Skip to main content

Seltene Käfer und schöne Aussichten – Die Studentin Emily Jäger hat die Artenvielfalt auf elf Berliner Gründächern erforscht

Grünfläche auf dem Kulturdachgarten Klunkerkranich.
Emily Jäger
Photo : Dr. Jana Scholz
Grünfläche auf dem Kulturdachgarten Klunkerkranich.
Photo : Dr. Jana Scholz
Emily Jäger

30 Grad im Schatten und 360 Grad Berlin: Der Klunkerkranich, ein Veranstaltungsort auf dem Dach eines Parkhauses mitten in Neukölln, bietet an diesem wolkenlosen Augustmorgen einen Panoramablick über die ganze Stadt. Im Sommer wird hier ab dem frühen Abend bei Techno-Musik getrunken, gefeiert und getanzt. Nicht sonderlich zu stören scheint das die Pflanzen und Insekten, die in Pflanzkübeln und Beeten zu Hause sind. Warum sogar sehr seltene Käferarten das begrünte Parkhausdach mitten in der Großstadt schätzen, weiß Emily Jäger. Die Studentin hat gerade ihre Masterarbeit in Ökologie, Evolution und Naturschutz abgegeben. Ein halbes Jahr lang hat sie elf Gründächer in Berlin besucht und die ansässigen Pflanzen- und Käferarten erforscht.

Schafgarbe, Wegwarte, Graukresse und wilde Rauke: Auf einem kleinen Holzhäuschen, das in DIY-Manier auf dem holzgedeckten Parkhausdach errichtet wurde, wachsen hohe Gräser und Wildkräuter. Zu ihren Füßen selbstgezimmerte Bänke, Tische, Pflanzkübel. Im Hintergrund ist der Berliner Fernsehturm zu sehen. All das in rund 30 Metern Höhe. Doch die Pflanzen sind schwindelfrei – müssen sich allerdings mit einigen anderen Herausforderungen arrangieren. „Gründächer sind extreme Standorte“, sagt Emily Jäger. „Es gibt in der Regel keinen Schatten, es ist sehr trocken und windig.“

Die Berlinerin studiert Ökologie, Evolution und Naturschutz an der Uni Potsdam. Viele Kommilitoninnen und Kommilitonen hätten sich in ihren Masterarbeiten pandemiebedingt eher die Datenanalyse vorgenommen, erzählt die Biologin. „Ich wollte unbedingt meine eigene Forschung im Feld machen.“ Auf ihr Thema stieß sie bei einer Tagung des NABU, wo ihr späterer Erstbetreuer, Stephan Brenneisen von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), einen Vortrag über Dachbegrünung in der Schweiz hielt. Er empfahl ihr, sich die Berliner Dächer vorzunehmen. Ihre Zweitbetreuerin Monika Wulf, die gemeinsam berufene Professorin der Uni Potsdam und des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung ist, war gleich an Bord.

„Dann ging die Suche nach den Dächern los.“ Durchaus eine Hürde, denn, wenn sie bepflanzt werden, wird das in der Regel nicht dokumentiert. Sie begann zu recherchieren, fragte sich unter anderem bei Dachbegrünungsfirmen durch. Schließlich hatte sie elf geeignete Anlagen ausfindig gemacht: auf dem Ökowerk im Grunewald, in den Gärten der Welt in Marzahn, auf dem Saturn-Komplex am Alexanderplatz, auf den Berliner Wasserbetrieben in Mitte, auf einem Wohnhaus, auf den Neukölln Arkaden und dem nebenan gelegenen Klunkerkranich sowie auf vier Gebäuden der Humboldt-Universität zu Berlin, unter anderem in Adlershof.

Der erste Schritt ihrer Feldarbeit: eine Vegetationsanalyse, bei der sie zwei Mitarbeiter von der ZHAW unterstützten. „Drei Tage lang sind wir alle Standorte abgegangen und haben uns Plots von zehn Quadratmetern Fläche angesehen.“ Wie ist der Pflanzenbedeckungsgrad? Welche Arten kommen vor? Und wie viele Exemplare einer Art sind schätzungsweise vertreten? All das hielt das Team fest und errechnete daraus das Biodiversitätsmaß der Flora. An jedem Standort fanden die drei übrigens auch Neophyten, also gebietsfremde Arten. Einige von ihnen, wie das Feinstrahlberufkraut, das ursprünglich aus Nordamerika stammt, gelten als invasiv. Sie breiten sich besonders schnell aus.

