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Daniel Zeis

Portrait von Daniel Zeis

Daniel Zeis

Leiter der ambulanten Suchtberatungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam

Was haben Sie studiert? Haben Sie eine Weiter- oder Zusatzausbildung absolviert, um sich für das Tätigkeitsfeld Suchtberatung zu qualifizieren?

Mein Name ist Daniel Zeis, ich lebe in Potsdam und leite seit vielen Jahren die ambulante Suchtberatungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete. Der Träger ist die AWO Bezirksverband Potsdam. Ich bin Dipl. Sozialarbeiter/-pädagoge, habe eine Zusatzqualifikation im Rahmen einer berufsbegleitenden Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht erworben und in 2022 ein Master-Studium mit Abschluss „M.A. Sozialmanagement“ absolviert. Für das Tätigkeitsfeld der Suchtberatung qualifiziert mich mein Diplom, für den Bereich der Suchtbehandlung die therapeutische Zusatzqualifikation und für die Leitungsaufgaben der Master.

 

Wie sind Sie zur Suchtberatung gekommen? Haben Sie bereits während Ihres Studiums den Entschluss gefasst, sich darauf zu spezialisieren?

Das war eine Mischung aus Zufall und eigener Chuzpe. Im Studium der Sozialen Arbeit hatte ich zunächst den Wunsch, im Migrationsbereich tätig zu werden. Hier hatte ich zuletzt ein Projekt zur „Interkulturellen Öffnung sozialer Dienste“ belegt und einen Abschlussbericht mit verfasst. Als Berufsanfänger bin ich dann aber zunächst in der Wohnungsnotfallhilfe (damals Obdachlosenarbeit) gelandet. Hier besuchte ich eine Tagung des AWO Bundesverbandes und wurde auf zwei Kollegen aufmerksam, die im Bereich der Interkulturalität, aber auch in der Suchthilfe tätig waren. Ich ging beherzt auf die beiden zu und bot den Bericht aus dem Studienprojekt an. Hierüber entstand ein Kontakt, der in einer 20-Stunden-Stelle als Suchtpräventionskraft mündete. Aus dieser Tätigkeit wechselte ich alsbald in die Suchtberatung. So ergab sich dann alles weitere.

 

Wir haben den Eindruck, dass Suchtberatung ein eher unbekannteres Tätigkeitsfeld ist. Woran könnte das liegen?

Hier bin ich mir unsicher. Die Frage kommt ja vom Career-Service der Universität Potsdam. Im Portfolio der Studiengänge sind weder die Soziale Arbeit noch Gesundheits- oder Rehabilitations-Wissenschaften noch Public-Health-Studiengänge vertreten. Hauptvertreter in der Suchthilfe sind Studierende bzw. Alumni der Sozialen Arbeit. Man kann schon sagen, dass die Soziale Arbeit sich die Suchthilfe als attraktives Tätigkeitsfeld spätestens seit den 1980er erobert und wesentlich mitgestaltet hat. Dies liegt sicherlich auch an den Anfordernissen des Tätigkeitsfeldes und den dazu passenden Methoden der Profession, u.a. im Ausdruck der Hilfe zur Selbsthilfe, des Empowerments und des sogenannten Triplemandats. Bleibt die Psychologie als angebotenes Studienfach. Hier habe ich den Eindruck, dass Studierende eine enorme Auswahl an Tätigkeitsbereichen zur Verfügung steht und die Suchtberatung hier entweder nicht gut genug beworben wird oder zu unattraktiv erscheint. Letztlich gibt es immer noch viele abschreckende Klischees, so u. a., dass suchterfahrene Menschen oft unzuverlässig und schwierig in der Compliance sind, man es nur mit krassen Fällen zu tun hat (Stichwort: Substituierte, Straßenarbeit etc.) und der Job schlecht bezahlt ist. Das schreckt sicherlich viele ab. Meine These wäre auch, dass nach Abschluss des Masters und mehrjähriger Beschäftigung in anderen Berufsfeldern oder weiterer Ausbildung (z.B. im Bereich der Psychotherapie) das Feld der ambulanten Suchthilfe erst später (wieder-) entdeckt wird und dann eine Leitungsposition im Feld der ambulanten Suchthilfe besetzt wird, die entsprechende Qualifikationen voraussetzt. Es verändert sich aber etwas. So erhalten wir regelmäßig Bewerbungen von Studierenden der Psychologie für ein Praktikum.

