Rap und Revolution im Senegal – Vorbild einer sich demokratisierenden Demokratie?
Die als „senegalesischer Frühling“ bezeichneten Unruhen, die sich 2011 mit der Gründung der Y‘en marre-Bewegung zuspitzten, und 2012 zum Rücktritt Abdoulaye Wades führten, sind ein Sonderfall unter den arabo-afrikanischen Aufbruchsbewegungen. Zum einen erhoben sich die Senegalesen nicht gegen eine Diktatur oder kämpften für die Einführung einer demokratischen Regierung, sondern mahnten den Erhalt einer vorhandenen demokratischen Verfassung und die tatsächliche Umsetzung der damit verbundenen Rechte der Bevölkerung ein. Zum anderen ging der Revolte ein langer Prozess der conscientisation voraus, der von der arbeitslosen Jugend im Lande initiiert und getragen wurde. Sie griff Ende der 1980er-Jahre die aus den USA kommende Hip Hop-Bewegung auf und nutzte v.a. die künstlerische Ausdrucksform des Rap als ein Instrument der Kritik und (politischen) Aufklärung bzw. Mobilisierung.
Senegal: Von der Unabhängigkeit zur Semi-Demokratie
Als der Senegal 1960 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, führte der sich gründende Nationalstaat eine an Frankreich orientierte, stark zentralisierte, bis heute währende Präsidialrepublik ein, die von drei Persönlichkeiten geprägt wurde: Léopold Sédar Senghor (1960-1980), Abdou Diouf (1980-2000) und Abdoulaye Wade (2000-2012). In der Amtszeit des ersten afrikanischen Staatschefs war nur die Union Progressiste Sénégalaise des Präsidenten zugelassen. Senghor betrieb einerseits eine an der Hochkultur des Westens orientierte Kulturpolitik. Die populären Musiktraditionen des eigenen Landes wurden kaum gefördert, obwohl sich Afrika anderseits durch das Konzept der Négritude vom Westen lösen sollte. Dürre und Preisverfall des wichtigsten Exportguts des Landes, der Erdnüsse, führten zu einem Einnahmenrückgang, Arbeitslosigkeit und wachsenden sozialen Spannungen. 1980 dankte Senghor ab. Sein Nachfolger, Abdou Diouf war mit den bewaffneten Konflikten der Separatistenbewegung in der Casamance konfrontiert, mit dem Militärputsch in Gambia und Guinée-Bissau sowie dem Grenzkrieg mit Mauretanien. Eine noch größere innenpolitische Herausforderung stellte jedoch der Niedergang der senegalesischen Wirtschaft dar. Die von den Gläubigern verlangten Reformen waren mit Privatisierung und dem Ende von Subventionen verbunden, was zum Anstieg der Lebenshaltungskosten und zu wachsendem Unmut der Bevölkerung führte. Die Wahlen der 1980er- und 1990er-Jahre zogen jeweils innenpolitische Spannungen nach sich. Erst 2000 erfolgte mit der Wahl Abdoulaye Wades der erste friedliche Machtwechsel. Wade verlieh der Verfassung im Januar 2001 per Referendum rechtsstaatliche und demokratische Strukturen und sicherte grundlegende Freiheitsrechte ab, insbesondere Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Darüber hinaus begrenzte er die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Mandate zu je fünf Jahren. Wade versprach vor allem der Jugend Arbeitsplätze und eine Verbesserung der Stromversorgung in den Vorstädten. Diese und andere Versprechungen wurden nicht eingelöst, was zunehmend öffentlich eingemahnt wurde. Trotz garantierter Presse- und Meinungsfreiheit war eine kritische Berichterstattung jedoch nicht uneingeschränkt möglich. Regimekritische Journalisten wurden angeklagt (z.B. Madiambal Diagne, Eigentümer des Le Quotidien) oder ihre Redaktionsräume durch bezahlte Schläger verwüstet, wie die des Internetportals 24 Heures Chrono.
