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Grausamkeit als Kriegsstrategie – Dr. Klaus Wittmann über die russische Invasion in die Ukraine

Brigadegeneral Dr. Klaus Wittmann. Das Foto ist von Wikimedia (CC BY-SA 4.0) / Ralf John.
Photo : Wikimedia (CC BY-SA 4.0) / Ralf John
Dr. Klaus Wittmann. Der Brigadegeneral a.D. war Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam.

Russland führt einen menschenverachtenden und grausamen Unterwerfungsfeldzug, für den noch das Wort „Krieg“ fast beschönigend ist – so Dr. Klaus Wittmann. Der Brigadegeneral a.D. war Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam. Doch die Invasion ist ins Stocken geraten; nicht nur wegen taktischer Fehler auf Seiten Russlands, auch wegen der Stärke der ukrainischen Gegenwehr. Berichte von furchtbaren Kriegsverbrechen mehren sich indes. Im Interview erklärt Wittmann, was es mit der Gruppe Wagner auf sich hat, welche Rolle die russischen Separatisten im Kriegsverlauf spielen, und warum es aus seiner Sicht keinen diplomatischen Kompromiss geben kann.

Vielfach ist zu hören, dass der Blitzkrieg, mit dem die russische Armee die Ukraine offenbar einnehmen wollte, gescheitert ist. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, die russische Führung hat sich nicht nur verkalkuliert bezüglich der Einigkeit des Westens, der internationalen Ächtung und der Schärfe der Sanktionen, sondern vor allem hinsichtlich des ukrainischen Widerstands. Hier sind Verbesserungen in Ausrüstung und Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte seit 2014, Kampferfahrung in der Ostukraine und vor allem die Motivation einer in der Existenz bedrohten Nation unter ihrem charismatischen Präsidenten zu nennen. Selenskyj ist für mich das Gesicht der Freiheit, Putin die Verkörperung der „Torheit der Tyrannen“.

Was erschwert Russland die Invasion?

Durch das illusionäre Setzen auf einen „Unterwerfungs-Blitzkrieg“ war die Logistik – also Betriebsstoff, Verpflegung, Instandsetzung, Sanitätsdienst – nicht auf einen langen Krieg eingestellt. Außerdem gab es selbst bei so großer Truppenstärke zu viele Angriffsrichtungen, d.h. keine klare Schwerpunktsetzung. Große taktische Fehler kamen hinzu, wie die unzureichende Aufklärung, zu wenig abgesessene Infanterie für den Schutz von Panzern und Versorgungsfahrzeugen sowie eine fehlende Auflockerung: eine 60 Kilometer lange Kolonne, Fahrzeug auf Fahrzeug dicht aufgefahren auf dem Präsentierteller! Die Kommunikation scheint mangelhaft und vielfach abhörbar zu sein und die Moral der Soldaten ist großenteils schlecht. Vielen scheint gar nicht klar gewesen zu sein, dass sie aus Übungen in einen Krieg geführt wurden – und wenn, haben sie wohl erwartet, als „Befreier“ begrüßt zu werden. Die ukrainische Seite zeigt große Beweglichkeit kleiner Einheiten, legt Hinterhalte, vollführt Gegenstöße und profitiert von der Unterstützung ihrer westlichen Partner mit Waffen und Aufklärungsergebnissen. Das alles führt zu großen materiellen und personellen Verlusten bei der russischen Invasionsarmee, von denen man bezweifeln kann, ob Putin überhaupt Kenntnis davon hat.

Welche Rolle spielen russische Separatisten in der Ukraine im Kriegsgeschehen?

Die sogenannten „Separatisten“ sind großenteils von Russland instrumentalisierte und massiv unterstützte Kriminelle, die 2014 selbst die würdige Bergung der Opfer des Flugzeugabschusses verhinderten. Sie verfolgen völlig andere Interessen als das Wohl der Bevölkerung und haben in den bisher acht Jahren der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk unglaubliche Grausamkeiten vollbracht. Durch die Ausgabe Hunderttausender russischer Pässe in den vergangenen Jahren ist in diesen Gebieten eine immer größere Zahl von „Russen“ zustande gekommen, die Russland „schützen muss“. Es zeigt sich, dass es in nunmehr eroberten Orten das Bestreben zur Schaffung weiterer „Volksrepubliken“ gibt, und es werden sich wohl auch dafür Quislinge finden. Was Unterwerfung und Einverleibung durch Russland bedeutet, war übrigens in Estland, Lettland und Litauen nach der Sowjetisierung 1945 am Schicksal maßgeblicher Schichten der dortigen Bevölkerungen zu besichtigen.

