Herr Lilliestam, ob Steinkohle oder Erdgas – noch sind wir für unsere Energieversorgung von Russland abhängig. Woher kann Deutschland noch fossile Brennstoffe beziehen? Welche Alternativen gibt es zum Erdgas?
In der Tat ist Deutschland sehr abhängig von Energieimporten und insbesondere von Importen aus Russland. Die Gasabhängigkeit ist den meisten Deutschen bekannt, aber nicht, dass die Abhängigkeit von Russland im Steinkohlesektor etwa gleich groß ist – nach vorläufigen Zahlen 57 Prozent des Verbrauchs in 2021. Wenn Russland also sämtliche Energiehähne zumacht, kann es eng und vor allem teuer werden.
Das größte Problem liegt nach wie vor im Gassektor, da große Teile der Versorgung über Pipelines gehen. Diese Leitungen liegen, wo sie liegen – und wo das nicht der Fall ist, kann eben kein Gas fließen. Der Flüssiggassektor ist in den letzten Jahren nicht genügend ausgebaut worden, um so einen großen Ausfall auszugleichen. Für den Kohle- und Ölmarkt bestehen Ausweichmöglichkeiten, aber für Gas weniger. Kurzfristig gibt es hier wenig Alternativen, außer den Flüssiggasimporten, die z.B. aus den USA kommen und auch bereits unterwegs sind.
Alle mir bekannten Vorhersagen sehen wenig oder keine Gasknappheit in Deutschland in diesem Winter, da die Speichermenge noch bis Ende der Heizsaison im April ausreicht. Im nächsten Winter könnte es schwieriger werden, vor allem wenn der Winter kalt wird. Wir müssen zusehen, dass wir über den Sommer die Speicher so weit füllen, wie nur möglich. Wir sollten uns in erster Linie auf sehr hohe Wärmekosten einstellen. Da wir uns in eine sehr starke Abhängigkeit vom Gas begeben haben – auch rein physisch, mit Gasthermen und Gaskraftwerken –, wird es länger dauern, den Verbrauch dauerhaft und deutlich zu senken.
Kanzler Olaf Scholz will diese Abhängigkeit auflösen. Was halten Sie von den Plänen der Regierung?
Diese Abhängigkeit aufzulösen, ist vorrangig ein Nebeneffekt der Energiewende im weitesten Sinne: Wenn wir ein klimaneutrales Energiesystem haben, werden wir auch keine fossile Energie mehr verbrauchen und importieren müsse. Somit kann die Energiewendepolitik, sowohl für Erneuerbare Energien als auch für Energieeffizienz, die Importabhängigkeit mittelfristig senken und langfristig eliminieren.
Die aktuelle Krise zeigt, dass wir noch mal nachlegen müssen: Die jetzige Energieversorgung, die Jahrzehnte gut funktioniert hat (auch wenn sie schmutzig war), ist plötzlich ein nationales Sicherheitsproblem. Das rechtfertigt aus meiner Sicht deutlich verstärkte Maßnahmen, um die Energiewende sehr schnell und kraftvoll voranzubringen. Wir müssen vor allem im Wärmesektor alles tun, um den Gasbedarf zu senken, z.B. durch den noch schnelleren Umbau auf Wärmepumpen. Sie sind ohnehin bereits eine ökonomisch attraktive Alternative. Technisch ist das machbar, aber regulatorisch schwierig. Ein Mieter kann beispielsweise kaum eine neue Heizungsart einbauen. Außerdem könnte bei einem massiven Umbau die nötige Zahl von Fachkräften fehlen.
Im Stromsektor ist das Problem ebenfalls groß: Bis zum Ukrainekrieg hat die Bundesregierung auf Gas als Brückentechnologie gesetzt und sogar erwirkt, dass fossiles Gas von der EU-Kommission als „grün“ klassifiziert wurde. Diese Entscheidung ist nicht nur äußerst fragwürdig – Erdgas ist nun mal nicht klimafreundlich –, sondern durch die Krise aus meiner Sicht auch bereits überholt. Obwohl „weniger Gasverbrauch“ aus Klimasicht erst einmal positiv erscheint, steht die Regierung jetzt vor einem Problem: Es fehlt eine zentrale Option für die Balancierung der fluktuierenden Erneuerbaren, d.h. Sonnen- oder Windenergie. Hier bedarf es einer Neuorientierung, damit ein viel schnellerer Ausbau der Alternativenergien gelingen kann: Wir brauchen nicht nur mehr Windräder, was Minister Habeck schon vor dem Krieg angekündigt hat, sondern auch einen viel schnelleren Netzausbau in allen EU-Ländern. Damit können wir über den Kontinent hinweg die schwankende Einspeisung von erneuerbarem Strom ausgleichen und auch einen Ausbau von technologisch immer attraktiveren Speicheroptionen schaffen.
Die aktuelle Krise zeigt, dass zu große Abhängigkeiten sehr schnell problematisch werden können. Es ist deswegen wichtig und richtig, dass Deutschland und die EU sich für einen offenen Welthandel eingesetzt haben, damit die zunehmend globalisierten Versorgungsketten reibungslos funktionieren – auch die der neuen Technologien. Aber es zeigt sich auch, dass wir in Europa kritische Produkte selbst produzieren können müssen, um nicht wieder „überrascht“ zu werden. Energieanlagen – insbesondere neue Energietechnologien und die damit zusammenhängende Infrastruktur – gehören sicher zu dieser Art Produkten. Wir müssen sicherstellen, dass wir uns im Zweifelsfall allein versorgen können.
Mittel- und langfristig teilen Klima- und Energiesicherheitspolitik also viele Grundsätze und Strategien, was gut ist. Denn so gibt es heute „neue“ und sehr starke unmittelbare Gründe, um die Energiewende schnell voranzutreiben.