Der seit 1978 über pluralistische Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, seit 1981 über ein uneingeschränktes Mehrparteiensystem verfügende Staat, in dem prinzipiell Meinungs- und Pressefreiheit herrschen und zahlreiche zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Organisationen existieren, wurde im Westen zum Vorzeigestaat erhoben. Als dieser Demokratisierungsprozess zu stagnieren begann, wurde von Semi-Demokratie und patrimonialer Demokratie gesprochen. Diese Begriffe verweisen auf die Problematik von Demokratisierungsprozessen afrikanischer Staaten im Allgemeinen: die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Vergesellschaftungsformen. Traditionelle Normen und Werte vorkolonialer Ordnungen stehen im Widerspruch zu den entstehenden partizipativen Strukturen einer Demokratie. Patronage und Klientelbeziehungen waren und sind in der politischen Kultur des Senegal tief verankert, was seine Demokratisierungsbemühungen bereits in den Anfängen der Staatsbildung beeinträchtigte. Die nach innen wie außen inszenierten Merkmale eines modernen Nationalstaates verdeckten die realpolitischen Entscheidungsprozesse, die nach wie vor auf personenabhängigen, informellen Entscheidungsmustern beruhten. Durch Klientelismus und Faktionalismus wurde Macht konzentriert und große Teile der Bevölkerung blieben von der damit verbundenen vertikalen Ressourcenverteilung ausgeschlossen. (cf. Tull 2001: 76-105) Den immer wieder aufflammenden Unruhen folgte Politikverdrossenheit, Apathie und anhaltendes Misstrauen in den Staat und die Politiker. Daran änderte auch die erste tatsächlich demokratische Abwahl Dioufs nichts, mit der Wades Amtszeit begann; auch sie war von Klientelismus und Clanverhalten geprägt.
Ursprung und Kerngedanken der Hip Hop-Bewegung
Rap entwickelte sich Anfang der 1970er-Jahre zusammen mit der Kunst des DJing, B-Boying, Beatboxing und Writing als die verbale Komponente der durch Afrikaa Bambaataa geprägten Hip Hop-Kultur. Sie entstand in den schwarzen Ghettos der South Bronx New Yorks aus dem Erbe subkultureller musikalischer Ausdrucks- und Protestformen afro-amerikanischer Bevölkerungsgruppen und Latino-Minderheiten. Im selben Jahrzehnt entstand in den Ghettos von Los Angeles und San Francisco der sogenannte Gangsta-Rap. Er griff die Ängste und Projektionen der Weißen auf und verkörperte sie mit seinen Ghettoheroen und Pimps. Die Gewalt inszenierenden und sexistisch frauenfeindlichen Subgenres ließen sich auf dem sich globalisierenden Musikmarkt gut verkaufen und prägten das Bild dieses Musikgenres. Jenseits der medialen Inszenierung wurde Rap mit Rassenkampf und spezifischen Lebensphilosophien und Ideologien verbunden. Louis Farrakhan vereinnahmte ihn in seiner Nation of Islam, Afrika Bambaataa nutze ihn zur Gründung seiner durch den Rastafarianismus geprägten Universal Zulu Nation und KRS-One (Knowledge Rules Supreme over Everyone) setzte ihn für seine Stop-the-Violence-Bewegung ein, mit der das Rapping zum Edutainment erhoben wurde. Die 1974 von Bambaata gegründete Zulu Nation sollte mit seiner 21 ethische Verhaltensregeln umfassenden Charta den zum damaligen Zeitpunkt den Höhepunkt der Selbstzerstörung erreichenden Bandenkriegen in den Metropolen der Ostküste entgegenwirken. Damit hatte Bambaataa eine ethnische wie nationale Barrieren überschreitende und sich weiterentwickelnde Bewegung ins Leben gerufen, die sich seit Mitte der 1980er-Jahre weltweit zu verbreiten begann. Mit der kreativen Wortarbeit des Rap lassen sich das Selbst- und das politische Bewusstsein ethnischer Minderheiten oder anderer benachteiligter Bevölkerungsgruppen stärken. So bildeten sich landes- und kulturspezifische Szenen heraus, die, vor den jeweiligen soziopolitischen und sozioökonomischen Bedingungen, durch die Auseinandersetzung mit der Historie des eigenen Landes und den eigenen kulturellen Traditionen ihre Besonderheiten entfalteten.