Auch über einen Monat nach Kriegsbeginn ist die Hauptstadt Kiew noch in ukrainischer Hand. Wie lange kann das ukrainische Militär der Belagerung Ihrer Einschätzung nach standhalten?

Das lässt sich schwer voraussagen. Russland scheint ja den Versuch zur Einnahme und zunächst vollständigen Einkreisung zunächst aufgeschoben zu haben, um die ostukrainischen Gebiete und die Landbrücke bis zur Krim, einschließlich der Hafenstadt Mariupol, umso sicherer in Besitz zu nehmen. Doch bleibt der Druck auch auf die großen Städte durch periodischen Beschuss bestehen. Aber zur voraussichtlichen Kriegsdauer kann man allgemein prognostizieren: Sollte die russische Führung mit Zerstückelung, Besetzung und Unterwerfung weitgehend erfolgreich sein, kann sie sich auf einen andauernden, nachhaltigen Untergrundkampf einstellen.

Auch Mariupol wird seit Wochen belagert. Was bedeutet das für die Bevölkerung und warum werden offenbar gezielt Fluchtkorridore verhindert?

Mariupol, zweitwichtigste Hafenstadt und kulturelles Zentrum, wird nicht nur belagert, sondern ist weitgehend so zerstört, dass es Grosny und Aleppo nach deren „Befreiung“ gleicht. Die Bevölkerung erleidet Unvorstellbares und „humanitäre Korridore“ sind, wie übrigens auch im Syrien-Krieg, für die Russen nur Mittel zum Zeitgewinn, zur Vertreibung, zur noch brutaleren Bombardierung der Zurückgebliebenen, zum teilweisen Abtransport nach Russland. Und die Nutzung solcher „Korridore“ auch zur dringend notwendigen Versorgung der Restbevölkerung wird gänzlich verhindert – gerade sogar durch Ausplündern eines Rotkreuz-Konvois in der Annäherung an Mariupol.

Immer wieder ist von furchtbaren Kriegsverbrechen gegen Zivilistinnen und Zivilisten zu hören. Selbst Schulen, Krankenhäuser und Schutzräume werden von der russischen Armee beschossen. Auch in Syrien hat sich Russland schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Ist dieses Vorgehen strategisch? Wenn ja, welches Ziel wird hier verfolgt?

Derartige Verbrechen gegen das Kriegsvölkerrecht sind zunehmend auch dokumentiert. Das Vorgehen ist „strategisch“, indem es absichtlich ist und Methode hat. Da Blitzkrieg und jubelnder Empfang nicht zustande kamen, soll die Bevölkerung durch Bomben- und Raketenterror mürbegemacht und zur Aufgabe veranlasst werden, ohne Rücksicht auf Verluste. Es scheint ja hier fast der Ausdruck „Krieg“ beschönigend – es handelt sich vielmehr um einen Unterwerfungsfeldzug wie zu Zeiten Dschingis Khans und Ögedeis, genau so grausam und menschenverachtend – wie noch im 13. Jahrhundert!

Was hat es mit der Gruppe Wagner auf sich?

Die „Gruppe Wagner“ ist ein rechtsextremes russisches privates Sicherheits- und Militärunternehmen. Die Söldner-Einheiten dieser „private military company“ operieren verdeckt. Angehörige waren unter anderem in Syrien aktiv. Auch führen sie Ausbildungseinsätze in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik durch und kämpfen im libyschen Bürgerkrieg auf Seiten des Generals Chalifa Haftar. Die Gruppe geht auf den Neonazi Dmitri Utkin zurück, nach dessen Kampfnamen „Wagner“, in Anspielung auf Hitlers Faible für Richard Wagner, sie benannt ist. Aktuell sind die Wagner-Milizionäre offenbar auch in der Ukraine eingesetzt, wohl auch – wie tschetschenische Kämpfer – wegen ihrer besonderen Grausamkeit. Grundsätzlich werden PMCs von Regierungen benutzt für „schmutzige“ Operationen außerhalb des Augenmerks der Öffentlichkeit – weshalb ich schon öfters dafür plädiert habe, dass sich die NATO als ein wertebasiertes Bündnis von solchen Praktiken distanzieren sollte, die es auch in westlichen Staaten gibt.

