Devoted Listeners – Musikhören und Kunstreligion
Prof. Dr. Christian Thorau
Im andächtigen, konzentrierten Zuhören leben Rezeptionsformen weiter, die aus religiösen Praxen übernommen werden oder diesen zum Verwechseln ähnlich sind. Am Ende des 18. Jahrhunderts kommt in der frühromantischen Musikästhetik die Vorstellung auf, dass das Hören von Musik eine hingebungsvolle, quasi-religiösen Haltung erfordert, die sich ganz auf die Musik einlässt und die Welt drum herum vergessen macht. Vor allem von Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder stammen Texte, in denen ästhetische Wahrnehmung und religiöse Emphase ununterscheidbar erscheinen. Wackenroder beschreibt in der Figur des Tonkünstlers Joseph Berglinger einen Hörer, der die Umgebung ausblendet und sich auf die Musik konzentriert: „Wenn Joseph in einem großen Konzerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre – ebenso still und unbeweglich, und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen.“ Solche Zitate wurden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein weitergetragen und fanden in einer speziellen Ästhetik der „absoluten Musik“, ausformuliert von Eduard Hanslick, eine weite Verbreitung in bürgerlichen Kreisen. Vor einem größeren musik- und kulturgeschichtlichen Horizont ist diese seit gut 250 Jahren wirkungs-mächtige Idee aus mindestens zwei Gründen interessant: Sie bezieht sich vor allem auf eine nicht mit Sprache verbundene „reine“ Instrumentalmusik und sie korrespondiert mit einem Verhaltenswandel im Publikum, der zwischen 1810 und 1840 zu beobachten ist.
Die kulturhistorisch orientierte Musikhörforschung setzt deshalb weniger bei der Ästhetik oder bei den Klangeigenschaften der Musik an, sondern untersucht das Hörverhalten und die Hörnormen im Wandel der Zeiten. Der Vortrag soll zeigen, wie sich im Zusammenspiel von bürgerlichem Kunstbegriff, musikalischer Werkidee und neuen Konzerträumen eine strenge Verhaltensnorm für Konzertaufführungen herausbildete, die äußerlich (und möglicherweise auch in den inneren Überzeugungen) bis in das 21. Jahrhundert weitergegeben wurde.
Christian Thorau ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Potsdam. Er studierte Musik, Musikwissenschaft, Geschichte und Semiotik; Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Musikhörens, Theorie der musikalischen Analyse, Popularisierung musikalischen Wissens; jüngst erschien das von ihm und Hansjakob Ziemer herausgegebene Oxford Handbook of Music Listening in the 19th and 20th Century (2018).
Magie, Mystik und staunende Erkenntnis – Musik in Filmen mit biblischen Stoffen und christlichen Bezügen
Prof. Dr. Claudia Bullerjahn
Biblische Stoffe bildeten schon in frühesten Stummfilmzeiten beliebte Drehbuchvorlagen. Neben häufig monumentalen, epischen Verfilmungen einiger ausgewählter alttestamentarischer Stoffe (z.B. David and Bathsheba [1951], The Ten Commandments [1956], The Prince of Egypt [1998]) sind vor allem sog. Jesusfilme bis in die heutige Zeit weit verbreitet und besonders kommerziell erfolgreich. Dabei reicht das Spektrum vom Sandalenfilm mit nur vagen Andeutungen (z.B. Quo Vadis [1951], Ben-Hur [1951]) über die mehr oder weniger getreue Nacherzählung der Evangelien bzw. Exegese (z.B. King of Kings [1961], Barabbas [1961], The Greatest Story Ever Told [1965], The Last Temptation of Christ [1988], The Passion of Christ [2004]) bis zur Musicalverfilmung (Jesus Christ Superstar [1973]) und Filmkomödie (Monty Python’s Life of Brian [1979]). Hinzu treten Filme mit Bezügen zur christlichen Religionsgeschichte (z.B. The Song of Bernadette [1943], The Mission [1986]). Filmmusik kann in Kontexten der Intimität oder Erhabenheit über spezifische Instrumentierungen, Harmonien und Soundbearbeitungen Rührung oder Ehrfurcht erwecken, die mit spezifischen physiologischen Reaktionen wie Gänsehaut, Tränen, Kloßgefühl im Hals, Flattern im Bauch oder Herzrasen einhergehen können. Durch solche Musik wird der abendländisch sozialisierte Betrachter eines Hollywoodfilms befähigt zu erkennen, dass ein Protagonist ein Wunder erlebt, Transzendenz erfahren oder einen alternativen Weltzugang gewonnen hat. Zugleich wird die große Lücke zwischen der Alltags- und Filmwelt (Diegese) überbrückt und der Betrachter kann besser in das antike Geschehen eintauchen (Immersion). Es ist deshalb nicht besonders überraschend, dass in allen diesen häufig überlangen Filmen die Musik, und insbesondere die nondiegetische, eine überproportional große Rolle einnimmt, wenn auch der jeweilige Stil und die Funktion der Musik differieren. An Szenen ausgewählter Filme soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie die visuelle Darstellung göttlichen Wirkens musikalische Unterstützung erhält und in welcher Weise der Betrachter vor der Leinwand oder dem Bildschirm durch Musik dazu gebracht wird, sich in den Leidensweg Christi einzufühlen und die Gedanken der Zweifler oder Gläubigen nachzuempfinden.