Musik und Rap im Senegal
Musik ist in Westafrika ein elementarer Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens und baut auf der Tradition der Griots auf. Ihre Aufgabe ist es, die Geschichte des Volkes zu bewahren und weiter zu entwickeln und als unabhängiger Beobachter auf die Moral der Bevölkerung wie der Regierenden zu achten. Da Senghors Konzept der Négritude nicht zur erhofften nationalen Emanzipation, sondern, wie kritische Stimmen formulierten, vielmehr zum Erhalt der Rückständigkeit beitrug, waren es die Musiker, die ein neues kulturelles Selbstbewusstsein entwickelten. Der Mbalax-Musiker Youssou N’Dour begann bereits Mitte der 1970er-Jahre Einfluss auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse zu nehmen. Er propagierte eine ‚saubere‘ Moral der Politiker, durch die der Wandel (sopi) eingeleitet werden sollte. Mit seinem Lied Set (sauber) löste er eine neue Bewegung aus, „Set-Setal“ (etwa: mit Anstrengung säubern). Zahlreiche Freiwillige reinigten die Viertel vom Müll, kalkten und bemalten Mauern und Wände, um die Abgrenzungen zwischen weißen und afrikanischen Vierteln aufzubrechen. Musik und soziale Bewegung verschmolzen und brachten das Bestreben einer von der Politik nicht geleisteten Emanzipation von postkolonialer Bevormundung zum Ausdruck (cf. Böckmann 2008). Die Gewinne aus dem Musikmarkt wurden zur Förderung verschiedener Projekte eingesetzt, für die die Musiker auch Nichtregierungsorganisationen gründe(te)n.
Die Rapper bauten diese Rolle des Musikers als politisch unabhängiger Akteur aus. Von der älteren Bevölkerung zunächst wegen des direkten und denunzierenden Sprachgebrauchs abgelehnt, der der in der senegalischen Kultur verankerten traditionellen Höflichkeit widerspricht, erarbeiteten sich die ersten Gruppen wie PBS (Positive Black Soul) oder DaaraJ (daara, wolof: Koranschule) mit ihren politikkritischen Texten und ihrer ethisch korrekten Lebensweise zunehmend Respekt. Sie nannten sich nach dem Titel der ersten, 1994 von Mamadou Konté produzierten Hip Hop-Hymne der Gruppe PBS Génération Boule Falé (etwa: „Kümmere dich nicht drum“, „Vergiss es“, oft auch mit „Scheißegal“ übersetzt). Der Song propagierte, wie Didier Awadi resümiert, eine positive Lebenseinstellung: „Vergiss den Stress der ökonomischen Krise, lebe dein Leben und verfolge deine Ziele.“ Auch die Rapper der Gruppe DaaraJ kritisierten Passivität und Selbstmitleid und riefen die Jugend zu gesellschaftlichem Engagement auf: „Junger Mann, steh auf, kämpfe, denn die Zukunft gehört dem, der etwas sagt und nicht dem, der den Kopf hängen lässt. Auch wenn du die Nase voll hast, je mehr du die Augen vor dir selbst verschließt, desto schwerer wird es, dein Leben selbst zu gestalten.“ (Le défi, dt. Die Herausforderung auf: Xalima, 1998).
Für die arbeitslosen jungen Männer lieferten die Songs Vorbilder und Anleitung zur Selbstbildung, Emanzipation von religiösen Führern und Selbstermächtigung. Sie trafen sich nachts auf den Dächern Dakars um zu diskutieren und zu rappen. Ihre Gruppennamen sind sprechend, Siggi Posse („die Gruppe, die den Kopf erhebt“) oder Sen Kumpe („das, was ihr nicht wisst“). Ende der 1990er-Jahre waren es ca. 5000 Rapper allein in Dakar. Sie wurden von Joussou N’Dour aber auch von den ersten erfolgreichen Rapgruppen wie PBS zur Aufnahme ihrer Songs und bei der Organisation von Konzerten in den Vierteln unterstützt. Eine fördernde Rolle nahmen ebenfalls die privaten Radiosender ein; sie sendeten mehrere Stunden täglich senegalischen Rap. Auch in den ländlichen Regionen wurden zahlreiche Gruppen gegründet; in der ehemaligen, von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Erdnussmetropole Kaolack waren es 2003 etwa 2500. Darunter auch die Gruppe Keur-Gui, deren Mitglieder zu den Begründern der Y‘en a marre-Bewegung gehören. Ihr gemeinsames, immer wieder formuliertes Ziel war und ist die conscientisation der Bevölkerung. Mit diesem Neologismus bezeichnen sie die Information, Bildung und Erziehung der im Senegal noch hohen analphabetischen Bevölkerungsanteile.
