Internetaktivismus
Das Phänomen des Internetaktivismus umfasst vielfältige Formen des Protests und kulturellen Widerstands, die sich primär auf eine Kommunikation im Internet stützen oder vollständig in der virtuell-medialen Umgebung des Internets stattfinden. So kann das Internet einerseits als Kommunikationsmittel im virtuellen Raum zur Vorbereitung und medialen Begleitung dienen, andererseits aber auch als Anschlusskommunikation über politische und soziokulturelle Proteste, die im öffentlichen Raum stattgefunden haben. Hierbei wird das Internet insbesondere von protestierenden Gruppen genutzt, um z.B. Demonstrationen, Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen zu kommunizieren, über erfolgreiche Aktionen zu berichten und potentielle Teilnehmer für künftige Proteste zu sichern. In dieser Hinsicht ersetzt, erweitert und verbindet das Internet klassische Kommunikationsformen des Protests wie Flugblätter, Plakate oder Zeitschriften. Eine der ersten Protestgruppen, die das Internet bereits in den 1990er Jahren umfassend für ihre Öffentlichkeitsarbeit nutzten, waren die mexikanischen Zapatistas.
Es gibt allerdings auch Formen des Protests, die sich ausschließlich im virtuellen Raum des Internets abspielen. Sie gehen von der zunehmenden Rolle des Internets in den medialisierten Kulturen aus und können auch ohne ein Zusammenkommen der Aktivisten im realen Raum wirkungsvolle, kollektive Formen politischer Meinungsäußerung entstehen lassen. Mithilfe von Onlinepetitionen sind politische Entscheidungen auf parlamentarischer Ebene beeinflussbar und mit Beschwerde-Emails an Politiker und Unternehmensführungen können Einzelpersonen ihre politische Meinung gegenüber Entscheidern kundtun. Eine der ersten und bis jetzt relevanten Formen des internetinternen Protests stellt der Hacktivism dar, bei dem durch gezielte Veränderung, Stilllegung, Unterbrechung und Zerstörung von Cyberinfrastrukturen am Code des Internets selbst operiert wird. So werden beispielsweise von Hackern Webseiten gezielt verändert und mit abweichenden Botschaften versehen. Solche Manipulationen führen zur Verunsicherung und nachhaltigen Schädigung des Systems, gegen das protestiert wird.
Beide Arten des Internetaktivismus, des im Kontakt mit Offline-Protest genutzten Internets und des auf das Internet beschränkten Aktivismus, agieren auf drei strukturellen Ebenen des Internets:
Auf einer ersten Ebene ist das Internet ein reines Kommunikationsmittel. Im Gegensatz zu klassischen Massenmedien (Fernsehen, Radio, Zeitung) oder bisherige individuelle Trägermedien wie Printprodukte oder audiovisuelle Formate (CDs, VHS) ist Kommunikation via Internet inzwischen mit einem geringen Kosten- und Arbeitsaufwand verbunden. Zudem bietet es eine gesteigerte Öffentlichkeit und eine dezentrale Struktur für die Kommunikation individueller Ziele und Mittel des Protests. Eine logische Konsequenz daraus ist, dass das Internet als Kommunikationsinstrument für eine von der offiziellen abweichende Berichterstattung gesehen wird: Alternative Medien wie Nachrichtenforen und Independent Media Centers (z.B. indymedia.org) bieten eine von den etablierten Medien unabhängige Sichtweise auf Ereignisse des Zeitgeschehens.
Weiterhin erlaubt das heutige Internet oder „Web 2.0“ seit ca. 2000 das vereinfachte Generieren von Inhalten (user generated content) und eine relativ hierarchienlose, feedbackorientierte Form der Kommunikation zwischen Nutzern. Es ergeben sich daraus neue Formate internetbasierter Plattformen, welche als Social Networking Sites einen Schwerpunkt auf Verbindungen zwischen den Kommunikationsteilnehmerinnen legen. Die Protestbewegungen greifen demnach auch auf die Vorteile des Internetraums als soziales Milieu zurück. Sie werben über gezielte Kommunikation und deren schnelle Verbreitung durch die individuellen Nutzer inhaltlich für ihre politischen Ziele sowie um neue Teilnehmer und Aktivisten. Besonders effektiv wird die schnelle Mobilisierung der Massen im Internet bei den DdoS (Distributed Denial of Service)-Attacken, die das Kollektiv Anonymous vornimmt, um gegen Unternehmen und Regierungen zu demonstrieren.
Dabei führt eine kurzfristig und punktuell mobilisierte Menge von Internetnutzern durch ihren Zugriff den Ausfall einer Webseite herbei. Ein ähnliches, nur im Offline-Raum und ohne Zerstörungen ablaufendes Vorgehen, ist der Protest im Rahmen eines Smartmobs.
Das Internet ist jedoch nicht nur Kommunikationsmittel und soziales Milieu, sondern zuletzt auch ein Medium, dass den Selbstausdruck und die Abgrenzung von herrschenden Systemen ermöglicht. Dadurch eröffnen sich auch Wege des individuellen Protests, die zuvor in dieser medialen Form nicht möglich waren. So fallen im Internet regelmäßig Individuen auf, die durch die Kommunikation ihrer politischen Ablehnung zu Vorbildern werden und durch individuelles Engagement im Medium Internet Bewegungen beeinflussen. Beispielhaft sind dafür die Nacktfotografien, die Bloggerinnen wie Aliaa Magda Elmahdy aus Ägypten oder Amina Tyler aus Tunesien im Internet veröffentlicht haben, um die Rechte der Frauen im Anschluss an die Revolutionen des Arabischen Frühlings in das öffentliche Bewusstsein zu rufen. So demonstrierten sie insbesondere für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit. Beide Aktivistinnen fanden international zahlreiche Unterstützerinnen und Nachahmerinnen.
Quellen:
- Deadly Knitshade (2011): Knit the City. Maschenhaft Seltsames. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag.
- Hornung, Annabelle (2011): Do it yourself. Die Mitmach-Revolution. Mainz: Ventil-Verlag.
- Kimminich, Eva/Persello, Mara (2011): Stadt und Zeichen. Ausstellungskatalog. Potsdam : Univ. Potsdam, Professur für Kulturen romanischer Länder.
- Moore, Mandy/Prain, Leanne (2011): Strick Graffiti.Kuscheliges für Mauern, Ampeln und Bäume, Street Art stricken und häkeln. München: Droemersche Verlagsanstalt Th. KnaurNachf. GmbH und Co. KG.
Autor | Julius Erdmann |
Zeitraum | Juni 2013 |