 

Welche drei Sachen haben Sie auf der Arbeit zuletzt erledigt?

  • Einen Kollegen intervisorisch zu einem Fall beraten
  • Einen Rückfall in einem Nachsorgegespräch mit einem Patienten aufgearbeitet
  • Eine Mail beantwortet zu einer Erstanfrage

 

Wie ist Ihr Arbeitsplatz gestaltet? Kommen die Ratsuchenden immer zu Ihnen oder wechseln Sie auch mal den Arbeitsort?

Die Ratsuchenden kommen zum großen Teil zu uns in die Suchtberatungsstelle. Wir arbeiten nach Terminvergabe. Alle Berater*innen verfügen über ein eigenes, angemessen großes Büro, welches neben den Büromöbeln individuell eingerichtet ist. Neben dem eigenen Büro gibt es die Gruppenräume. Hier finden täglich mehrere Gruppen zu verschiedenen Uhrzeiten statt, die von unterschiedlichen Mitarbeitenden moderiert werden. Die Gruppenräume befinden sich nicht alle an unserem Hauptstandort in der Großbeerenstraße. Von Zeit zu Zeit und individuell nach Fall machen wir auch mal Hausbesuche oder nehmen an Hilfeplankonferenzen außer Haus teil.

 

Arbeiten Sie allein oder im Team? Gibt es noch andere Beratungsstellen bei der AWO (auch zu anderen Beratungsthemen), mit denen Sie zusammenarbeiten?

Wir sind ein Team, unterstützen und helfen uns, haben gemeinsame Leitlinien, aber jede und jeder arbeitet auch sehr eigenverantwortlich und individuell. Es ähnelt vielleicht einer Praxisgemeinschaft, wie man sie aus dem Bereich der Psychotherapie kennt. Wir arbeiten und vernetzen uns sehr häufig mit anderen Fach- und Beratungsdiensten aus den Bereichen der Medizin, der Psychologie und der Sozialen Arbeit. Dazu gehören u.a. auch andere Beratungsdienste wie Ehe- und Familienberatung, Schuldnerberatung oder Migrationsberatung.

 

Wie begleiten Sie Ihre Klient*innen? Sind Sie heilend tätig? Und wann geben Sie an andere Therapieangebote ab?

Wir begleiten die Nutzer*innen unseres Angebots (das sind Betroffene, Angehörige und Multiplikatoren) vom Erstkontakt über das Erstgespräch in einen kompakten und teilweise modularisierten Beratungs- und Motivationsprozess. An dessen Ende kann die Beantragung und Vermittlung in weitere – auch medizinisch-therapeutische – Hilfen stehen. Wir sind eine anerkannte Rehabilitationseinrichtung und führen neben der Beratung auch die berufsbegleitende Ambulante Reha Sucht (ARS) sowie die ambulante Suchtnachsorge durch. Hier sind wir also selbst therapeutisch tätig. Zum Begriff der Heilung: Wenn sich Menschen auf den Weg machen und etwas verändern möchten, dann beginnt Heilung. Manchmal bedarf es dazu nur eines Gesprächs, oft dauert dieser Prozess natürlich mehrere Monate und Jahre. Im Durchschnitt begleiten wir die Nutzer*innen über 1-2 Jahre.

 

Sucht ist ein tabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft, Betroffene werden stigmatisiert. Umso schwerer muss es für die Ratsuchenden und ihre Angehörigen sein, damit umzugehen. Sicher haben Sie immer mal wieder mit einigen schweren Schicksalsschlägen zu tun. Wie verarbeiten Sie das, was Sie tagtäglich in Ihren Beratungen erleben?

