Lisa geht in die dritte Klasse, ihre Lieblingsfächer sind Mathe und Sport. Im Deutschunterricht hingegen tut sie sich etwas schwer, vor allem das laute Lesen vor der Klasse bereitet ihr Probleme. Oft stockt sie, verhaspelt sich bei längeren Wörtern oder bricht ab. In der Freizeit nimmt sie lieber einen Ball als ein Buch in die Hand. Aber das kann sich noch ändern, denn sie fängt ja gerade erst an zu lesen. Für Kinder wie Lisa, die beim Lesenlernen nicht ganz so gut vorankommen, hat der Grundschul- pädagoge Guido Nottbusch mit seinem Team die App „Voculus“ entwickelt. Dahinter verbirgt sich ein Audio-ebook-Reader, der auf die Hundertstelsekunde genau mit einem Hörbuch zum jeweiligen Text synchronisiert ist, um beim Mitlesen Markierungen anzuzeigen. Von Vorteil ist, dass sich dabei die Lesegeschwindigkeit individuell einstellen lässt.
Die Hörbücher dafür werden von den Forschenden selbst mit den Lesetexten synchronisiert. Eine Software unterstützt sie dabei. Und trotzdem braucht das einen langen Atem: Eine Minute im Hörbuch entspricht 15 bis 20 Minuten Arbeit mit der Phonetik-Software. Ein weiteres Problem ist, die richtige Buchauswahl zu treffen.
Die Methode „reading while listening“ kommt ursprünglich aus den USA. Die Leseflüssigkeit bei der Entwicklung der Lesekompetenz mitzudenken, ist aber im deutschsprachigen Raum erst seit ca. 15 Jahren ein Thema. Guido Nottbusch nennt eine deutsche Studie des Germanisten Steffen Gailberger aus dem Jahr 2013, die sich mit der Methode „Lesen durch Hören“ befasste: In der ersten Version des „Lesens mit Hörbuch“ wurden Lautsprecher im Klassenzimmer aufgestellt und alle Kinder hörten und lasen gemeinsam – in derselben Geschwindigkeit. „Einige stiegen da aus, denn sie kamen nicht mit“, sagt der Grundschulpädagoge. So entstand die Idee, die Lesegeschwindigkeit individuell an jedes Kind anzupassen.
Mit Vorleser.net und Ohrka.de stehen zwei Quellen zu Verfügung, aus denen das Team etwa Märchen oder „Das Dschungelbuch“ beziehen könne. Die Hörbücher werden hier meist von Schauspielprofis wie Anke Engelke oder Stefan Kaminski eingelesen, von deren klarer Aussprache und Betonung die Kinder profitieren können.
Doch was unterscheidet das Lesen auf dem Tablet vom Buchlesen? „Es gibt zarte Hinweise, dass es auf dem Bildschirm flüchtiger ist als auf Papier“, sagt Nottbusch. Diese Beobachtung sei aber noch nicht mit soliden Daten untersetzt. „Der zentrale Vorteil der App ist, dass sie Kindern mit Leseproblemen von Anfang an hilft, weil das Lesen mit Hörunterstützung viel einfacher ist“, betont der Forscher.
Wie Voculus bei den Mädchen und Jungen ankommt und wirkt, untersuchen die Forschenden derzeit in einer Studie an 24 Klassen aus neun Schulen – in Potsdam, Jüterbog, Teltow und anderen Orten in Brandenburg. Fünf Wochen lang testen knapp 600 Schülerinnen und Schüler die App. In sogenannten freien Lesezeiten nutzen sie Voculus auf einem iOS oder Android-Tablet, während eine Kontrollgruppe in der Parallelklasse zwar auch in der App aber ohne Hörunterstützung liest. In den Experimenten erwartet das Forschungsteam hauptsächlich bei schwächer lesenden Kindern positive Effekte. Sie werden dann am Ende auch befragt, ob sie nun mehr Lust haben, ein Buch zu lesen. Denn letztlich soll sich die App positiv auf ihre Selbstwirksamkeit und ihre Lesemotivation auswirken. Besonders für diejenigen, die in ihren Familien nur wenig Unterstützung bekommen, sei es enorm wichtig, gleichwertige Lerngelegenheiten.
Das öffentliche Interesse an der App ist inzwischen breit und vielfältig. Das merkten die Potsdamer, als sie Voculus auf der Leipziger Buch- messe präsentierten. „Eltern mit Kindern kamen vorbei, Fachleute für Lese-Rechtschreibschwäche und natürlich Lehrerinnen und Lehrer. Einige steuerten sogar tolle Ideen zur App bei“, berichtet Guido Nottbusch und lobt die gute Betreuung durch den Messeservice von Potsdam Transfer. „Wir haben uns sehr gut vernetzt. Ganz wichtig für uns waren und sind die Hörbuchverlage, mit denen wir hier Kontakte knüpfen und Gespräche führen konnten.“
Potsdam Transfer hatte das Voculus-Projekt von Anfang an unterstützt: 2021 erhielt Guido Nottbusch mit dem FöWiTec-Preis der Universität eine Förderung für den Wissens- und Technologietransfer. Auch die damit verbundene Gründerberatung war hilfreich, denn langfristig soll es für die App Voculus ein eigenes Unternehmen geben. Bis dahin jedoch müssen noch einige Meilensteine erreicht werden: Die App soll zunächst für alle brandenburgischen Schulen freigeschaltet und anschließend deutschlandweit kostenlos zugänglich gemacht werden. Bisher läuft die Anmeldung der Kinder noch über die Lehrkräfte. Auch das soll sich ändern: Nottbusch möchte, dass die App auf lange Sicht für die private Nutzung geöffnet wird und so noch mehr leseschwache Kinder fördern kann. Auch Kinder, deren Lieblingsfach nicht unbedingt Deutsch ist, könnten dann vielleicht ab und zu den Ball gegen Tablet und Kopfhörer tauschen und sich lesend und hörend in eine Geschichte versenken.
Dieser Artikel ist erschienen im Universitätsmagazin Portal Transfer 2024.