Von der Handschrift zum digitalen Transkript forschungsnah gelehrt.
Problemstellung
Warum kann man für seine Hausarbeit nicht einfach den Text kopieren, den man auf einer Homepage angezeigt bekommt, nachdem man bei Google ‚Nibelungenlied Text‘ eingegeben hat? Warum ist es problematisch, von ‚dem‘ Nibelungenlied oder von ‚dem Buch‘ im Mittelalter zu sprechen? Warum hat die Materialität der Lieder von Walther von der Vogelweide großen Einfluss darauf, wie wir sie als Germanist*innen heute interpretieren?
Eine der zentralen Kompetenzen des Germanistikstudiums ist die Fähigkeit, die Gemachtheit von Texten wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren und einschätzen zu können. Einer*m Studienanfänger*in ist dies – insbesondere in Hinblick auf Texte aus dem Mittelalter – in zweifacher Hinsicht fremd. Erstens sind die Bedingungen von Literatur, wie sie die Materialität der Texte des Mittelalters prägen, unbekannt und häufig unverständlich. Zweitens sind die Form, in welcher wir die Texte heutzutage wahrnehmen und zur Forschungsgrundlage machen, sowie ihre Entstehungsbedingungen kritisch zu reflektieren.
Es bedarf der besonderen Vermittlung, dass es den Text, den alle 50 Studierenden in der identischen Form der Reclam-Edition im Seminar lesen, so im Mittelalter nicht gegeben hat, wie man sich stattdessen die mündliche und schriftliche Vermittlung und Rezeption dieses Textes vorzustellen hat und wie die moderne Textpräsentation als Studien- oder historisch-kritische Ausgabe entstanden ist. Bereits zu Beginn des Studiums muss der*die studentische Leser*in unterscheiden lernen, in was für einer modernen Edition er*sie literarische und historische Texte zur Grundlage seiner eigenen Aneignung und universitären Auseinandersetzung macht. Die Fragen, welche Arbeitsschritte einer Edition zugrunde liegen oder welchen wissenschaftlichen Ansprüchen eine Edition genügen muss, stellen sich für viele Studierenden im Studium das erste Mal.
Hierbei ist er*sie mit einer Flut an möglichen Editionstypen konfrontiert. Der ‚material turn‘ in den Geisteswissenschaften hatte die Folge, dass mittlerweile auch Editionen erschienen sind, die einen Text wie das Nibelungenlied mit mehreren Fassungen zugleich und daher mehrfach im selben Buch abdrucken. Mit einer solchen Edition muss ein*e Studierende*r erst umzugehen lernen.
Die zunehmende Digitalisierung der Geisteswissenschaften macht sich auf zweierlei Weise besonders bemerkbar. Erstens digitalisieren immer mehr Bibliotheken ihre Bestände, sodass der Zugang zur ursprünglichen Quelle ohne Mühe ermöglicht wird. Hierdurch vermehren sich aber auch die Möglichkeiten der Textauswahl. Zweitens wurden gerade aufgrund der Mehrfachüberlieferung mittelalterlicher Texte und der daraus resultierenden Fassungsproblematik viele Texte des
Mittelalters in den letzten Jahren zusätzlich zu bestehenden, gedruckten Editionen Gegenstand digitaler Editions- und Forschungsprojekte. Die digitale Edition, wie sie etwa das Forschungsprojekt Lyrik des deutschen Mittelalters. Digitale Edition (LDM), (einsehbar unter www.ldm- digital.de), vorbildlich umsetzt, findet immer mehr Zustimmung und Verbreitung. Erneut steigen damit die Auswahl und Komplexität von Editionstypen und damit für den*die studentische*n Leser*in die Anforderungen, um diese Texte handhaben und ihre Qualität kritisch hinterfragen zu können.