Typischerweise werden auf Gründächern vorrangig „Bodendecker“ wie Fetthenne oder Mauerpfeffer gesetzt, die keine Pflege benötigen, mit Trockenheit und Hitze gut umgehen können und mit einem dünnen, leichteren Nährboden auskommen. „Denn die Statik der Gebäude gibt meist nicht allzu viel her“, erklärt die Studentin. Zehn der elf untersuchten Gründächer wurden extensiv genutzt – also weder gepflegt noch bewässert. Nur die Pflanzen im Neuköllner Kulturdachgarten erhalten in der Sommersaison Wasser. Der Name der Location verweist übrigens darauf, wie ernst die Betreibenden den Artenschutz nehmen: Der Klunkerkranich ist eine afrikanische Vogelart, die als gefährdet eingestuft wird. Als ästhetisches Leitmotiv schmückt er die kleinen Holzhütten, auf denen die drei untersuchten Grünflächen liegen.

Dann ging es an die Käfer: Mit zehn Becherfallen pro Dach wurden sie gefangen und konserviert. Über ein halbes Jahr besuchte Emily Jäger die Gärten, und zwar alle zwei Wochen, um die Fallen zu leeren. Da die Dächer nicht frei zugänglich sind, mussten immer wieder Termine gefunden werden. „Das war sehr aufwendig, aber alle waren total nett“, erzählt die Studentin. „Ich bin am Tag oft durch die ganze Stadt gefahren, von Adlershof nach Marzahn und dann bis zum Grunewald.“ Die Biologin sortierte ihre Funde und schickte sie in zwei Sendungen an den Entomologen Alexander Szallies von der ZHAW, um sie bestimmen zu lassen. Für den Insektenkundler sehr viel Arbeit, denn als einer von wenigen Fachkundigen erhält ein Entomologe sehr viele Aufträge: „Allein in Deutschland gibt es 33.000 Insektenarten, darunter 7.000 Käferarten. Nicht nur die Artenvielfalt geht zurück, es gibt auch immer weniger Menschen, die sich damit auskennen“, erklärt Jäger. „Es wird dringend Nachwuchs gesucht.“

Die Ergebnisse ihrer Arbeit: „Drei Anlagen sind hervorgestochen, was die Vielfalt der Flora betrifft: der Klunkerkranich, das Ökowerk Grunewald und das Gründach der HU in Adlershof“, sagt Emily Jäger. Alle drei sind nicht standardmäßig angelegt, was zum Beispiel die Substratdicke und die gesetzten Pflanzen angeht. Mit 68 Pflanzenarten konnte Emily Jäger im Klunkerkranich den größten Artenreichtum feststellen. Was die Käfer betrifft, zeigten ebenfalls die drei nicht standardmäßig begrünten Dächer die größte Artenvielfalt. Im Klunkerkranich leben zwölf verschiedene Rüsselkäferarten, darunter auch der gefurchte Dickmaulrüssler. Sie bevorzugen hochgewachsene Kräuter, von deren Blättern sie sich ernähren. Auch einen Spezialisten hat Jäger hier entdeckt, den Rhinusa linariae, der es einzig und allein auf Leinkräuter abgesehen hat und in Berlin als gefährdet gilt. Sogar zwei Arten, die in Berlin als ausgestorben gelten, fand die Studentin auf den begrünten Dächern: Rabigus pullus und Aphodius pictus. Hier landete der Klunkerkranich auf dem dritten Platz nach dem Ökowerk Grunewald und dem Gründach der HU in Adlershof. Aber Emily Jäger ist es wichtig zu betonen, dass auch ein schlicht angelegtes Gründach ein wichtiges Biotop im städtischen Raum ist: „Das Tolle an begrünten Dächern ist, dass sie oft nicht betreten werden. Die Tiere und Pflanzen sind völlig ungestört“, sagt die Studentin. Sie fand deswegen auch auf den anderen Dächern viele Käfer, und sogar solche, die auf der Roten Liste stehen.

