Prof. Dr. Ingo Juchler
Die Forschungsschwerpunkte von Ingo Juchler liegen in den Feldern:
Demokratie und politische Urteilsfähigkeit
Bereits in der athenischen Demokratie entzündete sich an der politischen Fähigkeit zur angemessenen Urteilsbildung der Bürger, die bei den Volksabstimmungen zum Tragen kommen sollte, die Kritik der Gegner dieser ersten demokratischen Staatsform. Prinzipiell waren in der athenischen Demokratie alle Männer, ob arm oder reich, politisch vollberechtigte Staatsbürger. Es galt das Prinzip der Isonomie, der politischen Gleichheit aller frei geborenen Männer – ein Prinzip, das etwa in Preußen erst nach der Novemberrevolution 1918 umgesetzt werden konnte. Ausgeschlossen von jedweder Beteiligung an Entscheidungen des politischen Gemeinwesens blieben in Athen die Frauen, Sklaven und Metöken. Doch sollte wirklich jeder Stimme das gleiche Gewicht zukommen, egal, ob sie von einem gebildeten oder einem ungebildeten Bürger stammt? Die Frage nach der politischen Urteilsfähigkeit der Bürger bildete die Achillesferse der neuen Staatsform, an der die Kritiker der Demokratie ansetzten.
In unserer heutigen Demokratie stellt die politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger eine der essentiellen Voraussetzungen für den gedeihlichen Fortbestand dieser Staatsform dar. Deshalb avancierte Mündigkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik als wesentliche personale Anforderung der Bürgerinnen und Bürger für die Entwicklung der in statu nascendi befindlichen Demokratie zum erklärten Erziehungsziel der neuen Schule. Aufgrund des exklusiven Zusammenhangs zwischen dem pädagogischen Ziel der Mündigkeit und dem politischen System der Demokratie wurde die Befähigung von Schülerinnen und Schülern zur politischen Urteilsbildung zum übergeordneten Ziel der schulischen politischen Bildung. Dieses didaktische Anliegen nimmt entsprechend heute einen prominenten Platz in den Bildungs- und Rahmenlehrplänen der verschiedenen Bundesländer ein. Die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung weist epistemologisch eine lange Tradition innerhalb der Politikdidaktik auf. Diese Tradition wurzelt in der Epoche der Aufklärung. Kanonisch wurden hier Immanuel Kants Ausführungen über den Zusammenhang von Aufklärung und Mündigkeit.[1]
Doch wodurch sollten sich politische Urteile auszeichnen? Entscheidend für ein politisches Urteil sollte sein, dass es auf das politische Gemeinwesen gerichtet ist, welches sich in der Demokratie insbesondere durch das Vorhandensein einer Pluralität von Meinungen auszeichnet, die im Prozess der politischen Öffentlichkeit aufeinandertreffen und verhandelt werden. Zum innergesellschaftlichen Pluralismus divergierender politischer Interessen tritt heute im Zusammenhang von Migration zunehmend ein kultureller Pluralismus. Letztgenannter stellt weiterhin ein Merkmal dar, durch welches die vielfältigen Beziehungen zwischen den Staaten gekennzeichnet sind. Somit bildet der politische und kulturelle Pluralismus die Grundlage wie die Herausforderung an das politische Urteilen.