Dr. Claudia Bullerjahn(* 1962 in Berlin): 1981–1997 Schulmusik-, Musiklehrerdiplom- und Aufbaustudium Musikwissenschaft sowie Promotion an der Hochschule für Musik und Theater Hannover; 1992–2004 Wissenschaftliche Angestellte bzw. Assistentin sowie Vertretungsprofessorin für Musik und ihre Didaktik sowie Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hildesheim; seit 2004 Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Von hörenden Herzen und sich neigenden Ohren – Erkundungen biblischer Tonspuren
Prof. Dr. Kathy Ehrensperger
Im Anfang war das Wort….Gemäß biblischer Tradition wird die Schöpfung geschaffen durch Gottes Wort, durch Kommunikation. Durch das Wort wird ein Resonanzraum geschafften, die Anrede sucht nach Resonanz – des Geschaffenen. Menschen sind in biblischem Verständnis Gerufene, Angerufene. Die Tonspur der Stimme Gottes durchzieht die biblischen Traditionen in ihrer Vielfalt wie ein Cantus Firmus. Den Anruf Gottes zu hören und darauf zu antworten ist die Bestimmung des Menschen, sein Leben zu leben in hörendem Ant-worten, in der Ver-antwortung gegenüber den Mit-angerufenen. Davon erzählen diese Traditionen, vom Anruf Gottes ‚Adam wo bist du?‘, zum Blut Abels das von der Erde zum Himmel schreit, dem Anruf Gottes an sein Volk ‚Höre Israel‘ bis hin zu Elias Hören des Daseins Gottes in der Stille. Hören und Verstehen werden nicht als aufeinanderfolgende Prozesse verstanden, Ohren, die nicht hören, sind wie Herzen, die nicht verstehen. So wird in prophetischen Aussagen, die auch in neutestamentlichen Texten aufgenommen werden, denn die Hoffnung ausgedrückt, dass dereinst verschlossene Ohren geöffnet werden, die Schwingungen des Anrufes Gottes ver-antwortend aufgenommen werden. Anhand von ausgewählten Beispielen wird der Bedeutung des Hörens in diesen faszinierenden, vielstimmigen Traditionen nachgegangen werden.
Kathy Ehrensperger hat eine Forschungsprofessur für Neues Testament in jüdischer Perspektive am Abraham-Geiger-Kolleg, Universität Potsdam inne. Sie war zuvor Reader for New Testament Studies an der University of Wales, Trinity Saint David, UK (bis 2017) und Pfarrerin der evang-ref. Kirche in Basel, Schweiz (bis 2004). Ihr Forschungsinteresse konzentriert sich auf jüdische Traditionen der Antike, wozu auch die Schriften des Neuen Testaments zählen. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Paul at the Crosroads of Cultures, 2013, Searching Paul: Conversations with the Jewish Apostle to the Nations, 2019, und Gender and Second Temple Judaism hrsg. mit Shayna Sheinfeld, 2020. Sie ist Koordinatorin des 'Forum Religionen im Kontext' der Universität Potsdam, und Chefredakteurin der Enzyklopädie der jüdisch-christlichen Beziehungen, eines Forschungs- und Publikationsprojekt am Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Klänge – Atmosphären – Hörerfahrungen. Der auditive turn in der Religionswissenschaft
Prof. Dr. Udo Tworuschka
Die ältere Religionswissenschaft interessierte sich vorwiegend für historische Religionen und war textorientiert. Der "Visible Turn" machte auf Räume, Gewänder, Bilder, Rituale, Filme, Museen, Ausstellungen usw. aufmerksam. Die gegenwärtige Religionsästhetik spiegelt dagegen die Randständigkeit des Akustischen und Auditiven. Doch diese sind allgegenwärtige Merkmale unserer sinnlichen Umwelt und ihrer Wahrnehmung. Seit den 1980/ 90er Jahren macht sich eine Konjunktur des Hörens bemerkbar und eine „neue Aufmerksamkeit“ gegenüber akustischer Wahrnehmung entstand. Es scheint an der Zeit, analog zur „visible religion“ systematisch das Programm einer "auditive religion" zu entwickeln – vielleicht einen „auditive turn“ in der noch reichlich tauben Religionswissenschaft anzuschieben. Der Vortrag bemüht sich um eine religionswissenschaftliche Systematisierung des religiös geprägten Phänomenbereichs Klänge/ Töne/ Geräusche/ Stimmen/ Musik. Dabei widmet er sich insbesondere religiösen Klangräumen und -welten, Hör- und Zuhörereignissen und ihren emotionalen Wirkungen.