Die meist über Universitätsabschlüsse verfügenden Rapper sind insofern ein konkretes und aktuelles Beispiel der Wirkmacht des sogenannten „organischen Intellektuellen“. Paul Gilroy (1987: 196) hat diesen von Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften geprägten Begriff zur Beschreibung der Aktivitäten des Londoner Rappers Smiley übertragen. Er differenziert zwischen „professionellen Intellektuellen“ und „organischen Intellektuellen“. Professionelle Intellektuelle sind an den Staat gebunden, wogegen „organische Intellektuelle“ beabsichtigen, die sozioökonomische, politische und kulturelle Situation ihrer Gemeinden zu verbessern. Professionelle Intellektuelle sind Handlanger des Staates und haben das ‚Bewusstsein‘ von Mandarinen. „Organische Intellektuelle“ dagegen müssen Organisatoren der Zentrifugalkräfte sein. Gramscis (1971: 12) Definition setzt die Existenz einer dominanten Gruppe oder Klasse voraus, welche ihre Vorherrschaft über die untergeordnete Gruppe oder Klasse mittels des Staates und der juristischen Staatsgewalt ausübt. Demnach setzt sich der „organische Intellektuelle“ für die Interessenserhebung einer sich neu organisierenden Klasse oder Gruppe ein, die nach ihrem Platz in der Verteilung der Ressourcen sucht bzw. verlangt.
In Verbindung mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement trug und trägt Rap insofern zur Selbstorganisation der vom Staat enttäuschten jungen Menschen bei und das sind ca. 60 % der Bevölkerung. In diesem Sinne beschrieb beispielsweise die Dakarer Rapgruppe Wa BMG 44 ihre selbst gewählten Aufgaben: „Die Art von Rap, die wir machen, ist engagiert. Manche beschuldigen ihn als politisch, aber es ist keine Politik. Die Politik ist das Leben. Wenn wir uns nicht mit Politik befassen, dann befasst sie sich mit uns, wir sind also dazu gezwungen nachzudenken. […] wir wollen alle in einer Gesellschaft der Freiheit leben, in einer Gesellschaft, in der es keine rassischen, ethnischen, religiösen Unterschiede gibt. Wenn der Mensch an menschlichen Werten gemessen wird, dann sagen viele, dass das utopisch sei. Wir wollen aber, dass es Wirklichkeit wird, deshalb kämpfen wir nicht mit Schusswaffen […]. Wir kämpfen mit dem Wort […].“ (Interview in Dakar, September 2000)
Rap-Storytelling, conscientisation und Selbstorganisation
Die Rapper stützen sich in ihren Songs auf die genuin mündliche Tradition der Griots, d.h. auf das Storytelling, das im Senegal durch Urbanisierung und die neuen, mit der Globalisierung Einzug haltenden, Kommunikationstechnologien in den Hintergrund zu treten begann. Wie Walter Benjamin in seinem Essay Der Erzähler (1936) hervorhebt, werden beim Storytelling die Zuhörer im Gegensatz zur geschriebenen Geschichte in die erzählten Geschichten eingebunden. Dadurch wird der Inhalt der Geschichte nicht nur gehört, sondern auch erlebt. Geschichten- und Geschichte-Erzählen erfüllt daher viele Aufgaben: Es vermittelt Lebenserfahrung und die Grundlagen der eigenen Kultur und Geschichte, es fördert das Anschauungs- und damit auch das Imaginationsvermögen. Es zeigt Problemlösungen auf, stiftet Identität und erweitert das Repertoire an Handlungsoptionen. Kurzum es entwirft mögliche Identitäten und mögliche Welten (cf. Kimminich 2004). Auf diese Weise können Denkprozesse eingeleitet und eine Veränderung von Verhaltensweisen angeregt werden.