Die Folgen des Insektensterbens sind dramatisch. Emily Jäger erklärt, wie wichtig die kleinen, von vielen wenig beachteten und vielleicht sogar ungeliebten Tiere sind: „Insekten entfernen organische Abfälle – leider keinen Plastikmüll –, sie sorgen für die Bestäubung von Pflanzen und beseitigen Schädlinge, unter anderem auf unseren Nutzpflanzen“, erklärt die Studentin. „Sie sind Futter für Vögel, Fledermäuse und viele andere Tiere. Und doch wird ihre Arbeit kaum gesehen. Insekten leisten so viel und es wäre sehr teuer, wenn wir selbst erledigen müssten, was sie uns jeden Tag abnehmen.“ Expertinnen und Experten schätzen, dass es allein mehrere Milliarden Euro kosten würde, wenn alle Nutzpflanzen auf der Erde künstlich bestäubt werden müssten.

Die größte Käfervielfalt aller untersuchten Standorte in Berlin hat übrigens das Dach der Filterhalle im Grunewalder Ökowerk. Es zählt zu den ältesten Anlagen dieser Art in Berlin und hat sich vor bald 100 Jahren von ganz allein begrünt. Damals wurde Sand zur Isolation aufgebracht und es entwickelte sich ein flechtenreicher Sandtrockenrasen, der in dieser Ausprägung sehr selten ist. Als das Gebäude in den frühen 2000er Jahren saniert wurde, wurde die komplette Vegetationsschicht abgenommen, gelagert und wieder aufgesetzt. „Es ist wichtig, diese alten Lebensräume zu erhalten, die sich teilweise über Jahrzehnte entwickelt haben.“

Und doch: Begrünte Dächer können natürliche Standorte nicht ersetzen, sagt die Biologin. Aus ihrer wissenschaftlichen Recherche weiß sie aber, dass diese weitaus besser sind als versiegelte Dächer. „Sie sind ein Gewinn für die Biodiversität.“ Schließlich kann ein Gründach der Ort sein, an dem eine bedrohte Tierart ihren ziemlich gut geschützten Lebensraum findet. Bisher sei das aber selten der vorrangige Zweck der Dachbegrünung. Meist geht es eher um die Klimaregulation des Gebäudes: Über die Verdunstung findet eine Kühlung statt und gleichzeitig isoliert ein bepflanztes Dach gut – letztlich wird so ganzjährig Energie gespart. Zudem schützt es unter anderem vor UV-Schäden und verlängert die Lebensdauer eines Daches enorm. Bei Starkregen, der immer häufiger auftritt, hält es das Wasser zurück, was Überschwemmungen entgegenwirkt. Dachbegrünung lässt sich außerdem gut mit Solaranlagen kombinieren und steigert sogar deren Effizienz. In vom Klimawandel geplagten Städten sind das gute Gründe für grüne Dächer und sie lohnen sich auch finanziell. Ab 2024 müssen in Berlin Dächer von Neubauten mit einer Neigung von bis zu zehn Grad grundsätzlich begrünt werden.

Warum sich die Betreibenden des Klunkerkranichs für einen Garten entschieden haben? „Hier hat das Grün sicherlich auch einen ästhetischen Aspekt“, vermutet Jäger. „Schließlich steigert es erwiesenermaßen das Wohlbefinden. Gerade in Städten sind Pflanzen daher auch ein gesundheitlicher und letztlich ein wirtschaftlicher Faktor.“ Der Neuköllner Kulturdachgarten liegt direkt über der luftverschmutzten, versiegelten und verkehrsbelasteten Karl-Marx-Straße – und ist insofern ein Lichtblick im wahrsten Sinne, der viele Menschen anzieht. Hier wird schon am frühen Morgen ehrenamtlich gegärtnert, schließlich gibt es neben den untersuchten Grünflächen auch viele Pflanzkübel, die gepflegt werden wollen. Die Studentin sieht daher ebenso soziale Faktoren als Nutzen von grünen Dächern. Auch sie will sich, nach Abschluss ihres Studiums, selbst engagieren und in die Praxis gehen – um die Stadt grüner und insektenfreundlicher zu machen.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).