Gestern Abend erfahren wir, dass zwei Hirten mit ihrer Schaf- und Ziegenherde, circa 200 Tiere, aus dem Winterquartier in der Ebene nach San Antonio gekommen sind. Sie waren etwa zehn Tage über Landstraßen hinaufgezogen. Wir laufen zunächst nach Pianello und begegnen auf dem Weg bereits den Ziegen von Nadir. Er hat sich erst im Alter von 30 Jahren dem Hirtentum verschrieben. Seitdem bewohnt er eines der noch nicht verfallenen Häuser von Pianello. Der Wohnraum liegt direkt über dem Ziegenstall. Seine Hündin, Nuvola, begrüßt uns freudig und jagt die vier neu erworbenen, aus Frankreich stammenden Ziegen umher, da sie diese noch nicht als Teil der Herde akzeptiert.
Wir verabreden uns für den Montag zum Ziegenmelken und Käse machen und gehen weiter nach San Antonio. In einer Werbebroschüre würde man das Dorf mit seinem rauschenden Wasserfall und den grasenden Eseln als pittoresk bezeichnen. Dort gab es einst sogar eine Schule allein für die Kinder dieses Seitentals. Bei unserer Ankunft finden wir jedoch ein nahezu verlassenes Dorf vor. In dem Gebäude der damaligen Schule lebt heute Frederica, die tagsüber in der Nudelfabrik in Varallo arbeitet und circa 40 Ziegen und zwei Esel hat. Herzlich lädt sie uns in ihren spartanischen Wohnraum zum Kaffee ein, der ihr zum Wohnen, Schlafen und Kochen dient. Diesen teilt sie sich außerdem mit ihren drei Hunden. Sie erzählt uns, dass ein Wolf letztes Jahr zwei ihrer Schafe gerissen hat und zeigt uns Fotos davon. Das macht uns deutlich, dass ein Leben mit und in der Natur nichts mit unseren idyllischen Vorstellungen zu tun hat. Als wir sie fragen, ob sie lieber in der Stadt leben würde, erzählt sie uns indes, dass sie sich bewusst für ein Leben als Hirtin entschieden hat und ihren Job in der Stadt ausübt, um die Pacht für ihre Unterkunft zu zahlen.
Trotz beginnendem Regen machen wir uns auf den Weg in die höher gelegenen Dorfteile. Santa Anna hat noch zwei intakte Häuser, die nur am Wochenende bewohnt werden. Am Wegrand befindet sich ein Waschhaus, welches immer noch auf herkömmliche Art und Weise benutzt wird. Wir beobachten auch, wie Astgabeln, Holzstämme und Steine zur Herstellung von Wasserrinnen, Haken, Türgriffen und Ähnlichem genutzt werden. Auf dem vom Regen durchnässten, steilen und abschüssigen Weg wird uns bewusst, dass wir erst lernen müssen, uns im natürlichen Gelände zu bewegen. So suchen wir nach Stöckern, um uns mehr Stabilität zu verschaffen.
Gegenüber dem Waschhaus fällt uns etwas auf, das wie ein großer brauner Lappen aussieht, der über einer Astgabel hängt. Hierbei handelt es sich aber tatsächlich um einen Wildbienenschwarm. Bei den vielen Berichten über das vor allem durch den Einsatz von Pestiziden ausgelöste akute Bienensterben in Deutschland, freuen wir uns über diesen scheinbar noch intakten Naturraum, bewahren aber Sicherheitsabstand, um die Tiere nicht zu stören.
Am Nachmittag besichtigen wir das Museum Giovanni Battista Filippa in Sella. Filippa war Rimellese, bereiste als Heeresberichterstatter die Welt und brachte dabei gesammelte Gegenstände nach Rimella, um den Einwohnern das Leben in fernen Ländern näher zu bringen. In der unteren Etage sehen wir die traditionellen rimellesischen Trachten und die cula, die Wiege zur Taufe der Neugeborenen, die die Patentante noch heute mit dem Kind auf dem Kopf in die Kirche trägt sowie einen Tragestuhl für Kranke und Tote; auch er wird bisweilen noch benutzt, um Kranke oder Verunglückte von den Almen ins Dorf zu bringen.
Nach dem Museumsbesuch kommt die Sonne noch einmal heraus und wir entscheiden uns dazu, Rimella Superiore zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin kommen wir an der „Metteje Chilchu“ (Mädchenkirche) vorbei, einer Werkstatt zum Zusammenbau von Präzisionsgeräten, die der Walser Walter in den Sechziger Jahren erbaut hat, um Arbeitsplätze für die Rimellesinnen und Rimelleser zu schaffen und ihre Abwanderung in die Stadt zu verhindern. Während Filippa in seiner Zeit also versuchte, den Rimellesen einen Eindruck von der Welt außerhalb des Tals zu verschaffen, ergriff Walter eine Maßnahme, um den Anwohnern durch nicht-landwirtschaftliche Verdienstmöglichkeiten den Verbleib vor Ort zu ermöglichen.
Text: Marie-Kathrin Elbel
Online gestellt: Alina Günky
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