Die Rapper, allen voran der inzwischen international bekannte Didier Awadi, machten mit ihren Songs einerseits auf die Alltagsprobleme aufmerksam, auf die seit der Kolonialzeit nicht renovierten Abwasserkanäle, die maroden Stromnetze, die Arbeitslosigkeit der Jugend. Sie kritisierten die (land-)wirtschaftliche und soziale Krise in der endenden Regierungsphase Abdou Dioufs und riefen im Wahljahr 2000 die Jugend an die Urnen. Mit Abdoulaye Wades Wahl riefen sie mit Hoffnung die Alternance (den Wechsel) aus. Wade hatte der Jugend versprochen, die Lebensbedingungen zu verbessern und Arbeitsplätze zu schaffen. Bereits unmittelbar nach der Wahl wurde Awadi als Leitfigur des senegalesischen Rap von Wades Ministern um wohlwollende Songs für ihre zukünftige Politik gebeten. Awadi konstatierte daraufhin während einer Pressekonferenz im September 2000, anlässlich des 11-jährigen Bestehens seiner Gruppe, dass es allen Politikern an Ethik und Moral fehle, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Mit seinem im selben Jahr erschienenen Album Da Millenium legte Awadi eine erneute Analyse der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation vor. In seinem Song Gold and Diamonds erinnert er beispielsweise an die Reichtümer des afrikanischen Kontinents, die von korrupten Präsidenten verschleudert wurden und in Iyata ruft er die Jugend auf, sich der eigenen Geschichte und Kultur bewusst zu werden, um die Zukunft zu verändern. Er nimmt die Jugend in eine historische Verantwortung, Korruption und Ausverkauf der eigenen Ressourcen nicht länger hinzunehmen und ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger einer Demokratie wahrzunehmen. Auch die anderen Rapper erinnerten Wade immer wieder an seine Versprechungen oder kritisierten Machtmissbrauch und Korruption; insbesondere die Songs der ebenfalls im Herbst 2000 auf den Markt gekommenen Kompilation Politichiens. Sie schlugen wie „Bomben einer lang verschwiegenen Wahrheit“ ein, wie die lokale Presse damals formulierte. Die Songs ermahnten Wade zur Einhaltung seiner Versprechungen: „Seit wir dir das Kommando übertragen haben, wird alles schlechter, Armut und Elend wachsen. Du hast mit deinen Plänen der Verbesserung noch nicht begonnen. Wir haben einen Pakt. Versuch uns nicht zu täuschen. Wir warten. Wir haben noch Hoffnung und Vertrauen in dich. Wenn du nicht hältst, was du versprichst, wird dir dasselbe wie Diouf passieren.“ (Aus: „Sign up“ auf: Politichiens, 2000). Andere kritisierten vor allem die Korruption zwischen Politikern und Marabus. Sie erhielten Morddrohungen und wurden von Schlägern attackiert. Matador, Mitglied der Gruppe Wa BMG 44, ging daraufhin ins Ausland. Als er zurückkehrte, gründete er 2006 in der Vorstadt Pikine die Initiative Africulturban (Interview in Dakar 2007). Sie setzt sich für soziale Projekte und arbeitslose Jugendliche ein. Über die Ausdrucksformen der Hip Hop-Kultur sollen sie Selbstwertgefühl, soziale und ethische Werte erwerben und sich zu kulturellen Agitatoren entfalten können.