Wie kann nun ein politisches Urteil der Pluralität der in der politischen Öffentlichkeit aufeinandertreffenden Meinungen gerecht werden? Hier bietet sich ein Verfahren an, das Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft als „erweiterte Denkungsart“ bezeichnet hat: Die Bildung von Urteilskraft ist nach Kant verbunden mit einem vorgestellten Dialog des Individuums, was wir didaktisch mit dem Perspektivenwechsel vergleichen können – das Individuum macht sich die Perspektive des oder der anderen bewusst, konfrontiert sie mit dem eigenen Standpunkt und bezieht sie schließlich in das eigene Urteil ein.[2] Hannah Arendt charakterisierte das von Kant definierte Vermögen der Urteilskraft – „an der Stelle jedes andern denken“ – als ,,politische Fähigkeit par excellence.“[3] Für Arendt stellt in moralischer wie politischer Hinsicht die größte Gefahr für die Entwicklung eines Gemeinwesens die Indifferenz sowie die ihrer Ansicht nach »weit verbreitete Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern«, dar.[4] Die Warnungen von Hannah Arendt sind angesichts der heute weit verbreiteten politischen Indifferenz respektive Abstinenz und der gleichfalls viel verbreiteten Haltung, mit einer äußerst eingeschränkten Perspektive zu urteilen, von bezeichnender Aktualität. Die didaktische Aufgabe des Unterrichts, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass es nicht ein »wahres« oder »richtiges« politisches Urteilen gibt, die unterschiedlichen Urteile der Mitschüler und Mitschülerinnen stattdessen in ihrer Pluralität anzuerkennen sind, wird mithin durch die erweiterte Denkungsart unterstützt. Die Einbeziehung anderer politischer Haltungen im Sinne der erweiterten Denkungsart ist für die Bildung des eigenen politischen Urteils konstitutiv, wenn dieses über die Vertretung des bloßen Eigeninteresses hinausreichen soll.
Der Zusammenhang von Demokratie und politischer Urteilsfähigkeit wird in den Veranstaltungen des Lehrstuhls für Politische Bildung an der Universität Potsdam in vielfältiger Weise thematisiert.
[1] Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe, Bd. XI. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 9 1991, S. 53-61.
[2] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Bd. X. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 15 2000, S. 226-227.
[3] Hannah Arendt: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Herausgegeben von Ursula Ludz. München/Zürich 2003, S. 98.
[4] Zitiert nach Ronald Beiner: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Herausgegeben von Ronald Beiner. München 1985, S. 145.
Ausgewählte Publikationen
Ingo Juchler: Politische Urteilsbildung – Hannah Arendts Überlegungen als archimedischer Punkt für die Politikdidaktik, in: Tonio Oeftering/Waltraud Meints-Stender/Dirk Lange (Hrsg.): Hannah Arendt. Lektüren zur politischen Bildung. Wiesbaden 2020, S. 41-58.
-: Urteilskompetenz, in: Sabine Achour/Matthias Busch/Peter Massing/Christian Meyer-Heidemann (Hrsg.): Wörterbuch Politikunterricht. Frankfurt am Main 2020, S. 232-235.
-: Demokratieerziehung und politische Bildung – Chancen und Grenzen, in: Peter Gutjahr-Löser/Jürgen Ronthaler/Dieter Schulz (Hrsg.): 1918-2018: Demokratie und Bildung – Anspruch und Wirklichkeit. Leipzig 2019, S. 110-121.
-: Politische Bildung vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie, in: Rüdiger Fikentscher (Hrsg.): Lernkulturen in Europa. Halle 2014, S. 174-183.
-: Gleichheit als demokratisches Prinzip. Zum politikdidaktischen Bildungsverständnis, in: Benedikt Widmaier/Bernd Overwien (Hrsg.): Was heißt heute Kritische Politische Bildung?, Schwalbach/Ts. 2013, S. 126-135.
-: Politisches Urteilen, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, Jg. 3, 2012, H. 2, S. 10-27.
-: Die Zumutungen der Demokratie und Political Literacy, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hrsg.): Demokratiedidaktik: Impulse für die Politische Bildung. Wiesbaden 2010, S. 184-197.
-: Demokratie und politische Urteilskraft. Überlegungen zu einer normativen Grundlegung der Politikdidaktik. Schwalbach/Ts. 2005.
-: Politische Urteilsbildung - Kernkompetenz für den Politikunterricht, in: Georg Weißeno (Hrsg.): Politik besser verstehen. Neue Wege der politischen Bildung. Wiesbaden 2005, S. 62-75.
-: Die erweiterte Denkungsart. Voraussetzungen für eine mündige Bürgerschaft in Europa, in: Osteuropa, Jg. 55, 2005, H. 8, S. 27-38.
