Wir sind in Kastamonou, einer von Bergen umrahmten Stadt. Allerdings mussten wir keinen Berg mehr überqueren, um hierhergelangen, sondern wir durchfuhren einen endlos scheinenden Tunnel, der uns aus dem ariden Hochland mit seinen Salzseen in eine neue Welt aus Misch- und Nadelwäldern mit tief eingeschnittenen Schluchten führt. Der Tunnel durchquert den Ilgaz – den höchsten Berg des Pontischen Gebirges und Ort einer Kontinentalkollision vor über 50 Millionen Jahren. Seine Schönheit und der in Wolken gehüllte Gipfel werden in dem Volkslied „Ilgaz Anadolu`nun sen yüce bir dagisin“ gepriesen: „Ilgaz, du größter Berg Anatoliens“.
Damit haben wir die Klimabarriere zum Anatolischen Hochland durchquert. An dieser fangen die Berge feuchte Luftmassen auf, die über dem nahen Schwarzen Meer gebildet werden und sich hier ausregnen. Wir wollen herausfinden, wie dieses Phänomen mit der geologischen Entwicklung dieser Region zusammenhängt und gleichzeitig einen völlig neuen Gebirgsbildungsprozess kennenlernen. Dafür fahren wir zu den Randstörungen des Kastamonoubeckens.
Der erste Stopp führt uns zu einer Abfolge von Sedimenten und Gesteinen, die an einem Straßenhang sichtbar sind. Jetzt heißt es aktiv werden! Das Identifizieren und Skizzieren der Gesteinsabfolgen und der geologischen Strukturen erleichtert uns das Verständnis von vergangenen tektonischen Vorgängen. Menschen mit GPS, Lupe und Geologenhammer hinter den Leitplanken einer Schnellstraße scheinen für vorbeikommende Autofahrer ein ungewöhnlicher Anblick zu sein. Doch es bleibt nicht nur bei gelegentlichem Hupen, auch die Polizei stattet uns einen spontanen Besuch ab. Mit Charme und fachlicher Kompetenz können wir sie jedoch von unseren wissenschaftlichen Absichten überzeugen.
Nach einiger Zeit entdecken wir zahlreiche Indizien für die fortgesetzte tektonische Einengung und die damit verbundene Heraushebung des Gebirges. Messerscharf geschnittene Verwerfungen und Gesteinskontakte, schräggestellte und verfaltete Sedimentschichten sowie Zonen mit zerbrochenen Gesteinen stützen diese These. Im Gegensatz zum südlichen Plateaurand, dem Taurischen Gebirge, handelt es sich beim Pontischen Gebirge um eine Abfolge von Verwerfungen, die sich in Richtung des Schwarzen Meeres fortbewegen. Hierbei entsteht eine keilartige, nach Norden abnehmende Topographie eines Faltengürtels, die wir im Fachjargon auch als orogenen Keil bezeichnen, der ähnlich wie eine Straßenraupe Sedimente vor sich herschiebt und verformt.
In großer Erwartung auf den zweiten Teil des Tages wird in der Mittagspause mit Schafskäse, Oliven und Tomaten neue Energie getankt. Dabei bekommen wir Besuch von einheimischen Kühen, die sich an der nahen Wasserquelle stärken. Die Kühe, die ihre Glocken an glasperlenbesetzten Kordeln tragen und die Namen Çigdem (Krokus) und Gülten (Rosenhaut) haben, deuten auf die enge Verbundenheit der hiesigen Menschen mit der Natur und ihren Tieren hin.
Am zweiten Aufschluss des Tages untersuchen wir markante und offensichtlich verkippte karbonatreiche Konglomeratbänke. Auch diese zeugen von den tektonischen Prozessen der Region, zeigen aber lediglich einen kleinen Ausschnitt einer größeren geologischen Struktur. Um diese zu verstehen, ist es notwendig, dass wir auch die weitere Umgebung erkunden. So begeben wir uns auf Entdeckungstour und kämpfen uns durch dichten Schwarzkiefernwald und Brombeergestrüpp, bis wir weitere Schichten finden, die zum Gesamtbild beitragen. Neben der Neigung dieser Einheiten können auch Lagerungsmerkmale (z.B. Sortierung nach Korngrößen) Hinweise darauf geben, wie die Sedimente ursprünglich orientiert waren. Wie bei einem Puzzle fügen sich nun alle Teile zusammen. Vor uns haben wir zwei gefaltete Gesteinsschichten, sogenannte Antiklinalen, die entlang einer Verwerfungsfläche übereinander geschoben wurden. Auch dies ist ein Beweis für die fortwährende Verformung der Region. Unsere Arbeiten an den jungen Deformationsstrukturen sind beispielhaft für die Datenaufnahme zur Gefährdungs- und Risikoanalyse in tektonisch aktiven Gebieten, wie sie bei der Konstruktion von kostspieliger Infrastruktur notwendig ist.
Text: Sina Spors und Gwendolin Lüdtke
Online gestellt: Matthias Zimmermann
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