Mobilisierung und Demokratisierung der Semi-Demokratie
Die Rapper setzen die Tradition der Griots also nicht nur gezielt fort, sondern auch für ihre Zwecke der conscientisation und Mobilisierung ein. Sie verbinden Tradition und Moderne. Zum einen knüpfen sie an das traditionelle Figurenrepertoire an, greifen beispielsweise die im kollektiven Gedächtnis verankerten Tiergeschichten auf, die sie unter anderer Akzentsetzung bzw. aus einer anderen Perspektive neu erzählen. Dabei werden die metaphorischen Übertragungen der traditionell festgelegten Eigenschaften eines Tieres vor allem für die Charakterisierung von Politkern eingesetzt, insbesondere von der Gruppe Keur-Gui, deren erstes Album, Première mi-temps (1999) bereits in Dioufs Ära zensiert und die Rapper inhaftiert wurden. Awadis Songs thematisieren immer wieder die Geschichte und rufen zur Revolution auf. Stets betont wird die Bedeutung ethischer Werte. Sein 2010 erschienenes Album Présidents d’Afrique ist eine Replik auf Wades megalomanes Monument der Renaissance Africaine, mit dem er sich und seiner Politik selbst ein Denkmal setzte. Awadi beschwor dagegen mit seinen mit Zitaten revolutionärer Persönlichkeiten und Präsidenten durchsetzten Songs die Grundgedanken der 1997 vom südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki ausgerufenen Renaissance Africaine herauf. Mbeki forderte eine materielle, spirituelle und kulturelle Entwicklung aus eigenen Kräften. Daraus wurde der sogenannte Aufbauplan entwickelt. Die teilnehmenden afrikanischen Staatschefs verpflichteten sich unter anderem demokratisch und transparent zu regieren, die Korruption zu bekämpfen, die Menschenrechte zu schützen und sich für eine solide und berechenbare Wirtschaftspolitik einzusetzen. Als Vorreiter zitiert und besang Awadi beispielweise Thomas Sankara, ehemaliger Präsident von Burkina Faso, oder Amilcar Cabral, der sich für die Unabhängigkeit von Guinée-Bissau einsetzte. Beide fielen Attentaten zum Opfer.
Als am 16. Januar 2011 der Stromausfall länger anhielt als gewohnt, gründeten die Rapper der Gruppe Keur-Gui, Thiat (Omar Touré) und Kilifeu (Mbessane Seck) sowie die Rapper Simon, Fou Malade, Xuman, 5kieme Underground und der Journalist der La Gazette Fadel Barro die Y‘en marre-Bewegung; keine politische, sondern wie Barro sagt eine zivilgesellschaftliche Bewegung, mit der sie die ihnen zugesicherten demokratischen Rechte verteidigen wollten: „Diese durch den Hip Hop sensibilisierte Generation hatte die Nase voll dies oder das in ihren Liedern zu kritisieren... Diese Generation hat entschieden an der Politik teilzuhaben, politisch zu handeln, aber ohne einen politischen Kandidaten zu stützen, ohne einer Partei zuzugehören und ohne irgendeine Ideologie zu vertreten. Wesentlich ist es präsent zu sein und am Wandel unserer Gesellschaft mitzuwirken, den wir alle erträumt haben, der vielfach besungen wurde und so sehr gewollt wird.“ (Interview in Berlin 2013). Auch die für seine politischen und kritischen Texte international bekannte Reggae-Legende Tiken Jah Fakoly steuerte einen Song zum Thema Y‘en marre bei und ein Kurzfilm, der bereits 2010 von Ryan Fakih (bekannter als K-iD, der Gruppe Chronik 2h) produziert wurde, wurde im Mai 2011 ins Netz gestellt; er zeigt verschiedene Szenen alltäglicher Korruption und Fahrlässigkeiten, die dramatisch enden. Auch Awadis 2011 veröffentlichter Dokumentarfilm Le point de vue du lion dürfte die Stimmung beeinflusst haben. Er stützt seine Forderung nach einer mentalen und kulturellen afrikanischen Revolution durch Interviews, die er über mehrere Jahre hinweg zusammengestellt hat, mit Ex-Präsidenten und Ministern, UN-Beamten, Schriftstellern, Künstlern, Historikern, Aktivisten oder mit Migranten und Flüchtlingen.