-: Rationalität, Vernunft und erweiterte Denkungsart. Zur normativen Bestimmung politischer Urteilskraft für die politische Bildung, in: Zeitschrift für Politik, 52/2005, H. 1, S. 97-121.
-: Worauf sollte die politische Bildung zielen: Demokratie-Lernen oder Politik-Lernen?, in: Politische Bildung, Jg. 38/2005, H. 1, S. 100-108.
-: Transnationale politische Urteilsbildung, in: Eberhard Jung (Hrsg.): Standards für die politische Bildung. Zwischen Weltwissen, Teilhabekompetenz und Lebenshilfe. Wiesbaden 2005, S. 94-109.
Narrationen in der politischen Bildung
Das Erzählen und damit Narrationen gibt es seit alters her. Sie machen ein Spezifikum des Menschseins aus. Ausgehend von der Literaturtheorie geriet das Narrative zu Beginn der 1970er Jahre im Kontext des narrative turn in das Blickfeld der Geistes- und Sozialwissenschaften. Belletristischer Literatur kommt unter didaktischen Gesichtspunkten in besonderer Weise das Verdienst zu, die Rezipientinnen und Rezipienten vermittels ihrer Vorstellungskraft in andere soziale und politische Welten eindringen zu lassen und durch diesen Perspektivenwechsel zur Reflexion über die eigene politische und ethische Position anzuregen.
Narrationen eignen vielfach Momente der Mehrdeutigkeit, Rätselhaftigkeit, Ambiguität und Kontingenz. Sie vermögen vermeintliche Gewissheiten zu erschüttern, liebgewonnene Klischees, Vorurteile und vertraute Wertvorstellungen anzuzweifeln sowie politische Überzeugungen in Frage zu stellen. Dadurch werden den Rezipienten neue Möglichkeiten des Seins eröffnet. Die fächerübergreifende Beschäftigung mit Narrationen in der politischen Bildung ermöglicht den Schülerinnen und Schülern die Erfahrung von lebensweltlicher Kontingenz und die Auseinandersetzung mit dieser im Kontext des Unterrichts. Auf diese Weise können sie die spezifischen Bedingungen derselben im Bereich des Politischen sowie deren Folgen für die Lebenswelt der Menschen besser einschätzen und verstehen lernen. Von den ästhetisch vermittelten Erfahrungen ausgehend können die Schülerinnen und Schüler mit Kontingenz im Bereich des Politischen konfrontiert werden. Durch Narrationen vermittelte Kontingenzerfahrungen können bei den Lernenden eine gerade für das Verständnis des Bereichs des Politischen erforderliche Bewusstheit, Bereitschaft und Offenheit für das Unerwartete, Mögliche und Unvorhersehbare geschaffen werden.
In diesem Kontext können die Schülerinnen und Schüler vermittels der fächerübergreifenden Auseinandersetzung mit Narrationen schließlich gegen die vereinfachenden Sichtweisen politischer Demagogen und die manichäische Weltsicht von politischen wie religiösen Extremisten gefeit und für die Offenheit pluralistischer Demokratien gewonnen werden. Narrationen vermitteln den Schülerinnen und Schülern Erfahrungen von Ambiguität, Kontingenz und einen Sinn für die Pluralität von Werten, Einstellungen und politischen Möglichkeiten. Sie können damit den einschränkenden bzw. repressiven Charakter jedweder Diktatur, verabsolutierende Ideologien und politischen respektive religiösen Ismus erkennen und ein positives Verständnis für die Vielfalt menschlicher Interessen, Werturteile und politischer Auffassungen entwickeln.
Am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Potsdam werden regelmäßig Seminare zur Thematik angeboten.
Ausgewählte Publikationen
Ingo Juchler: Mit narrativen Medien lernen: Biografie, Belletrisitik, Musik, Spielfilm, in: Wolfgang Sander/ Kerstin Pohl (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Frankfurt/M. 2022, S. 476–483.
