Herr Zimmermann, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte zum Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine: „Es geht hier um nichts Geringeres als um gravierendste Verletzungen der Menschenrechte.“ Wie wird gegen die Menschenrechte während des Ukraine-Krieges verstoßen? Welcher Rechtsrahmen liegt vor?
Vorwiegend geht es um einen massiven Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot, das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist. Es bestehen keine Rechtfertigungsgründe für den Angriff der Russischen Föderation gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen wurde.
Die von der Russischen Föderation vorgetragene Behauptung, es handele sich um eine humanitäre Intervention, ist rechtlich fraglich und wird in keiner Weise von Fakten gestützt. Die Vorwürfe, die Ukraine habe einen Völkermord an der ethnisch-russischen Bevölkerung im Donbass begangen, sind daher extrem fernliegend, wenn nicht absurd.
Im Kontext eines bewaffneten Konflikts gelten grundsätzlich auch die Menschenrechte, soweit sie nicht durch die besonderen Regeln des humanitären Völkerrechts überlagert werden. Das bedeutet, dass nunmehr sowohl die Regeln des humanitären Völkerrechts – also des sogenannten Kriegsrechts – als auch menschenrechtliche Gewährleistungen zu beachten sind. Dies gilt insbesondere soweit die Russische Föderation mittlerweile im Hinblick auf Teile der Ukraine als Besatzungsmacht anzusehen ist.
Das russische Militär beschießt immer wieder zivile Ziele in der Ukraine, Fluchtrouten werden nicht respektiert. Dies widerspricht dem humanitären Völkerrecht. Wie rechtfertigt Präsident Putin diesen rechtlichen Verstoß?
In der Tat häufen sich Hinweise darauf, dass möglicherweise die Russische Föderation und deren Streitkräfte auch gezielt zivile Ziele angreifen. Sollte dies der Fall sein – was sich gegenwärtig nicht verifizieren lässt –, dann würde es sich dabei um einen klaren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht handeln. Insbesondere geht es hier um Verstöße gegen das sogenannte Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen und um Kriegsverbrechen im Sinne des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.
Die russische Seite trägt derzeit vor, sie greife nicht gezielt zivile Ziele an. Vielmehr würden ihre Angriffe nur militärischen Zielen gelten. Wenn dies der Fall wäre, würde es sich dann evidenterweise auch nicht um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht handeln.
Seit Anfang März ermittelt der Internationale Strafgerichtshof gegen Russland. Dagegen hat der Internationale Gerichtshof nach der Anklage durch die Ukraine Russland bereits verurteilt und verpflichtet den Krieg einzustellen. Was bringt ein solches Urteil?
Der Internationale Strafgerichtshof ist für Handlungen von Staatsangehörigen der beiden Konfliktpartien, die auf dem Gebiet der Ukraine begangen werden, zuständig, weil die Ukraine dessen Zuständigkeit anerkannt hat. Damit ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag auch für Handlungen zuständig, die von russischen Staatsangehörigen auf dem Gebiet der Ukraine begangen werden. Sollte es zu konkreten Ermittlungen gegen einzelne Personen kommen – was aber angesichts der Tatsachenlage relativ schwierig ist und zudem wegen der Komplexität der Ermittlungen länger dauern wird –, könnten Haftbefehle gegen russische Staatsangehörige ergehen, die etwa als militärische Befehlshaber für solche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht verantwortlich sein könnten.
Bei dem ebenfalls derzeit anhängigen Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof geht es demgegenüber – anders als beim Internationalen Strafgerichtshof – nicht um ein Verfahren gegen einzelne Personen. Vielmehr geht es um ein streitiges Verfahren der Ukraine gegen die Russische Föderation. Hier liegt bislang nur eine einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshof vor, die aber völkerrechtlich verbindlich ist. In seiner Anordnung hat der Gerichtshof die Russische Föderation aufgefordert, die Kampfhandlungen einzustellen. Die Durchsetzung obliegt dann aber nach dem System der Charta der Vereinten Nationen dem UN-Sicherheitsrat. Dort verfügt die Russische Föderation jedoch bekanntlich über ein Vetorecht. Damit verfügt der Internationale Gerichtshof nicht über die Möglichkeit, seine Anordnung selbst durchzusetzen.
Kann Russlands Staatschef trotz seiner Immunität für seinen Angriffskrieg rechtlich belangt werden? Vor welchem Gericht? Wenn ja, was wären mögliche Anklagepunkte?
