In der zweiten Woche meines Auslandspraktikums holt mich so langsam der Alltag ab. Ich gehe morgens um 10 Uhr zur Arbeit und schneide die Aufnahmen des Aufenthalts in Shanghai zusammen. Gegen 13 Uhr gibt es Mittagessen. Wir bestellen immer bei einem anderen Imbiss oder Restaurant. Aber das Essen unterscheidet sich definitiv von dem in der Mensa in Potsdam! Während in der Uni-Mensa makellose Fischfilets ausgegeben werden, gibt es hier in Hongkong gleich ganze Fischköpfe (mit allem Drum und Dran: Augen, Zähnen, Gräten), Hühnerfüße, Austernsuppe. Aber natürlich auch frische Wan Tans, Reis, Gemüse … Alles, was das Herz begehrt.
Die Filmveröffentlichung steht kurz bevor. Man kann nicht behaupten, dass alles stressfrei abläuft. Hier wird oft am Telefon hitzig diskutiert, weil Dinge nicht richtig abgesprochen wurden. Es gibt viele spontane Planänderungen. Editoren, die eigentlich schon entlassen wurden, müssen noch einmal wiederkommen um Trailer zu überarbeiten. Das Datum der Filmveröffentlichung wird dauernd verschoben. Vieles geht drunter und drüber. Das, was am Dienstag gesagt wird, muss am Mittwoch nicht mehr stimmen. Grund dafür ist, dass bei einer großen Filmproduktion viele verschiedene Firmen zusammenarbeiten, die jeweils für etwas anderes Sachen zuständig sind. Und da ist funktionierende Kommunikation das A und O.
Erst am Freitagabend wissen wir wirklich, dass es am Montag für die Filmveröffentlichung nach Peking geht. Der Regisseur Alan, mein Gastgeber und Chef, klopft mir auf die Schulter und sagt, ich solle daraus lernen, immer alles selbst noch einmal zu überprüfen.
Meinen Samstag verbringe ich in SoHo – einem Stadtviertel in Hongkong, das bekannt ist für seine Restaurants, Bars und sehr engen Straßen. Die Bürgersteige sind so schmal, dass ich gefühlt alle 20 Sekunden kurz auf die Straße ausweiche, um nicht mit mir entgegenkommenden Menschen zu kollidieren. Ich will mir einen Überblick verschaffen und mache mich auf die Suche nach den „Central-Mid-Levels Escalators“, um mit ihnen bis nach „oben“ zu fahren. Die überdachte Rolltreppe ist bekannt für seine Länge und sogar im Guinness-Buch der Rekorde eingetragen – immerhin ist sie 800 Meter lang und führt ganze 135 Meter hinauf. Ich hoffe also darauf, dass die Rolltreppen um diese Uhrzeit den Berg hinauffahren und nicht hinunter. Wie an jedem anderen Tag auch, ist das Wetter heute wieder sehr schwül. Jede körperliche Anstrengung bedeutet für mich die Gefahr, dass sich mein Aggregatzustand in flüssig ändern könnte.
Ein paar Fußminuten von SoHo entfernt, liegt ein kleiner Tempel (Man Mo Temple), den man besichtigen kann. Während ich eintrete, schlägt mir eine Mischung aus klimatisierter Luft und Räucherstäbchenduft entgegen. Ich laufe eine kleine Runde durch den Tempel und betrachte die großen Statuen der verschieden Götter, die von kleinen Rauchschwaden von den Räucherstäbchen sind, die vor ihnen in kleinen Töpfen stecken. Ich blicke nach oben und sehe etliche rote Zettel an brennenden Rauchspiralen von der Decke hängen. Auf Ihnen stehen Wünsche, Hoffnungen etc., die verbrannt und so an die Götter geschickt werden. Plötzlich merke ich, dass ich allein bin. Alle Besucher sind weg und die Türen geschlossen. Verdutzt schaue ich mich um, meine Augen streifen die eines Mitarbeiters, der auf eine Tür mit der Aufschrift „No Entry“ deutet. Nervös gucke ich in Richtung der Tür, durch die ich hereingekommen bin. Doch die ist zu und zusätzlich gesichert durch einen großen hölzenen Balken. Nach einem langen Moment des Zögerns, entschließe ich mich, durch die verbotene Tür zu gehen. Niemand ruft mir nach und langsam festigt sich mein Schritt in Richtung Alternativausgang. Wenig später atme ich erleichtert die schwüle Hongkonger Luft ein.
Es ist Montag 9 Uhr. Die Produktionsassistentin Rachel und ich sind auf dem Weg zum Hongkonger Flughafen. Wir nehmen einen früheren Flieger nach Peking als meine Tante Rosanna und Alan. Für eine Stunde Fahrt mit dem Taxi zahlen wir 40 Euro. Die Taxipreise in Hongkong sind wirklich unschlagbar! Während der Fahrt tue ich noch etwas für meine Sprachkenntnisse in Kantonesisch. Rachel bringt mir Schimpfwörter bei. Endlich kann ich meinen Wortschatz um Wörter erweitern, die meine Mutter mir nie beigebracht hat!
Text: Gai Yian Kaya Neutzer
Online gestellt: Matthias Zimmermann
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