnoten:
[1] eigene Übersetzung
[2] Die Sturmtruppen bzw. Sturm-Bataillone waren eine von General Oskar von Hutier bei der Schlacht um Riga und Cambrai (1917- im Ersten Weltkrieg) erfolgreich erprobte Stoßtruppe.
[3] Verdeutschtes Italienisch.
Quellen:
- Eisner, Will (1996a), Graphic Story Telling. The Definitive Guide to Composing a Visual Narrative. Poorhouse Press, Tamarac, Fla. 1996.
- Eisner, Will (1996b); Graphic Story Telling and Visual Narrative. Principles and practices from the legendary cartoonist. W.W. Norton & Company, New York-London 2008.
- Fleischer, M. 1996a. „Stereotype und Normative aus der Perspektive der Systemtheorie“. In: Wiener Slawistischer Almanach. Bd. 37, S. 149-188.
- Frahm, Ole (2010): Die Sprache des Comics. Hamburg: Philo Fine Arts
- Groensteen, Thierry (2014): Zwischen Literatur und Kunst: Erzählen im Comic. In: APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb. Comics. 64. Jahrgang 33-34/2014, 11. August 2014.
- Lacassin, Francis (1971): Pour un neuvième art: la bande dessinée. Paris: Folio.
- Lippmann, Walter (1922) Public Opinion: http://www.gutenberg.org/cache/epub/6456/pg6456-images.html
- Lüsebrink, Hans-Jürgen (2005): Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart[1]
- Packard, Stephan: Wie können Comics politisch sein? In APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb. Comics. 64. Jahrgang 33-34/2014, 11. August 2014.
- Pätzold, M./Marhoff, L. 1998. Zur sozialen Konstruktion von „Stereotyp” und „Vorurteil”. In: Sprachliche und soziale Stereotype. Hrsg. von M. Heinemann. Frankfurt/M. u.a., S. 73-96. (= Forum Angewandte Linguistik. Bd. 33.
- Petersen, Thomas; Schwender, Clemens (Hrsg.) (2009); Visuelle Stereotype; Köln: Herbert von Halem Verlag.
- Prokop, I. 1995. Stereotype, Fremdbilder und Vorurteile. In: Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa. Hrsg. von M. Czyżewski/E. Gülich/H. Hausendorf/M. Kastner. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 180-202.
- TG3 Comics (23. März 2011). 150 anni di unità di stereotipi. Cliché meschini di italiani meschini nei comics della Golden Age. Online: http://www.rai.it/dl/tg3/articoli/ContentItem-f08c8623-16f2-4350-9c3e-3cd62e6f2506.html#sthash.91CS6ZHd.dpuf
Autorin | Anastasia Giardinelli |
Zeitraum | April 2016 |