Es handelt sich erneut um ein mögliches Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Dieser hat vor einiger Zeit bereits in einem Verfahren gegen den damals noch amtierenden Staatspräsidenten des Sudan, Präsidenten Umar al-Baschir, ausgeführt, dass in Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof auch für amtierende Staatsoberhäupter keine Immunität mehr gewährt werden kann. Das hätte zur Folge, sollte es jemals zu einem Haftbefehl gegen Präsident Putin kommen, dass er sich gegenüber Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs nicht auf seine Immunität berufen kann. Anders wäre es in Strafverfahren vor nationalen Gerichten: Hier würde Präsident Putin, jedenfalls solange er noch im Amt ist, Immunität genießen.
Sollte es zu einem Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof kommen, dann könnte der russische Staatschef jedoch nicht wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine als solches angeklagt werden, weil insoweit keine Zuständigkeit des Strafgerichtshofs besteht. Mögliche Delikte, für die er angeklagt werden könnten, wären demgegenüber die bereits erwähnten Kriegsverbrechen, insbesondere die gezielten Angriffe auf Zivilisten, sofern sich dies nachweisen ließe und ferner auch eine strafrechtliche Verantwortung von Präsident Putin als Befehlshaber nachweisbar wäre.
Russland hat in der Vergangenheit immer wieder von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht und so wichtige Resolutionen des UN-Sicherheitsrats verhindert. Inwiefern ist Ihrer Meinung nach eine Reform der permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats angebracht? Die Generalversammlung berät nun erneut über eine Resolution. Wie viel Erfolg kann diese haben?
Die Russische Föderation verfügt, wie die anderen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats auch, über das sogenannte Vetorecht. Das heißt, eine Resolution kommt nur dann zustande, wenn keines der ständigen Mitglieder mit „Nein“ stimmt. Seit mehreren Jahrzehnten wird über eine Reform des Sicherheitsrates diskutiert. Diese Reform ist aber bislang steckengeblieben. Man muss darauf hinweisen, dass jede Änderung der Charta der Vereinten Nationen auch der Zustimmung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates bedürfte. Ohne diese kann es keine Reform geben. Das ist 1945 bewusst so verankert worden. Damit man das Vetorecht also quasi „versteinert“. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Reform des Vetorechts völkerrechtlich ausgeschlossen.
Die Generalversammlung hat in der Tat vor kurzem eine „Uniting for Peace“-Resolution beschlossen. Das ist seit den 1950er Jahren eine feststehende Praxis der Generalversammlung, wonach sie befugt ist, immer dann tätig zu werden, wenn der Sicherheitsrat durch das Veto eines ständigen Mitglieds blockiert ist – bis hin zu möglichen Empfehlungen, militärisch zugunsten des angegriffenen Staates einzuschreiten. Diese Praxis bei einer Blockade des Sicherheitsrats ist auch vom Internationalen Gerichtshof 2004 in einem Rechtsgutachten als mit der UN-Charta vereinbar gebilligt worden.
Diese Resolution der Generalversammlung ist im vorliegenden Fall mit großer Mehrheit angenommen worden. Nur fünf Staaten haben dagegen gestimmt, nämlich die Russische Föderation selbst, Weißrussland, Syrien, Nordkorea und Eritrea.
Es wird viel darüber gestritten, ob das, was in Mariupol, Kherson und vielen anderen Städten passiert, Kriegsverbrechen sind. Warum ist das strittig?
Bei der Frage, ob es sich um Kriegsverbrechen handelt, kommt es darauf an, was dort im Einzelnen passiert ist. Einerseits gibt es die Frage nach den gezielten Angriffen auf zivile Ziele. Das ist eine Faktenfrage. Zum Theater in Mariupol beispielsweise behauptet zum einen die Russische Föderation, der Angriff sei nicht durch russische Streitkräfte erfolgt, sondern durch ukrainische.
Sollten sich dort nur Zivilisten aufgehalten haben und sollte dies auch erkennbar gewesen sein, dann würde es sich um einen gezielten Angriff auf ein ziviles Objekt handeln. Dafür spricht, dass Markierungen mit dem Wort „Kinder“ auf der Straße vor dem Theater aufgebracht waren. Die Folge wäre, dass es sich vorliegend um ein Kriegsverbrechen im Sinne des Römischen Statuts handeln würde.
Es ist außerdem darüber nachzudenken, ob die Taktik der Russischen Föderation im Hinblick auf Mariupol einem Aushungern der Zivilbevölkerung gleichkommt. Dies insbesondere deshalb, weil nach meinem Kenntnisstand die russischen Streitkräfte Hilfskonvois mit Lebensmitteln nicht in die Stadt hineinlassen. Im Hinblick auf diese Konstellation wäre die Beweislage einfacher und man könnte davon ausgehen, dass es sich insoweit in der Tat um ein Kriegsverbrechen handelt.
