Im Visier haben die Bewegungsökologinnen Artengemeinschaften aus kleinen Säugern wie den heimischen Feld- und Rötelmäusen. „Wir schauen uns Arten an, die ein ähnliches Körpergewicht haben“, erklärt Szangolies. Biologinnen und Biologen sprechen nämlich von einer „allometrischen Beziehung“ zwischen der Körpergröße eines Tieres und anderen Eigenschaften. Mit ihrem Körpergewicht hängt zum Beispiel zusammen, wie viel eine Maus frisst, wie lange sie trächtig ist oder wie viele Nachkommen sie hat.
Die simulierten Mäuse bewohnen in dem Computermodell, das Marie-Sophie Rohwäder entwickelt hat, drei unterschiedliche Gebiete: „In einer Landschaft ist das Habitat der Mäuse zusammenhängend, in einer ist es etwas und in der dritten ist es stark fragmentiert“, erklärt Rohwäder. Getrennt sind die Lebensräume der Mäuse durch intensiv bewirtschaftete Felder, in denen sie keine Nahrung finden. Die Doktorandinnen simulieren daher, wie sich die Tiere auf der Suche nach Futter zwischen den Habitaten bewegen. „Wir wollen wissen, ob sich eine Nahrungskonkurrenz zwischen den Kleinsäugern ergibt, wie sich das auf die Reproduktion auswirkt und unter welchen Bedingungen Arten aussterben“, sagt Szangolies.
Die Computersimulation erhält Futter der anderen Art: Daten zu Körpergewicht, Nahrungsbedarf, Tragezeit oder Anzahl der Nachkommen. Doch die Forscherinnen bringen noch einen weiteren Mechanismus ins Spiel, nämlich unterschiedliche Tierpersönlichkeiten. Grundlage sind Erkenntnisse der AG Tierökologie an der Uni Potsdam, die die Persönlichkeiten von Mäusen in mehreren Studien untersucht hat. „Risikobereitschaft, Aggressivität und Aktivität sind Eigenschaften, in denen sich Tiere unterscheiden“, erklärt Rohwäder. So nehmen scheue Mäuse die Randbereiche eines Lebensraums, etwa einer Wiese, als zu riskant wahr, um sich Nahrung zu holen – lauern hier doch vermehrt Fressfeinde wie Füchse oder Greifvögel. Mutige Mäuse hingegen futtern auch dort.
Das Ergebnis der Simulation: Waren im Modell alle Mäuse mutig, hatte die Fragmentierung keine Auswirkung – das heißt, in allen drei Landschaften konnten die Tiere gleichermaßen koexistieren. Waren alle Mäuse scheu, ging den Populationen der Rand der Habitate verloren. Und: Je kleiner die Habitate waren, desto größer wurden die risikobehafteten Randbereiche. „Dieser Verlust von Futtergebieten wirkt sich auf die einzelnen Mäusepopulationen und letztlich auf die Artenvielfalt sehr negativ aus“, so Rohwäder. Gibt es jedoch sowohl scheue als auch mutige Mäuse, entsteht weniger Konkurrenz, da die unterschiedlichen Mäusepersönlichkeiten das Gebiet voll ausnutzen. „Unterschiedliche Tierpersönlichkeiten sind also ein Mechanismus, der bewirkt, dass sich die Fragmentierung der Landschaft entgegen der intuitiven Annahme positiv auswirken kann“, fasst Rohwäder zusammen.
Leonna Szangolies bestätigt das: „Gefühlt ist eine große Habitatfläche schöner als ein strauchbewachsener Fleck zwischen zwei Weizenfeldern. Aber es sieht so aus, als hätten diese zusätzlichen Flecken wichtige Funktionen: Sie verbinden unterschiedliche Futtergebiete und bieten Nahrungsmöglichkeiten, die nur einigen Tieren zugänglich sind und die so die Konkurrenz verringern.“ Die Mischung macht also den Unterschied – wenige große und mehrere kleine Futtergebiete scheinen die Artenvielfalt unter den Kleinsäugern am besten zu unterstützen. Die Folgen dieser Erkenntnis könnten gerade für die Ausweisung von Landschaftsschutzgebieten weitreichend sein: Denn bisher muss ein Gebiet eine Mindestgröße haben, um unter Schutz stehen zu können. Gleichzeitig könnte es ein Anstoß für Landwirtinnen und -wirte sein, kleinere, ertragsarme Flächen nicht mehr zu bewirtschaften und so die Biodiversität zu unterstützen.
Die Bewegungsökologinnen, die bei Prof. Dr. Florian Jeltsch promovieren, tauschen sich viel mit den Feldbiologen im Graduiertenkolleg aus. Am Computer zu arbeiten, ist für die beiden jedoch genau das Richtige. „Es wird immer wichtiger, verschiedene Disziplinen zu verknüpfen, um unsere Systeme noch besser zu verstehen“, sagt Szangolies. Computermodelle seien für Biologinnen und Biologen sehr nützlich. „Wir können so Faktoren wie Bodenqualität oder Niederschläge ausklammern, die auf dem Feld die Forschungsergebnisse verzerren könnten“, sagt Szangolies. Sie können alle Stellschrauben drehen und auf diese Weise genau erkennen, wie sie zusammenhängen. „Mit Computersimulationen können wir in die Zukunft schauen – ganz ähnlich wie die Klimaforscher.“
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).