Die Glaubwürdigkeit der Musiker sorgte dafür, dass ihrem Aufruf Folge geleistet wurde. Am 19. März 2011, dem Feiertag der Alternance, kamen zahlreiche Menschen zu einer ersten Demonstration, während der das Konzept des Nouveau Type Sénégalais (NTS) vorgestellt wurde: der sein Schicksal selbst in die Hand nehmende aufgeklärte Staatsbürger, den die Rapper seit zwei Jahrzehnten – offensichtlich überzeugend – vorlebten. Am 23. Juni desselben Jahres folgte eine Massendemonstration, durch die klare Ziele formuliert wurden: der Schutz der Verfassung vor Wades Änderungen (Verlängerung seiner Amtszeit). Thiat und Fou malade wurden verhaftet, auf Druck der protestierenden Jugend jedoch wieder freigelassen. Obwohl die Verfassung maximal zwei Amtszeiten für den Präsidenten vorsieht, konnte Wade nach einer juristischen Überprüfung kandidieren. Man war zum Schluss gekommen, dass seine Amtszeit vor der Verfassungsänderung begann, also bevor die Kandidatur des Präsidenten beschränkt wurde.
Als friedliche Lösung blieb nur die Abwahl Wades. Seit April 2011 bemühte sich Y’en a marre deshalb um die etwa 1 Million 18-jährigen, die noch keine Wahlkarten hatten. Sie gingen in den Vierteln von Tür zu Tür, um ihnen zu erklären, dass sie mit ihrem Wahlgang das eigene Schicksal in die Hand nehmen können. Nach dem Motto „ma carte, c’est mon arme“ bildeten sich endlose Schlangen an den Büros, in denen man sich in die Wahllisten eintragen konnte. Die Kampagne hatte Erfolg, ca. 350 000 Jugendliche schrieben sich ein, obwohl die Behörden sie stundenlang warten ließen oder sie wegen Papiermangels nach Hause schickten. Der von Y’en-Marristen deshalb geforderten Verlängerung der Einschreibefrist wurde nicht stattgegeben. Das wurde Wade als gezielte Verhinderung zusätzlicher Stimmen für den Gegenkandidaten ausgelegt. Am 20. Dezember verteilte die Bewegung ihre Kompilation Y‘en a marre. Die Songs erinnerten an die aktuellen Lebensbedingungen, an Wades Wahlversprechungen und riefen erneut zum Wahlgang auf. Organisationen wie Voix des jeunes erklärten mit ihrem Slogan „Je vote, donc je suis.“ auf ihrer Homepage das Procedere.
Am 26. Februar 2012 wurde Wade abgewählt – von einer Jugend, die ihn an seinen Versprechen und an ethischen Werten gemessen hatte. Damit hat sich die Demokratie im Senegal durchgesetzt, obwohl 90 % der Senegalesen Muslime sind – ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Staat und Religion auseinandergehalten werden können. Dazu haben im Senegal die bereits vorhandenen demokratischen Strukturen, die die Emanzipation der Jugend von religiösen wie politischen Führern ermöglichten, sowie ihr Mut zum selbstbewussten Handeln offensichtlich beigetragen, auch wenn viele senegalesische Rapper selbst gläubige Muslime sind.
Quellen:
- Böckmann, Matthias: „Youssou N‘Dour, ‚Set-Sétal‘ und die Vorstädte Dakars. Ein Essay über die Reichweite eines Liedes.“ In: Sabine Bastian/Wolfgang Hörner (Hrsg.): Vorstädte. Leben außerhalb des Zentrums. München: Martin Meidenbauer 2008, S. 9-27.
- Gilroy, Paul: There Ain’t no Black in the Union Jack. London: Hutchinson 1987.
- Gramsci, Antonio: Selection from the Prison Notebook. London: Lawrence & Wishart 1971.
- Kimminich, Eva: „(Hi)story, Rapstory und ‚possible worlds‘ Erzählstrategien und Körperkommunikation im französischen und senegalesischen Rap.“ In: dies.: Rap More Than Words. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004, S. 233-267.
- Sheldon, Gellar: Democracy in Senegal. Tocquevillian analytics in Africa. Palgrave Macmillan, New York 2005.
- Tull, Denis: Demokratisierung und Dezentralisierung in Senegal: Dezentralisierungsreformen und innenpolitische Entwicklung seit 1990. Inst. für Afrika-Kunde 2001.
Autorin | Eva Kimminich |
Zeitraum | Juni 2013 |