Ja, immer noch berichten uns die Nutzer*innen von großen Scham- und Schuldgefühlen. Diese sind – neben falschen Vorstellungen was in einer Suchtberatungsstelle passiert – weiterhin das größte Hindernis für eine Kontaktaufnahme. Es wird aber zunehmend besser. Es hat sich viel verändert in unserer Gesellschaft. Es gibt viele Aufklärungskampagnen, das Bewusstsein ist größer geworden, die Suchtberatungsstellen arbeiten heute akzeptanzorientiert bzw. zieldifferenziert. Das bedeutet, dass die Nutzer*innen sehr individuell begleitet werden und dass das Tempo und die letztliche Entscheidung für oder gegen Maßnahmen immer von den Nutzer*innen selbst getroffen wird. Was die Schicksalsschläge anbelangt, so gibt es in jeder Biographie individuelle - persönlich als schwere Schicksalsschläge erlebte - Ereignisse, die dem Leben eine andere Richtung gegeben haben und die dann in der Folge auch zu riskanten und problematischen Konsum- und Verhaltensweisen als Kompensationsmechanismus führen. Natürlich ist es genauso anders herum richtig. Was ich als Berater*in als „schweren Schicksalsschlag“ wahrnehme, hat auch wiederrum mit meiner Biographie zu tun. Manche Lebensverläufe sind einem da näher als andere. Abgesehen davon gibt es natürlich auch traumatische Erlebnisse, die für sich stehen. Mit alldem versuchen wir möglichst professionell umzugehen. Für unsere Psychohygiene nutzen wir Teamberatungen, Reha-Konsile, Fortbildungsangebote und Supervision. Dabei unterstützt uns unser Träger, die AWO, maßgeblich.

 

Sucht kann unterschiedliche Erscheinungsformen haben: Es gibt z. B. Alkoholsucht, Arbeitssucht und Social-Media-Sucht. Kann man sagen, dass es im Grunde immer einen Nenner dabei gibt, oder unterscheiden sich die Krankheitsbilder voneinander?

Es gibt viele Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen den Suchtphänomenen. Gemeinsam ist allen, dass die Nutzer*inne am Ende maßgeblich die Kontrolle über Beginn, Dauer und Ende verlieren und dass es eine Art Widerholungszwang gibt, es immer wieder tun zu müssen. Bei den stoffgebundenen Süchten gibt es hier insgesamt sechs gleiche Kriterien, die man unterscheiden kann. In den Auswirkungen und den physischen, psychischen und sozialen Folgen gibt es hingegen große Unterschiede. Die Glücksspielsucht ist die teuerste Sucht, hier kommt es teilweise zu massiver Verschuldung im fünf- oder sechsstelligen Bereich. Große Mengen an Alkohol und Metamphetaminen (hier vor allem Crystal Meth) haben über kurz oder lang eindeutige körperliche Auswirkungen (Leberschäden, Hautveränderungen, Gehirnveränderungen etc.) und auch soziale Folgen wie z.B. der Führerscheinverlust. Bei der Gruppe, die Computerspiel in einem nicht gesunden Maße spielt, sehen wir oft sozialen Rückzug und generalisierte Formen von Ängsten.

 

Mit welchen Suchtproblematiken befassen Sie sich im Alltag am häufigsten? Haben Sie sich auf einen bestimmten Bereich spezialisiert?

Wir beraten generell zu allen Konsum- und Verhaltensweisen. Aus Gründen der Alltagskultur, der Verfügbarkeit sowie soziodemographischen und regionalen Gegebenheiten stehen bei uns seit Jahren die Themen Alkohol- und Cannabiskonsum sowie das Spielen (Glücksspiel und Medienkonsum) im Vordergrund der Beratungen. Beim Thema Medienkonsum geht es dabei fast ausschließlich um die Themen „Computerspiele“ sowie „Pornographie“. Wichtig ist: Wir sehen den Durchschnitt der Gesellschaft, d.h. alle Alters- und Berufsgruppen, alles ganz normale Leute. Das hat nichts mit dem Bild des unter der Brücke liegenden, obdachlosen „Alkoholikers“ zu tun. Selbstverständlich sind wir auch für diese Zielgruppe Ansprechpartner, aber hauptsächlich sehen wir doch Menschen, die noch mitten im Leben stehen, eine Wohnung haben, einer Arbeit nachgehen, in Familie und Freundeskreis eingebunden sind.

 

Wie halten Sie sich zu neuen Suchtformen auf dem Laufenden?

Die neuen Suchtformen der letzten 20 Jahre sind im Bereich der Spielsucht, also der Verhaltenssüchte zu verorten. Hier sind zwei Bereiche bzw. Diagnosen voneinander zu unterscheiden: Das Pathologische Spielen (Definition von Glücksspiel: Einsatz von Geld, Gewinnerwartung, mehr oder minder ausgeprägtes Zufallsprinzip) sowie die sogenannten Internetbezogenen Störungen (IbS), darunter vor allem das riskante bzw. abhängige Computerspielen sowie die Pornographie-Nutzungsstörung. Für diese Phänomene konnten wir uns seit Ende der 2000er Jahre als Schwerpunktberatungsstelle aufbauen und etablieren, u.a. mit Hilfe von Landesgeldern.

 

Wann sprechen Sie von Erfolg in Ihrem Beruf? Können Sie eine Situation in Ihrem Berufsleben beschreiben, die Sie beflügelt hat?

Wir wählen eher den Begriff der Wirkung. Das ist dann der Fall, wenn wir mit unseren Hilfen und Interventionen etwas bewirken; bei den Nutzer*innen und/oder in deren Umfeld. Und Suchtberatung wirkt! Für jeden Euro, der für Suchtberatungsstellen von der öffentlichen Hand ausgegeben wird, werden – je nach Studie – bis zu 28 Euro an gesellschaftlichen Folgekosten eingespart. Die Nutzer*innen selbst berichten häufig davon, wieder belastbarer, ausgeglichener, ruhiger und selbstbewusster zu sein. Die Wiedereingliederung in Familie, Beruf und Gesellschaft gelingt. Als Berater und Therapeut beflügeln mich Gespräche und Situationen, in denen es gelingt, das persönliche „Erklärungsmodell“ für die Entwicklung der Konsum- oder Verhaltensproblematik gemeinsam mit den Nutzer*innen zu erfassen, die verschiedenen Bedingungen gemeinsam zu verstehen, die Einfluss auf diese Entwicklung hatten und mit den Nutzer*innen neue Perspektiven zu erarbeiten. Anhand dieses Modells können dann Lösungsstrategien besprochen, Methoden vermittelt und Techniken eingeübt und umgesetzt werden.

 

Was begeistert Sie an Ihrem Beruf und was ist besonders herausfordernd?

Mich begeistert, dass die Verläufe von Biographien doch immer wieder sehr individuell sind und wir den Menschen letztlich mit wirksamen, häufig verhaltenstherapeutischen Methoden und Techniken helfen können. Herausfordernd sind sicherlich all jene, die wenig Ressourcen, dafür viele Risikofaktoren und weitere Belastungen und (komorbide) Erkrankungen mitbringen. Hier wird es komplizierter und Lösungen sind dann oft nur Teillösungen und man kommt nur langsam im Heilungsprozess voran. Das ist ein Leid für die Betroffenen und Helfer*innen sind dann auch überfragt und manchmal auch überfordert. Die Motivation und Zuversicht, etwas zu erreichen, schwindet. Hier müssen dann Ziele angepasst werden und begleitende Hilfen angefragt und installiert werden. Ein Ziel von Suchtberatung ist ja auch immer die Überlebenshilfe.

 

Haben Sie Tipps für Berufseinsteiger*innen?

Sie sollten Neugierde mitbringen, ein gewisses Maß an Belastbarkeit (Stichwort: Schicksalsschläge) und Abgrenzungsfähigkeit, um die vielen Lebensgeschichten nicht alle mit nach Hause zu nehmen sowie die Bereitschaft, sich vorurteilsfrei mit suchterfahrenen Menschen und ihren Angehörigen in Beratung zu begeben.

 

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Tätigkeit als Suchtberater und Leiter der ambulanten Suchtberatungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete des Trägers AWO Bezirksverband Potsdam.

Das schriftliche Interview wurde im Februar 2024 geführt.

 

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