Wir besichtigen den Haupttempel der Jesiden. Obwohl sie ihn sich schon mehrfach – etwa von den Osmanen – zurückerkämpfen mussten, verbleibt die Inschrift einer Koransure im Torbogen über dem Eingang. Im Tempel befinden sich die Gräber der berühmtesten Sheikhs, den geistlichen Oberhäuptern. Im hinteren Bereich betreten wir eine Höhle, deren Wände vom Ruß brennenden Öls geschwärzt sind. Zu beiden Seiten sind große Tongefäße für Olivenöl aufgereiht. Beim Auftreten bemerke ich, dass mein Fuß in den Boden einsinkt. Auf Nachfrage erfahre ich, dass es sich dabei um geronnenes Öl handelt. Es wird zum Entzünden von Öllampen genutzt, denn das Feuer spielt im jesidischen Glauben eine wichtige Rolle. Ein weiteres heiliges Symbol ist die Sonne, deren Strahlen durch die Vertiefungen der runden Türmchen symbolisiert werden, die immer wieder in Lalish auftauchen.
Nachdem wir einmal von unten bis oben durch das am Berghang liegende Dorf geführt wurden, treffen wir in einem Versammlungsraum auf die Sheikhs. In unserer Gruppe befinden sich auch einige Studierende der Universität von Dohuk. Beim gemeinsamen Mittagessen an großen Tischen erzählen sie von ihrer Arbeit im Genozid-Zentrum und wir tauschen uns über das Gesehene aus.
Nach dem Mittagessen in Lalish verabschieden wir uns, um weiter nach Alqosh zu fahren, wo wir einen aramäischen Bischof treffen wollen. Auf dem Weg vollbringt unser Fahrer eine kleine Meisterleistung, indem er den Bus steile Serpentinen zum berühmten Felsenkloster Rabban Hormzid hinauffährt. Das Kloster war ursprünglich assyrisch und ist nun Teil der Chaldäisch-Katholischen Kirche. Das beeindruckende Gemäuer ist im 7. Jahrhundert in und an die Steile Felswand gebaut worden und bis heute erhalten geblieben.
Da wir nach dem Anstieg in der Sonne und aus Interesse doch wesentlich mehr Zeit in Rabban Hormzid verbracht haben als geplant, kommen wir fast eine Stunde zu spät zu unserem Treffen mit dem Bischof. Deshalb nehmen wir spontan an der assyrischen Vesper, dem katholischen Abendgebet, teil. Die Besucher des Gottesdienstes rezitieren in einem tiefen Singsang, in der klimatisierten Kirche riecht es stark nach Weihrauch. Vor dem Gotteshaus treffen wir einen jungen Mann mit einem Maschinengewehr. Sein Name bedeutet „Liebe“ und seit den Angriffen durch den Islamischen Staat (IS) beschützt er die Kirche.
Als wir uns von ihm und dem Bischof verabschiedet haben, geht der ereignisreiche erste Tag mit einer kurzen Busfahrt zu Ende. Das Abendprogramm bleibt jedem selbst überlassen, manche sind geschafft und gehen aufs Zimmer. Ein paar von uns gehen mit den Studierenden aus Dohuk noch ein Eis essen, andere wollen sich auf die Suche nach einem Bier begeben. Besonders spät wird es aber bei niemandem.