Daher sollte bereits im Grundstudium in den verpflichtenden Einführungen eine Form der Vermittlung gefunden werden, bei welcher der*die Studierende den Weg von einer mittelalterlichen Handschrift zu einer digitalen Edition auf eine Weise nachvollziehen kann, dass er*sie diese Kompetenzen auch im weiteren Studium und im späteren Arbeitsleben wirksam einsetzen kann. Die Einführung in Sprache und Literatur des Mittelalters (Gruppe 3 und Gruppe 4) wird dies erproben durch eine konzeptionelle Umstrukturierung und Teilnahme am Transkribathon, dem digitalen Crowd-Sourcing-Projekt zu theologischen Handschriften des Mittelalters der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB Lab) der Staatsbibliothek zu Berlin (https://lab.sbb.berlin/events/faithful-transcriptions/).
Ziele und Innovationscharakter
Im Rahmen des Einführungsseminars werden Studierende den Editionsprozess von der mittelalterlichen Handschrift, die den Text überliefert, zu einer im Netz abrufbaren, autorisierten Edition anhand eines eigenen Transkriptionsprojektes nachvollziehen. Hierzu werden sie in Kooperation mit einem für Crowd-Sourcing geöffneten, digitalen Forschungsprojekt selbstständig in Gruppenarbeit (fünf Studierende pro Gruppe) einen Text für eine digitale Edition aufbereiten. Gegenstand der Edition sind insgesamt folgende Abschnitte aus der bisher unedierten Niederrheinischen Historienbibel, dem Codex Ms. germ. fol. 516: 12v-14v: Jakob und Esau (1 Mose 27-28), 23v-25v: Joseph und seine Brüder (1 Mose 37-38), 47r-49r: Auszug aus Ägypten/Teilung des Roten Meeres (2 Mose 13-17), 103r-105r: Samson und der Löwe (Richter 12-15), 119r-121r: David und Goliath (1 Sam 17-20), 220v-222v: Daniel in der Löwengrube (Dan 14). Diese Auswahl bekannter biblischer Geschichten soll den Studierenden die Aneignung in der mittelalterlichen Form erleichtern.
Erstmals werden Studierende bereits zu Beginn ihres Studiums (1. oder 2. Fachsemester) unter Anleitung und engmaschiger Betreuung Editionstexte erstellen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Diese werden dauerhaft digital öffentlich zugänglich gemacht und sind sowohl auf die Bedürfnisse der scientific community wie auch der interessierten Öffentlichkeit abgestimmt.
Die Studierenden nehmen aktiv an einem innovativen Forschungsprojekt teil und ermöglichen die Weiterentwicklung digitaler Editionsformate. Sie sind, so die Ausschreibung des Crowd–Sourcing– Projektes, „am Puls der Entwicklung neuer Arbeitsinstrumente“: „Die Transkription wird nach einem Text Encoding Initiative (TEI)-konformen Schema in der Markup-Sprache xml codiert. [...] Die Transkription im Rahmen des Projekts wird im IIIF-basierten Arbeitsbereich des aktuell in Entwicklung befindlichen Handschriftenportals stattfinden“. Eines der Ziele des Transkribathons ist der Versuch, erstmals die wissenschaftliche Anwendung von Digitalisierungsprogrammen mit einem ‚gemeinsamen Lernen‘ zu verbilden. „Der eingesetzte Mirador 3-Viewer wird in noch sehr basaler Form die Auszeichnung einzelner Stellen in Digitalisaten als Annotationen ermöglichen. Die Erfahrungen, Ideen und Anforderungen der Teilnehmenden sollen danach direkt in die Konzeption des weiteren Ausbaus von Annotationsfunktionalitäten im Handschriftenportal einfließen“ (https://lab.sbb.berlin/events/faithful-transcriptions/#transkription; letzter Zugriff am 25.02.2021). Der Versuch, bereits Studierende im ersten oder zweiten Fachsemester als Editor*innen tätig werden zu lassen, benötigt eine inhaltliche und formale Umstrukturierung der Einführungsveranstaltung sowie einen Mehraufwand an Betreuung. Die Vermittlung von 2
Kenntnissen aus dem Bereich der mittelalterlichen Medienkunde, Medientheorie und Editionspraxis wird ausgeweitet. Dies erfolgt sowohl über weitere synchrone Lehreinheiten im Seminar wie über digitale, asynchrone Lehreinheiten (Lehrvideos). Zusätzliche Sprechstunden und Kommunikationskanäle wie Foren auf Moodle werden eingeplant.