Udo Tworuschka, Dr. phil., geb. 1949. Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft (bei Gustav Mensching), evangelischen Theologie, Anglistik in Bonn/ Köln; Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über "Die Einsamkeit", 1972; von 1973-1992: Wiss. Assistent, dann Dozent und apl. Prof. am Seminar für Theologie und ihre Didaktik; 1979 Habilitation/ Köln; 1984 apl. Prof./ Köln; 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Musik als Diesseitsmetaphysik? – Anmerkungen zu Cages Ästhetik der Stille
Prof. Dr. Sabine Sanio
Daß John Cage heute als einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt, läßt sich auch darauf zurückführen, daß er sich in seinen Kompositionen wie in seinen Texten und Vorträgen mit vielen sehr unterschiedlichen musikalischen, künstlerischen und philosophischen Traditionen und Ideen auseinandergesetzt hat: Er war Schüler von Arnold Schönberg und von Henry Cowell, einem der wichtigsten amerikanischen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er kannte europäische Avantgarde-Künstler wie Marcel Duchamp, Hans Richter, Max Ernst oder Laszlo Moholy-Nagy sehr gut, war eng mit den amerikanischen Malern Robert Rauschenberg und Jasper Johns befreundet und hat bei dem japanischen Zen-Gelehrten Daisetz Suzuki studiert und sich intensiv mit dem Zen-Buddhismus auseinandergesetzt.
In Cages berühmtester Komposition 4‘33‘‘, die heute zu den wichtigsten Musiikwerken des 20. Jahrhunderts zählt, wird die Stille zu Musik. Zum Verständnis dieser paradoxen Konzeption von Musik werde ich neben kunsthistorischen und ästhetischen Aspekten von Cages Ästhetik der Stille auch das Thema der Konferenz aufgreifen und der Frage nachgehen, ob und inwiefern Cages Musik als eine Form religiöser Erfahrung gelten kann oder sogar gelten muß. Denn bei der für Cage zentralen Frage, wie wir Erfahrungen machen und die Welt erleben, kommt dem Zen-Buddhismus entscheidende Bedeutung zu. Ausgehend von einigen für Cage grundlegenden zen-buddhistischen Ideen werde ich der Frage nachgehen, ob die zen-buddhistischen Ideen in Cages Denken und in seiner Musik noch als religiöse Vorstellungen gelten können oder ob Cage mit ihrer Hilfe letztlich die Idee einer Erfahrung der Wirklichkeit entwickelt, die auch als ästhetische Erfahrung beschrieben werden kann – eine Idee, die auch die Dadaisten und Surrealisten beschäftigte, die sich ebenfalls von der Idee (künstlerischer) Subjektivitä distanziert haben. Schließlich werde ich einige aktuelle Anknüpfungspunkte in der westlichen Kunst und Philosophie zu dieser Thematik vorstellen, so etwa Lacans Konzept des Realen oder die akutellen Konzepte des Posthumanismus und des Anthropozän.
Sabine Sanio leitet den Schwerpunkt Theory des Masterstudiengang Sound Studies and Sonic Arts an der Universität der Künste Berlin; Studium der Germanistik und Philosophie in Frankfurt/Main und Berlin (FU), Promotion in Germanistik, Habilitation in Musikwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur aktuellen Ästhetik, zur Mediengeschichte und -ästhetik, zu Klangkunst und Neuer Musik sowie zu den Beziehungen der Künste untereinander – in Buchform: Alternativen zur Werkästhetik: Cage und Heißenbüttel (Saarbrücken 1999), 1968 und die Avantgarde (Sinzig 2008) sowie als Herausgeberin: Borderlines/Auf der Grenze: Georg Klein (Heidelberg/Berlin 2014), Sound als Zeitmodell: Zeit als Klang denken (Berlin 2014). und, zusammen mit Christian Scheib: Das Rauschen (Hofheim 1995).
Die Stimmung der Welt – Von den hurritischen Hymnen zu Max Plancks Eitz Harmonium
Prof. Dr. Martin Wilkens
Die Tonsysteme, Tonleitern, (Kirchen)Tonarten, Skalen und Harmonien von den Anfängen bis zur Gegenwart sind eng mit den Modellbildungen in Mathematik und Physik verflochten. Nicht nur Biografisch, wie bei Kepler, Galilei, Newton und Planck, sondern eben auch systematisch. Angefangen bei den Hurritischen Hymnen, dem ersten Buch Mose und Pythagoras in der Schmiede, über Newtons Vorliebe für den “Dorischen Modus” und Eulers Versuch einen objektiven Lieblichkeitsgrad musikalischer Klänge zu bestimmen, bis hin zu Max Plancks Untersuchungen zur Rolle der natürlichen Stimmung in der Vokalmusik.
1976–1983 Physik und Philosophie an der Universität-Gesamthochschule Essen. Bis 1988 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Physik der Universität Gesamthochschule Essen. Promotion 1987 ("Theorie kritischer Eigenschaften von Spingläsern"). Danach Forschungsaufenthalt am Institut für Theoretische Physik der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau sowie ein Post-Doc-Aufenthalt am Optical Sciences Center in Tuscon, Arizona/USA. 1994 Habilitation an der Fakultät für Physik der Universität Konstanz ("Mechanische Effekte der Strahlungswechselwirkung beweglicher Atome"). Seit 1997 Professor für Quantenoptik an der Universität Potsdam. 2008–2010 Ehrenamt als Vorsitzender der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin.