Wie heißt das Semester bei Ihnen: Corona- oder Digitalsemester?
Meist einfach nur Wintersemester. Aber wenn ich mich zwischen beiden Varianten entscheiden müsste, würde ich Digitalsemester wählen, weil das meine primäre Erfahrung mit dem Unterrichten in diesem Jahr besser beschreibt und die Chancen mehr als die Probleme in den Vordergrund rückt.
Erleben Sie die Corona-Semester als Zeit der Krise oder der Innovation?
Beides, und das ist aus historischer Sicht auch nicht überraschend, denn Krisen haben oft zu Innovationen geführt. Man denke hier beispielsweise an die Pest, die im Spätmittelalter das Gesellschaftsgefüge stark veränderte und den Übergang in die Neuzeit beschleunigte. Natürlich sind wir gesellschaftlich jetzt an einem anderen Entwicklungspunkt, aber auch die Corona-Pandemie birgt das Potenzial für Krise und Innovation. Ich erlebe, dass Studierende wie auch Lehrende in dieser Zeit durch persönliche Krisen gehen und zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sind. Je länger der Ausnahmezustand andauert, desto mehr wird die Krise systemisch und wird die Universität als Ganzes nachhaltig verändern. Dass diese Veränderungen positiv sein werden, dafür wird jetzt schon fleißig in verschiedensten Gremien gearbeitet. In der Arbeitsgruppe für die Entlastung von Care Work-Verantwortlichen etwa entwerfen wir Lösungsvorschläge, um Mehrbelastung durch Online-Lehre und Homeoffice für Lehrkräfte mit Care-Verpflichtungen entgegenzuwirken. Wie in allen Transformationsprozessen ist schon vieles erreicht, aber es bleibt auch noch viel zu tun.
Trotzdem hat die Umstellung auf Online-Lehre, die das Semester mit sich brachte, auch zu zahlreichen positiven Innovationen geführt. So ist es nun allgemeine Praxis, Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt für einen Vortrag per Zoom zu gewinnen, was vor der Umstellung auf die Digitalsemester noch eine Ausnahme war. Dies ermöglicht – zumindest so lange die Internetverbindung hält – auch die Teilnahme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem globalen Süden ohne aufwendige Visa-Prozesse und Reisekosten. Das gilt für Ringvorlesungen ebenso wie für Workshops und Konferenzen und ist gerade für die Globalgeschichte eine wichtige Innovation. Digitalisierung erlaubt aber auch die Vernetzung von Studierenden in neuen Formaten. Im September konnte ich eine virtuelle Studierendenkonferenz zum Thema Border-Crossing organisieren, die es Studierenden des History Dialogues Projektes in Potsdam, Madrid, Paris, Kiryandongo (Uganda), Athen, Slemani (Irak) und Princeton ermöglichte, ihre Forschungsergebnisse einander und einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dies fand großen Anklang.
Wie haben Sie den Übergang zu digitaler Lehre gemeistert?
Die Umstellung musste im Frühling in einem sehr kurzen Zeitraum gemeistert werden. Da kam es mir zugute, dass ich bereits vorher im Rahmen des Global History Labs an der Princeton Universität mit hybriden und digitalen Lehrformaten gearbeitet habe. Angefangen hat diese Arbeit für mich bereits 2016 durch Lehre im Kakuma-Flüchtlingslager in Kenia, die ich teils vor Ort und teils aus der Distanz aus Princeton durchführte. Skype und WhatsApp gehörten damals zu den Tools, mit denen ich die Lernenden ganz persönlich und zusätzlich zu einem auf EdX zugänglichen Massive Open Online Course von Princetons Professor Jeremy Adelman anleitete.
Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass man einen guten Internetanschluss und die technischen Mittel an der Online-Lehre teilzunehmen nicht immer voraussetzen kann. Ich bot daher in den letzten beiden Semestern einen Mix aus asynchroner und synchroner Lehre an, um auch den Studierenden, die keinen eigenen Zugang zu einem Computer oder einer stabilen Internetverbindung haben, eine Lernmöglichkeit zu schaffen und gleichzeitig den für die Geisteswissenschaften unabdingbaren Raum für Austausch zu kreieren.
Ich arbeitete auch verstärkt mit Tutorinnen und Tutoren, die meinen jeweiligen Kursen zugeteilt waren und als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für technische Probleme, aber auch Präsentations- sowie Schreibfragen gleichermaßen zur Verfügung standen. Dieses System der Teaching Assistants kenne ich aus den USA und habe es immer als sehr hilfreich für die Studierenden erfahren. Im Wintersemester 2020/21 wurden meine Seminare und Übungen durch eine WHK der Philosophischen Fakultät mit ausgewiesener Expertise in Videopräsentationsfragen begleitet. Ich wollte den Studierenden hiermit ermöglichen, sich neue technologische Fähigkeiten neben den inhaltlichen Anforderungen des Seminarthemas anzueignen.
Was für Lehrformate führen Sie gerade durch?
Dieses Semester habe ich von Seminaren über Übungen bis zur Vorlesung alles angeboten. Dabei reichte das Angebot wieder von synchron zu asynchron. Die Vorlesung „Refugees and (Forced) Migrants in Global History“ wurde mit Unterstützung von WHKs aus der Philosophischen Fakultät in meinem Büro aufgezeichnet und ging dann in die Nachproduktion. Das Endprodukt hat Untertitel und kann in verschiedenen Tempi abgespielt werden, um Studierenden den Zugang zu der englischsprachigen Vorlesungsreihe zu erleichtern. Meine klassische Vorlesung habe ich hierbei in drei Teile pro Termin untergliedert, jeweils unterbrochen von Multiple-Choice-Fragen, mit denen Studierende gleich ihr Verständnis prüfen können. Das hat den Vorteil, dass die Lernenden immer wieder aktiviert werden. Erst nachdem der Test absolviert wurde, wird der nächste Teil der Vorlesung zugänglich, allerdings können Studierende die Vorlesung in ihrem eigenen Tempo absolvieren. Das war mir wichtig, um auch hier Studierenden eine flexible Nutzung ihrer Zeit zu ermöglichen, sodass sie ihr Studium auch in der Pandemie erfolgreich fortsetzen können. Die Vorlesungen für das History Dialogues Project konnte ich in unserem Studio in Golm aufzeichnen. Dort entstanden qualitativ hochwertige Videos, die nun von allen am Global History Lab beteiligten Universitäten genutzt werden. Für meine Seminare nutzte ich Moodle und Zoom. Hier habe ich mit kleinen Gruppen ergiebige Diskussionen führen können. Ein großes Lob an dieser Stelle an meine Studierenden, die trotz Pandemie kaum eine Sitzung verpassten und immer sehr gut vorbereitet waren. Es war wirklich eine Freude, mit ihnen zusammen die Auswirkungen des Kalten Krieges für den afrikanischen Kontinent, Oral History als Methode und Globalgeschichte 1850 bis zur Gegenwart zu diskutieren.
Haben Sie ein ganz neues Format entwickelt oder ausprobiert? Wie funktioniert es?
Ich habe in meinen Antworten immer mal wieder das Global History Lab erwähnt. Ich würde gerne im Folgenden näher auf diese Initiative eingehen. Das Global History Lab (GHL), finanziert durch Förderung des Open Society University Networks, bezeichnet den Zusammenschluss von nunmehr 18 Partneruniversitäten und Nichtregierungsorganisationen unter der Federführung der Princeton Universität in den USA. Das GHL sieht sich als Plattform, die Lernende und Lehrende aus aller Welt zusammenbringt, um über Grenzen hinweg Globalgeschichte gemeinsam zu diskutieren und zu schreiben. Es bietet ein einjähriges Kursangebot, bestehend aus zwei aufeinander aufbauenden Kursen, „A History of the World“ und das „History Dialogues Project“ (HDP). Im Wintersemester lehrte ich den ersten Kurs, adaptiert für Studierende in Potsdam, „A History of the World 1850 to the Present“, in dem es darum geht, anhand von Study Tracks mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen wie etwa „Krieg & Frieden“ oder „Migration & Staatenlosigkeit“ Globalgeschichte zu erlernen. Hierbei steht vor allem das Bearbeiten von Case Studies im Vordergrund, die Primärquellen so aufbereiten, dass Gruppen von Studierende eine eigene Interpretation und Lesart der Quellen im globalgeschichtlichen Kontext entwickeln. Die Gruppenpräsentationen werden dann von Lernenden im Global History Lab gegenseitig kommentiert und diskutiert.
Im Sommersemester unterrichte ich dann das History Dialogues Project. Hier geht es zentral um das Erlernen einer Methode – der Oral History –, um dann selbstständig ein Geschichtsprojekt zu erforschen, das im weiteren Sinne mit dem Thema Border-Crossing zu tun hat. Wer sich ein paar Beispiele vom letzten Jahr ansehen mag, sei auf unsere Webseite verwiesen.
Ich erwähnte eingangs, dass meine Arbeit mit dem Global History Lab auf meine Erfahrungen in Kakuma zurückgehen. Dort habe ich die ersten Unterhaltungen geführt, in denen Geflüchtete klar zum Ausdruck brachten, dass sie sich nicht nur als passive Konsumenten von globalgeschichtlichen Narrativen sehen, sondern gerne zu Produzenten eigener Narrative avancieren würden. Narrative, die zugleich im Lokalen verankert sind und trotzdem an globale Themen anknüpfen. Aus diesen Unterhaltungen entwickelte ich 2019 das Pilotprojekt des HDPs, das Arjun Appadurais Idee des Rechtes auf Forschung aufgreift und weiterentwickelt. Es ermächtigt Lernende mit Fluchthintergrund, Studierende an höheren Bildungseinrichtungen mit diversen fachlichen Spezialisierungen sowie Geschichtsstudierende an traditionellen Universitäten, neben dem Erlernen der Oral History Methode und Projektplanungskompetenzen ein eigenes historisches Narrativ zu präsentieren.
Neben der oben erwähnten Webseite und der Studierendenkonferenz habe ich zusammen mit meiner Kollegin Kate Reed an der Oxford Universität HDP Studierende aus dem globalen Süden dabei begleitet, ihre Projekte zur wissenschaftlichen Publikation einzureichen. In einem Special Issue, das ich mit meinem Kollegen George Njung von der Witwatersrand Universität in Südafrika bei Africa Today zum Thema Flucht in afrikanischer Geschichte eingereicht habe, sind auch Absolventinnen und Absolventen des GHL repräsentiert. Auch haben wir die Herausforderungen und Chancen, die die Zusammenarbeit über zahlreiche – nicht nur physische – Grenzen hinweg mit sich bringt, in einem Autorenkollektiv reflektiert und werden dazu demnächst unseren ersten Beitrag in einem von den Kolleginnen Staci B. Martin and Deepra Dandekar herauszugebenen Buch mit dem Titel „Liminal and Third Spaces of Knowledge Production from and of the Global South: Academics of Migration Background in the West“ publizieren. Weitere Projekte sind in Planung, um die gemeinsame Reise kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Im Februar habe ich nun das bereits dritte Jahr des HDPs für unsere internationalen Partner angefangen zu unterrichten. Unsere Studierenden in Potsdam werden im April dazustoßen. Ich freue mich bereits sehr auf die neuen Projekte der Lernenden aus aller Welt und auf die lehrreichen Diskussionen, die das Projekt begleiten.
Wie ist das Feedback der Studierenden?
Im Allgemeinen ist das Feedback der Studierenden über die Lehre der Professur Globalgeschichte sehr positiv, worüber ich mich überaus freue. Es ist uns allen klar, dass ein menschenleerer Campus nicht die Zukunft sein kann und dass wir gerade in den Geisteswissenschaften vom Austausch, der Diskussion und der Reflektion leben und dies meist nicht auf den Kursraum beschränkt ist, sondern sich beispielsweise bei einem gemeinsamen Essen in der Mensa oder einem Spaziergang durch den Park fortsetzt. Somit ist physische Präsenz, sobald dies wieder sicher möglich ist, aus meiner Sicht unabdingbar für die Universität Potsdam. Nichtsdestotrotz können wir viele Innovationen aus dieser Zeit mitnehmen, wie das Feedback der Studierenden zeigt. So können wir etwa die Digitalisierung nutzen, um den internationalen Austausch mit Studierenden und Lehrenden in anderen Teilen der Welt zu fördern, und somit im besten Sinne des Internets über Grenzen hinweg kommunizieren. Wir können aber auch den Einsatz von digitalen Tools auf unserer Lernplattform Moodle gezielt einsetzen, um Gruppenarbeit zu strukturieren oder Studierenden eine intensivere Vorbereitung zu ermöglichen und damit Raum für den Austausch und das Diskutieren im Seminarraum zu schaffen. Nicht zuletzt gehört Digitalkompetenz zu den essenziellen Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts, und diese sollten wir auch an den Universitäten stärken.
Wie hat sich Ihr Alltag verändert?
Auf der einen Seite radikal. Gerade in der Wissenschaft gehörten (inter-)nationale Konferenz- und Vortragsreisen zum Handwerk, insbesondere in einem Fach wie Globalgeschichte, in dem ich im Austausch vor allem mit Kolleginnen und Kollegen in Afrika, Europa und Amerika stehe. Viele Workshops und Konferenzen wurden verschoben oder werden, soweit möglich, digital oder hybrid durchgeführt. Oftmals reichen die Veranstaltungen vom frühen Morgen in den Abend hinein, um Teilnehmenden aus verschiedenen Zeitzonen das Mitwirken zu ermöglichen. Da viele meiner Kolleginnen und Kollegen Care- Verpflichtungen haben, finden Online-Besprechungen in Zeiten geschlossener Schulen und Kitas abends statt. Meine Arbeitstage sind dadurch oft sehr lang. Auf der anderen Seite bin ich jedoch überrascht, wie die Digitalisierung, verbunden mit dem Privileg einer ruhigen Arbeitsumgebung zu Hause, eine Normalisierung meines Arbeitsalltags ermöglicht.
Woran könnten Sie sich gewöhnen?
Ich könnte mich vor allem an den Wegfall von Wegstrecken gewöhnen, auch wenn ich extra zum Beginn meiner Professur im Januar letzten Jahres nach Potsdam gezogen bin. Den Campus und die Stadt kenne ich quasi nur durch die Pandemie-Brille.
Was vermissen Sie?
Spontanität und Kreativität. Es ist nicht unmöglich, digital neue Menschen kennenzulernen und in kreative Denkprozesse einzusteigen, aber es braucht mehr Planung und Energie.
Was ist Ihr Ausgleich zur Lehre in Coronazeiten?
Meine morgendliche Yoga-Routine und lange Spaziergänge mit unserem Hund durch Brandenburg. Außerdem habe ich die Musikinstrumente meiner Jugend und das Malen wiederentdeckt.
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