Meinen Sie, dass Kompromisse zugunsten der fossilen Energien gemacht werden, sprich es keinen Kohleausstieg bis 2030 geben wird? Oder könnte es einen Entwicklungsschub bei den erneuerbaren Energien geben?
Es wird sicherlich einen Entwicklungsschub bei den Erneuerbaren geben. Das haben wir früher schon bei den Ölkrisen gesehen: Als der Ölmarkt in den 1970er Jahren ins Schwanken geriet, sind viele Länder auf andere Energien umgestiegen. Da die Erneuerbaren Energien noch nicht reif waren, war damals die Atomkraft die Alternative. Heute wären wir schlecht beraten, auf neue Atomkraft zu setzen: Sie lohnt sich einfach nicht, selbst wenn man das Atommüllproblem ignoriert. Aber die Erneuerbaren sind heute günstig und technologisch reif, sodass wir direkt umsteigen können.
Kurzfristig wird es aber Diskussionen geben, über den Kohleausstieg und vor allem – da kurzfristig viel relevanter – über die Schließung der letzten Atomreaktoren Ende des Jahres. Meine Vermutung ist, dass diese Reaktoren als Notlösung offenbleiben. Das wird für den grünen Minister Habeck sehr bitter sein, aber möglicherweise werden diese Reaktoren für die Stromversorgung wichtig, je nach Gasversorgungslage im Winter. Den Kohleausstieg jetzt in Frage zu stellen, halte ich für nicht sinnvoll, denn der Planungshorizont 2030 oder 2038 ist für die aktuelle Gaskrise irrelevant. Möglicherweise werden wir sehen, dass in den nächsten Jahren die Kohleverstromung in der bestehenden Kraftwerksflotte wieder ansteigt und die Klimaziele im Stromsektor verfehlt werden. Aber mittel- und langfristig können und werden die Erneuerbaren die Kohle und das Gas komplett ersetzen. Da muss man ruhig bleiben und nicht kurzfristige Nöte politisch ins Feld führen, um mühsam gewonnene langfristige Pläne über Bord zu werfen. Der Kohleausstieg war und bleibt richtig.
Wie lange reicht unser Energievorrat? Wie können wir die Kapazität unserer Speicher noch erhöhen?
Nach allen mir bekannten Vorhersagen reicht das Gas für diesen Winter, es sei denn, es wird noch einmal außerordentlich kalt. Das Ende der Heizsaison ist nah.
Es ist nicht einfach, Gasspeicher schnell auszubauen. Dadurch ist es umso wichtiger, dass die bestehenden Speicher bis Ende des Sommers möglichst randvoll sind. Wenn die Gaskrise sich zuspitzt, werden wir wohl Diskussionen erleben, ob wir die großen Gasspeicher, die noch im Besitz von Gazprom sind, unter staatliche Kontrolle stellen müssen oder sogar direkt verstaatlichen. Heute, nach Ausbruch des Krieges, können wir vermuten, weshalb Gazprom im Herbst 2021 ihre Speicher in Europa nicht wie sonst aufgefüllt hat. Ob es wirklich klug ist, kritische Infrastruktur zu verkaufen – wie am buchstäblichen Vorabend des Ukrainekrieges mit der Genehmigung einer Schwedter Raffinerie an das russische Rosneft geschah – ist eine Frage, die wir vielleicht überdenken müssen.
Was sind die Folgen für Verbraucher und die Industrie? Und wie wirken sich die aktuellen Geschehnisse auf die Energiepreise aus?
Die Folgen werden vorerst steigende Preise sein, mitunter auch sehr kräftig. Eine Prognose kann ich nicht aufstellen, aber wir haben schon jetzt in den Spitzen eine Verzehnfachung der Gaspreise – verglichen mit den letzten Jahren – gesehen. Das wirkt sich auch auf den Strompreis aus, da die Gaskraftwerke meist den Strompreis bestimmen. Diese Preise werden sich auf die Industrie auswirken, aber auch auf die Verbraucher. Wir haben bereits vor dem Krieg in vielen Ländern gesehen, dass die Regierungen mit mehr oder weniger wirksamen oder sinnvollen Maßnahmen reagieren, wie die Mehrwertsteuersenkung auf Benzin in Polen. Solche Fragen werden in den nächsten Monaten ganz oben auf der politischen Agenda stehen.
Während steigende Energiepreise in Europa einen starken Effekt haben können, kann es für ärmere Länder sogar kritisch werden, wenn sich große Teile der Bevölkerung Energie nicht leisten können: Vor allem die Ölpreise können sich hier dramatisch auswirken. Diese Frage ist bisher in der Krise etwas untergegangen, aber sie könnte zu großen Problemen in Entwicklungsländern führen, was wir schon bei der Ölpreisspitze 2008 gesehen haben.
Entgegen der Befürchtung hat Russland bisher seine Gaslieferungen nicht eingestellt. Woran könnte das liegen?
Das ist schwer zu sagen. Vielleicht will Russland noch als zuverlässiger Lieferant für Westeuropa dastehen und stellt die Lieferungen erst dann ein, wenn die Europäer ihrer Seite des Vertrags – der Bezahlung – nicht mehr nachkommen. Dann wären wir, nicht sie, die „unzuverlässigen“ Partner. Ich befürchte, dass es noch dazu kommt, denn die Sanktionen sind noch sehr neu. Auf jeden Fall sollten wir uns darauf einstellen, dass es zu einem Lieferstopp aus Russland kommt.
Prof. Dr. Johan Lilliestam leitet die Gruppe Energiewende und Public Policy am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) und ist gemeinsam berufener Professor für Energiepolitik an der Universität Potsdam.