Wenn ein Riese zu Boden geht, würde man meinen, die Erde bebt. Doch manche Giganten treten leise ab, nahezu unbemerkt. Überall auf dem Planeten ziehen sich Millionen Jahre alte Zeugen der Weltgeschichte zurück, schrumpfen auf eine Pfütze zusammen, ehe sie einfach aufhören zu existieren. Das Gletschersterben steht im Schatten der großen Schlagzeilen und spektakulären Fotos von tropischen Wirbelstürmen, überschwemmten oder ausgetrockneten Flüssen oder ausgerotteten Arten. Ganz ohne Fürsprecher sind sie aber nicht, denn die Literatur hat den langsamen Tod der weißen Riesen entdeckt – und diskutiert ihn auf unterschiedliche Weise. Sören Barkey untersucht für seine Masterarbeit im Fach Germanistik, wie literarische Texte das Phänomen erfahrbar machen und wie sie mit der Frage umgehen, wer die Verantwortung dafür tragen sollte.
Zeno gibt auf. „Sein Gletscher“ stirbt und er kann nichts dagegen tun. Der Glaziologe in Ilija Trojanows Roman „EisTau“ muss hilflos mit ansehen, wie die Eisriesen in den Alpen dahinsiechen. Deshalb gibt er seinen Beruf auf – und begleitet fortan als Reiseleiter betuchte Touristen auf Kreuzfahrten, wo er Vorträge über die Wunder der Antarktis hält. Doch in ihm gärt die Wut, er sucht nach Schuldigen für das Verbrechen am ewigen Eis. Bis er sie findet. In der „Geschichte des Wassers“ von Maja Lunde, dem zweiten Roman, den Sören Barkey betrachtet, ist es die alternde Umweltaktivistin Signe, die sich im Angesicht ihres sterbenden Heimatgletschers aufmacht, um den Schuldigen zu suchen und zur Rede zu stellen. Dabei ist es ausgerechnet ihre einstige Jugendliebe, die den Gletscher in Raubbaumanier als handliche Eiswürfel in den Nahen Osten verschifft.
Ist das Gletschersterben eine Straftat, gar ein Ökozid? Wer ist schuld am Sterben der gigantischen Eisflächen, die bis heute rund 70 Prozent des Süßwassers auf der Erde enthalten? Und wie kann man die „Täter“ zur Verantwortung ziehen? Fragen, die bislang in keinem Gerichtssaal verhandelt werden, sind im literarischen Diskurs durchaus angekommen, erklärt Sören Barkey: „Literatur kann in einem präjuristischen Kontext gewisse Sachen ‚durchspielen‘ bzw. als ‚Seismograph‘ für gesellschaftliche Entwicklungen dienen – und das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit mit aushandeln.“
Die Verbindung von Literatur und Recht reizt Sören Barkey schon seit seinem Bachelorstudium, in dem er Germanistik mit Öffentlichem Recht kombiniert hat. Während juristische Texte meist nüchtern anmutende Gesetzeslage und Fakten wiedergeben oder abwägen, stehen literarischen Werken andere Mittel zur Verfügung, um die Auswirkungen des Klimawandels – vom gigantischen Hurricane bis zum Gletscherschwund – vor Augen zu führen. „Die beiden Romane arbeiten etwa mit verschiedenen Techniken wie Zeitsprüngen, Rückblenden, mehreren Erzählebenen, um den eigentlich nicht erfahrbaren Zeitraum, in dem die Gletscher schmelzen, spürbar zu machen“, erklärt Barkey. „In ‚EisTau‘ ‚erleben‘ die Lesenden durchaus auch sprachlich jene Gewalt, die den Gletschern angetan wurde.“
Und die Texte diskutieren bis zur bitteren Neige, ob diese Vorgänge ein Verbrechen an der Natur, ein Ökozid, sind. So enthält die „Geschichte des Wassers“ neben der Geschichte von Signe noch eine zweite, die im Jahr 2041 spielt und von Dürre und Wassermangel geprägt ist. Sie führt vor Augen, dass die sterbenden Gletscher erst der Anfang sind und die Menschen von ihrer Verantwortung eingeholt werden. Spät, möglicherweise zu spät erkennen sie die Schuld an.
Gemeinsam ist den beiden Romanen, die Barkey untersucht, auch, dass ihre Protagonisten sich nicht mit der Rolle der Ankläger zufriedengeben. Sie schreiten zur Tat und zur Selbstjustiz: Signe entführt eine aus Eiswürfeln bestehende Schiffsladung, um ihrem Ex den geschundenen Gletscher vor die Füße zu kippen (versöhnt sich aber dann doch mit ihm, sodass die Frage nach der Schuld erst in der Zukunft wieder verhandelt wird). Noch entschlossener ist Zeno, der die Gruppe Touristen – als Vertreter des industrialisierten globalen Nordens – als Schuldige identifiziert, auf einer Eisscholle aussetzt und sich mit dem Kreuzfahrtdampfer davonmacht. „Twist des Plots: Die Kreuzfahrer wollten für einen Fotokünstler auf der Eisscholle ein SOS bilden“, so Barkey. „Zeno aber brennen im Angesicht der hilflosen Kunst die Sicherungen durch und er greift zu drastischeren Mitteln. Man könnte meinen, die Kunst, der Roman, sage in diesem Augenblick: Künstlerischer Protest ist nicht genug! Die Natur muss Gerechtigkeit erfahren.“
Dem geht Barkey in seiner Forschung nach: „Mein Ausgangspunkt ist der – durchaus reale – völkerrechtliche Diskurs darüber, ob es den Straftatbestand des Ökozids geben sollte.“ Sollte er, etwa vor internationalen Gerichten, eingeführt werden, gäbe es für Umweltaktivisten und -organisationen ganz andere Möglichkeiten als bislang, für die Natur und gegen ihre Zerstörung durch den Menschen einzutreten. Und dann hätten auch Zeno und Signe ihren Anteil daran.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).