-: Narrationen in der fächerübergreifenden politischen Bildung, in: Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/505903/narrationen-in-der-faecheruebergreifenden-politischen-bildung/ (10.03.2022).
-: Groteske und Satire im DDR-Roman als didaktische Momente in der politischen Bildung, in: Thomas Goll/ Werner Friedrichs (Hrsg.): Politik in der Kunst - Kunst in der Politik. Zum Potential ästhetischer Zugänge zur Politk. Wiesbaden 2021, S. 35-49.
-: Außerschulische Lernorte, Narrationen und Theater – Perspektiven der klassischen Vermittlungsarbeit zur Demokratiegeschichte, in: Lars Lüdicke (Hrsg.): Deutsche Demokratie Geschichte II. Eine Aufgabe der Vermittlungsarbeit. Berlin 2021, S. 45-55.
-: Political Narrations. Antigone, the Melian Dialogue, Michael Kohlhaas, the Grand Inquisitor and Ragtime. Heidelberg 2018.
-: Zur Thematisierung von Rassismus im Politikunterricht: E.L. Doctorows Ragtime, in: Ingo Juchler (Hrsg.): Politische Ideen und politische Bildung. Wiesbaden 2018, S. 81-99.
-: Narrationen in der politischen Bildung. Band 1: Sophokles, Thukydides, Kleist und Hein, Wiesbaden 2015.
Rezension I Rezension II Rezension III
-: Narrationen in der politischen Bildung, in: Ingo Juchler (Hrsg.): Hermeneutische Politikdidaktik. Perspektiven der politischen Ethik. Wiesbaden 2015, S. 93-106.
-: The Melian Dialogue, or Power and Justice as Themes in Political Education, in: Politics, Culture & Socialization, 2/2014, S. 170-186.
-: Mit narrativen Medien lernen: Biografie, Belletristik, Spielfilm, in: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Bonn 2014, S. 466-473.
-: Narrationen in der politischen Bildung, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, Jg. 4, 2013, H. 2, S. 36-54.
-: Klassische Lehrstücke in der politischen Bildung, in: Anja Besand (Hrsg.): Lehrer- und Schülerforschung in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2013, S.175-192.
-: Der narrative Ansatz, in: Carl Deichmann/Christian K. Tischner (Hrsg.): Handbuch Dimensionen und Ansätze in der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2013, S. 273-286.
-: Der narrative Ansatz in der politischen Bildung. Berlin 2012.
-: The Narrative Approach: Dostoevsky's Grand Inquisitor as Classical Text for Civic Education, in: Politics, Culture + Socialization, 2/2011, S. 155-169.
-: Politikdidaktische Lehrstücke, in: Andreas Eis/Torsten Oppelland/Christian K. Tischner (Hrsg.): Politik kulturell verstehen. Politische Kulturforschung in der Politikdidaktik. Festschrift für Carl Deichmann zum 65.Geburtstag. Schwalbach/Ts. 2011, S. 175-190.
-: Die Thermopylen – eine alte und neue Grenzlinie im Kampf der Kulturen? In: Ralf Elm/Ingo Juchler/Jürgen Lackmann/Siegbert Peetz (Hrsg.): Grenzlinien. Interkulturalität und Globalisierung: Fragen an die Sozial- und Geisteswissenschaften. Schwalbach/Ts. 2010, S. 81-104.
Außerschulische politische Lernorte
Die Auseinandersetzung mit Gegenständen des Politischen an Orten außerhalb der Schule gehört heute zu den unbestrittenen didaktischen Formaten des Politikunterrichts. Außerschulische politische Lernorte verfügen über didaktisches Potential, das die schulisch initiierten Lernprozesse zu verstärken vermag und bei den Schülerinnen und Schülern so motivierend wie horizonterweiternd wirken kann. Hier erlangen sie kognitive und sinnliche Erfahrungen, die am Lernort Schule so nicht vermittelt werden können. Die Orte, an denen außerhalb der Schule Erfahrungen mit politischen Gegenständen gewonnen werden können, sind äußerst vielfältig. Sie reichen von staatlichen Institutionen wie Gerichten, Rathäusern, Landesparlamenten, Bundestag, Bundesrat und Schloss Bellevue über religiöse Einrichtungen wie Synagogen, Kirchen und Moscheen bis hin zu Denkmälern, Museen, Gedenkstätten, Erinnerungsorten und Theatern. Hinzu kommen Orte, wo Lernerfahrungen zu spezifischen Themen wie Kolonialismus, Flucht, Asyl, Migration, Konsum und Nachhaltigkeit gemacht werden können. Dafür bieten sich insbesondere themenzentrierte Stadtrundgänge an.