Russland bestreitet, über biologische und chemische Waffen zu verfügen. Ist das glaubwürdig? Wie wahrscheinlich ist der Einsatz solcher Vernichtungsmittel?

Mit Sicherheit verfügt Russland neben dem Nuklear-Potential auch über B- und C-Massenvernichtungswaffen. Das Nervengift Nowitschok wurde ja in den letzten Jahren mehrmals gegen Regimegegnern und „Verräter“ eingesetzt. Präsident Putin ist deren Einsatz auch im Krieg gegen die Ukraine zuzutrauen, wobei man Operationen „unter falscher Flagge“ erwarten kann, um solche Kriegsverbrechen der Ukraine in die Schuhe schieben zu können.

In welchem Zustand sind die ukrainischen Streitkräfte? Wann werden weitere Waffenlieferungen aus der EU nötig sein?

Wie schon gesagt, sind sie in viel besserer Verfassung, als man, besonders auf russischer Seite, erwarten konnte. Aber materiell sind sie natürlich weit unterlegen. Deshalb ist die weitere Unterstützung mit Waffen, zu der Deutschland sich ja erst im allerletzten Moment entschieden und sich dann konkret nur sehr zögerlich konkret bereitfand, kriegsentscheidend, und zwar sofort und ununterbrochen.

Zum Stichwort „kriegsentscheidend“ noch eine grundsätzliche Bemerkung: Die Ukraine wird in diesem Krieg wohl nicht „siegreich“ sein, aber sie hat schon „gewonnen“, wenn Russland seine Ziele nicht erreicht. Und das muss um jeden Preis verhindert werden. Denn zwischen Selbstbehauptung einer in der Existenz bedrohten Nation einerseits und „Neutralität“ zu Putins Bedingungen samt „Demilitarisierung“ andererseits gibt es keinen „diplomatischen Kompromiss“. Empfehlungen deutscher „Experten“, wonach es besser sei, den Krieg durch Kapitulation und „Neutralisierung“ zu verkürzen, statt ihn durch Waffenlieferungen zu „verlängern“, sind schändlich. 1994 wurde der Ukraine im Budapester Memorandum für die Abgabe ihrer Nuklearwaffen aus Sowjetzeiten die territoriale Integrität „garantiert“, 2014 hatte sie per Gesetz den Status der Neutralität. Beides hat sich als wertlos erwiesen.

Wie kann denn verhindert werden, dass Putin seine Ziele in der Ukraine noch erreicht?

Die Beendigung der russischen Invasion wird wohl Veränderungen an der Kreml-Spitze voraussetzen. Die diesbezügliche Bemerkung des US-Präsidenten in Warschau finde ich gar nicht skandalös. Präsident Putin scheint von seinem revisionistischen Revanche-Feldzug besessen, seit er als KGB-Resident in Dresden den Sturz des SED-Regimes miterlebt und vergeblich das Eingreifen sowjetischer Panzer erhofft hat – der nachfolgende Zerfall der Sowjetunion ist ja für ihn die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Und anstatt ernsthaft Russland von der völlig defensiven NATO bedroht zu sehen, fürchtet er sich in Wirklichkeit nur vor dem „demokratischen Virus“ – aus der Ukraine, aus Belarus, aus Kasachstan. Deshalb gibt es seit den großen Demonstrationen gegen seine gefälschte Wiederwahl 2011 zunehmende Repression im Innern und Aggression nach außen. Sollte er die Ukraine beherrschen, würde er sich als nächstes gegen deren demokratische, freiheitliche Nachbarn wenden.

 

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Online editorial

Sabine Schwarz