Nicht auszudenken, wie die Corona-Pandemie verlaufen wäre, hätten sich Dr. Henri Knobloch und Dr. Tobias Loka nicht erst 2020 am Potsdamer Hasso- Plattner-Institut (HPI) kennen gelernt, sondern schon 2018. Wenn sie ihr Patent nicht im November 2023 ausgerollt hätten – sondern schon im Herbst 2019. Und wenn das in den Krankenhäusern gleich zum Einsatz gekommen wäre! Denn die jüngst international zum Patent angemeldete „Metagenomische Diagnostik in Echtzeit“ der beiden Gründer kann binnen Stunden einen Atemwegs-Krankheitserreger bestimmen.
„Man muss nicht mehr, wie Robert Koch um 1880, Kulturen wachsen lassen, um herauszufinden, welcher Erreger am Werk ist“, sagt Knobloch. „Unser Ziel war es, endlich eine zeitgemäße, smarte Lösung zu finden.“ Jahrhundertelang stand für die Behandlung die Art des jeweiligen Krankheitserregers buchstäblich in den Sternen – darauf spielt der Firmenname „Seqstant LiveGene“ an. Ausgesprochen wird er wie das nautische Meßgerät „Sextant“; das eingeschobene „q“ verweist auf die Sequenzierung, die Grundlage des diagnostischen Ansatzes. Kostbare Lebenszeit soll ihr Einsatz den Patienten erhalten: Therapien könnten schneller und vor allem gezielter angesetzt werden, es ließen sich Schmerzen lindern, Todesfälle vermeiden, vielleicht sogar Pandemien eindämmen. Und das Gesundheitssystem könnte eine Menge Geld sparen – dank passgenauem Ressourceneinsatz.
In den nüchternen Räumen eines großzügigen Neubaus in der Teltower Rheinstraße ist für solche Visionen erst einmal viel Platz. Und natürlich auch für die fünf Teammitglieder des Unternehmens Seqstant mit ihrem Produkt LiveGene. Seit Monaten warten Umzugskartons im Büro des Mitgründers und Geschäftsführers Knobloch darauf, ausgepackt zu werden. „Wir haben Wichtigeres zu tun“, winkt er ab. Etwa der Rollout des Patents, die Zulassung des Produktes oder die Finanzierung, so der Unternehmer. Erst durch die Kombination mit einem eigens entwickelten biochemischen Barcode für das Probenmaterial wird eine schützenswerte Erfindung daraus – die sich in Rekordzeit vom wissenschaftlichen Projekt zum Produkt entwickelte, betont Dr. Ute Rzeha von Potsdam Transfer, der Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft an der Uni- versität Potsdam. Sie hat das Unternehmen von dieser Stelle aus unterstützt, wo sie konnte, um die gesetzten Meilensteine zu erreichen.
Für die technologische Umsetzung ist vor allem der Bioinformatiker und Mitgründer Dr. Tobias Loka zuständig. Ende 2015 folgte er seinem Doktorvater, Professor Bernhard Renard, von Köln ans Robert-Koch-Institut (RKI) nach Berlin. Ihr Ziel: die Echtzeitanalyse von Krankheitserregern. Einen Prototyp gab es schon am RKI. Als Renard 2020 den Ruf ans HPI annahm, schloss sich Loka ihm an. Da waren seine eigenen Forschungen so weit gediehen, dass an eine Umsetzung in die Praxis zu denken war. Am HPI traf er Henri Knobloch. Der hatte in Großbritannien Biosensors & Diagnostics studiert, in einem Großunternehmen Labor- und Managementerfahrung gesammelt und Lust darauf, das Abenteuer Ausgründung in Angriff zu nehmen. Gemeinsam wandten sich Knobloch und Loka an Potsdam Transfer, um das EXIST-Gründungsstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums zu beantragen. Und zwar die komplizierte, zweiteilige Variante, die 18 Monate Forschung bis zur Marktreife und dann noch einmal bis zu 18 Monate für den Gründungsprozess gestattet. „Für das Stipendium und die Unter- stützung von Potsdam Transfer sind wir extrem dankbar“, sagt Knobloch. Denn die Hürden sind hoch. Ute Rzeha zählt auf: die Verbesserung der Datenauswertung, die Bereitstellung von Ergebnisberichten, das Aufsetzen der Cloudinfrastruktur, die Vorbereitung der Zertifizierung – „die EU-Richtlinien wurden gerade erst verschärft“, ergänzt Knobloch. Dann die Entwicklung einer Marketingstrategie, die Validierung der Methode bei Kooperationspartnern, der Aufbau des Firmenportals, die Anschlussfinanzierungen. Die Arbeit hätte für mehr Leute gereicht.
Zunächst wollten die Gründer die Erkennung von Atemwegs- und Wundinfektionserregern angehen, EXIST deckte aber nur die erste Finanzierungsebene ab: die Patentanmeldung und die Studien für ein Verfahren der Medizintechnik. Bislang hat Seqstant an einer Uni-Klinik die Proben von 400 Patienten analysiert, musste dafür das Labormaterial stellen, die Personalkosten übernehmen und – natürlich – die eigene Arbeitsleistung. Kosten: „Zwischen 80.000 und 100.000 Euro für eine kleine Studie“, sagt Knobloch. Mittlerweile wurde erfolgreich ein Seed Investment abgeschlossen, wodurch eine weitere starke Unterstützung für Seqstant gesichert wurde.
Sie alle glauben an den neuen Ansatz: Die Technik dafür baut auf die bereits vorhandene Infrastruktur der Labore auf. Die Proben müssen, wie bisher, vor der Sequenzierung so aufbereitet werden, dass das genomische Material der Keime extrahiert werden kann. Ihnen wird auf molekularer Ebene der molekulare Barcode zugesetzt, der Teil des Patents ist. Dann beginnt die Sequenzierung. Beim Auslesen des Materials kann man im Labor „in Echtzeit“ zusehen. Wie bei einem Puzzle lässt sich der Erreger identifizieren. „Die Rechenleistung dafür befindet sich in der Cloud“, erklärt Loka, der den nötigen Algorithmus mit seiner Kollegin Dr. Milena Kraus geschrieben hat. Die promovierte Biotechnologin ist spezialisiert auf den Transfer bioinformatischer Metho- dik in die klinische Nutzung. Die Rechenzentren der Server stehen in Deutschland, sodass die Gesundheitsdaten absolut sicher sind. Ohnehin geben die Labore an Seqstant keine Patientendaten weiter, sondern nur eine Nummer. Das Qualitätsmanagement im Unternehmen verantworten der Biotechnologe Georg Wrettos und der Wirtschaftsingenieur German Molina Cardenas; hochkomplexe Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind ihr Metier. Und wenn alles gut geht, dann werden die Unternehmer aus Teltow ab dem Frühjahr 2024 helfen können, den Atemwegserkrankungen schneller den Garaus zu machen.
Dieser Artikel ist erschienen im Universitätsmagazin Portal Transfer 2024.