Erstmals werden der wissenschaftliche Vortrag und die Podiumsdiskussion als Lehrformat in das Curriculum der Einführungsveranstaltung konzeptionell integriert.
Die Kooperation der Professur für Germanistische Mediävistik (Prof. Dr. Katharina Philipowski) mit der Staatsbibliothek zu Berlin wird vertieft und um die digitale Komponente erweitert. So finden seit dem Wintersemester 2018 unter der Leitung von Dr. Carmen Stange (HU Berlin) im Rahmen der Einführungskurse Exkursionen in die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin statt, bei welchen in einer jeweils 90minütigen Sitzung kleine Gruppen bis max. 10 Studierende die Möglichkeit erhalten, mit originalen Handschriften aus dem Mittelalter zu arbeiten. Diese ist coronabedingt in den letzten beiden Semestern ausgefallen, soll aber – sofern es das Infektionsgeschehen zulässt – zum Sommersemester 2021 wieder aufgenommen werden. Die Exkursionen ergänzen den Schwerpunkt ‚Texterstellung‘ mit dem Aspekt ‚Materialität der Quellen‘. Die mittelalterliche Handschrift, die Gegenstand der digitalen Edition ist, wird hier autoptisch und haptisch erfahrbar.
Über die Tutorien, die von den Organisatorinnen des Crowd-Sourcing-Projektes für die Einführungskurse an der Universität Potsdam gehalten werden, sowie über die Veranstaltungen des Rahmenprogramms erhalten die Studierenden Kontakt mit Mitarbeiter*innen einer universitätsexternen Forschungseinrichtung und Forscher*innen anderer Universitäten und erlangen so Einblicke in deren Arbeitsumgebung und Forschungsbereiche.
Zugleich erleben die Studierenden durch ihr Transkriptionsprojekt die editorische Forschungstätigkeit. Da es sich um eine digitale Edition handelt, erlangen die Studierenden neben paläographischen Grundkenntnisse auch die Fähigkeit, ihre Transkription nach dem TEI-konformen Schema in der Markup-Sprache xml zu codieren und lernen Annotationsfunktionalitäten der digitalen Edition kennen.
Damit wird erstmals in der Einführung in Sprache und Literatur des Mittelalters nicht nur forschungsnahes Lehren, sondern sogar Forschung in der Lehre in einer Weise praktiziert, dass daraus publizierte Forschungsergebnisse resultieren.
Durch die Vermittlung im Rahmen des Einführungsseminars und den eigenen Beitrag im Rahmen eines Digitalisierungsprojektes wird Studierenden so eine Möglichkeit gegeben, schon früh im Studium eigene Forschungstätigkeit und deren Relevanz zu erleben.
Involvierte Studiengänge und -abschnitte (inkl. Pflicht- oder Wahlpflichtbereich)
Pflichtbereich
Basis-Modul: Grundlagen der Literaturwissenschaft im Zwei-Fach-Bachelor Germanistik sowie im Bachelor Lehramt Deutsch
2 Einführungsveranstaltungen mit jeweils 50 Studierenden
geplante Seminarform: Seminarsitzungen in Präsenz mit flankierender Online-Lehre per Moodle- Kurs (Foren, Bereitstellung von Materialien). Bei hohem Infektionsgeschehen kann der Kurs auch als reine Online-Lehre durchgeführt werden.