Russland ist nicht mehr Mitglied des Europarats. Immer mehr Brücken werden ihrerseits abgebrochen. Wer soll darüber befinden, wenn Russland sämtliche rechtlichen internationale Institutionen ignoriert bzw. sich von ihnen lossagt?
Die Mitgliedschaft der Russischen Föderation im Europarat ist durch eine Entscheidung des Ministerkomitees des Europarats vor einigen Tagen wirksam beendet worden. Damit sind sie aus dem Europarat ausgeschieden. Die Frage ist allerdings, welche Folgen das für noch anhängige oder in Verfahren hat, die in der Vergangenheit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeleitet worden sind oder um solche die in nächster Zeit im Kontext des Krieges noch anhängig gemacht werden. Dabei handelt es sich zum einen um Staatenbeschwerden der Ukraine gegen die Russische Föderation und zum anderen um eine Vielzahl von Beschwerden auch und insbesondere russischer Staatsangehöriger wegen Verstößen gegen die Europäischen Menschenrechtskonvention in Russland selbst, genannt sei hier nur das Stichwort Alexei Nawalny, aber eben auch um Klagen die jetzt noch möglicherweise erhoben werden. Die Regelungen in der Europäischen Menschenrechtskonvention sind nicht völlig eindeutig, ab wann sie nicht mehr anwendbar sind, ob also etwa eine Übergangszeit ihrer Fortgeltung auch bei dem Ausscheiden einer Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Europarat besteht. Insbesondere ist etwa fraglich, was für Altverfahren gilt, die eingeleitet worden sind, als Russland noch Mitglied des Europarates war oder ob gar noch in den nächsten Monaten Verfahren gegen die Russische Föderation eingeleitet werden können bevor die Beendigung der Europäischen Menschenrechtskonvention wirksam wird. Mittlerweile hat aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden, dass Russland erst mit Wirkung zum 16. September 2022 aufhört eine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention zu werden und dass bis dahin noch Klagen gegen die Russische Föderation (und zwar auch im Hinblick auf Sachverhalte bis zu eben diesem Zeitpunkt) erhoben werden können.
Ich weise ferner darauf hin, dass die Russische Föderation nach wie vor auch Vertragspartei des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte ist und auch dem Individualbeschwerdeverfahren nach dessen Fakultativprotokolls unterworfen ist. Die Russische Föderation hätte sich routinemäßig Anfang März dem sogenannten Staatendialog mit dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen nach eben diesem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte unterwerfen sollen, hat aber seine Teilnahme aus Gründen der erschwerten Anreise abgesagt. Die Anhörung der Russischen Föderation ist jetzt auf die nächste Sitzung des Menschenrechtsausschusses im Juli 2022 verschoben worden. Es bleibt zu hoffen, dass sie zumindest dann dort erscheinen wird.
Es ist davon auszugehen, dass Personen, die der Hoheitsgewalt der Russischen Föderation unterstehen, also auch in der Ukraine, zunehmend Beschwerden beim Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen nach dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte einlegen werden. Sollte dies der Fall sein wird der Ausschuss über die Frage, ob in den Handlungen der Russischen Föderation Verstöße gegen diesen Pakt zu erkennen sind, zu entscheiden haben.
Das UN-Menschenrechtsbüro gibt ständig aktuelle Zahlen der zivilen Kriegsopfer heraus. Täglich verlassen Tausende ukrainische Flüchtende ihr Land. Welche rechtlichen Mittel können zur einer schnelleren Beendigung des Krieges beitragen?
Wie eingangs erwähnt, handelt es sich bei dem Angriff der Russischen Föderation um einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikels 51 der Charta der Vereinten Nationen. Damit hat die Ukraine nicht nur das Recht zur individuellen Selbstverteidigung, sondern alle Staaten haben das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung. So lassen sich auch ohne Weiteres die Waffenlieferungen von Drittstaaten an die Ukraine rechtfertigen. Auch weitere Unterstützung bis hin zu einer aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen gegen die russischen Truppen wären unzweifelhaft vom Selbstverteidigungsartikel gedeckt. Es ist jedoch evident, dass Drittstaaten diesen Schritt offenbar nicht tun wollen.
Jenseits davon haben aber viele Drittstaaten Sanktionen als Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsverstoß ergriffen, in der Hoffnung, dass damit die Russische Föderation zu einem Einlenken bewegt werden kann. Wichtig ist, dass solche wegen des schwerwiegenden Verstoßes gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot seitens der Russischen Föderation völkerrechtlich zulässig sind.
Vielen Dank!