Das Lernen vor Ort außerhalb der Schule stellt keinen Ersatz für den regulären Unterricht dar, sondern erweitert diesen, was sowohl fachlich sinnvoll ist als auch zur Motivation der Schülerinnen und Schüler beitragen kann. Außerschulische politische Lernorte weisen eine lange pädagogische Tradition auf. Sie wurzeln in der Theorie und Praxis der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, für deren Ausprägung mit dezidiert gesellschaftlichem Bezug die Entwicklung der Berliner Schulreform in der Zeit der Weimarer Republik gelten kann. Inzwischen ist der Besuch außerschulischer politischer Lernorte in den Lehr- und Bildungsplänen der Bundesländer Schulstufen und Schularten übergreifend verankert. Er muss im Unterricht vorbereitet und die vor Ort erlangten Erkenntnisse und Erfahrungen sollten wiederum unterrichtlich reflektiert werden. Für die Lehrperson ist mit dem Besuch eines außerschulischen Lernorts ein höherer organisatorischer Aufwand verbunden als im Regelunterricht – ein Aufwand, der im Hinblick auf die vor Ort zu gewinnenden vielfältigen Erkenntnisse und sinnlichen Eindrücke der Lernenden sicherlich der Mühe wert ist. Zu den didaktischen Momenten, die das Potential des Lernens vor Ort in Erweiterung schulischer Lernprozesse in besonderer Weise auszeichnet zählen insbesondere Authentizität und sinnliche Erfahrungen, multiperspektivisches Lernen und ästhetisches Erleben sowie fächerübergreifendes und selbstreguliertes Lernen.
Am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Potsdam werden regelmäßig Seminare zur Thematik angeboten, in deren Rahmen auch außerschulische politische Lernorte besucht werden.
Ausgewählte Publikationen
Ingo Juchler: Vor Ort lernen: Außerschulische politische Lernorte, in: Wolfgang Sander/ Kerstin Pohl (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Frankfurt/M. 2022, S. 515–523.
-: Außerschulische Lernorte, Narrationen und Theater – Perspektiven der klassischen Vermittlungsarbeit zur Demokratiegeschichte, in: Lars Lüdicke (Hrsg.): Deutsche Demokratie Geschichte II. Eine Aufgabe der Vermittlungsarbeit. Berlin 2021, S. 45-55.
-: Demokratische Aufbrüche in Berlin: Lernen an historischen Erinnerungsorten, in: Martin Jungwirth/Nina Harsch/Yvonne Korflür/Martin Stein (Hrsg.): Forschen. Lernen. Lehren an öffentlichen Orten – The Wider View. Münster 2020, S. 150-160.
-: 1989 in Deutschland. Schauplätze der Friedlichen Revolution. Berlin 2019.
-: 1989 in Berlin. Schauplätze der Friedlichen Revolution. Berlin 2019.
-: Die deutsche Revolution 1918/19 in Berlin, in: Berliner Geschichte, Ausgabe 15, Oktober 2018, S. 14-23.
-: Von Moskau nach Charlottengrad - Russen in Berlin, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Was tun? Berlin - Russland seit der Oktoberrevolution: Aspekte einer komplizierten Beziehung, Berlin 2018, S. 8-29.
-: 1918/19 in Berlin. Schauplätze der Revolution. Berlin 2018. Rezension 1 Rezension 2
-: 1968 in Berlin - Schauplätze der Revolte. Ein historischer Stadtführer. Berlin 2017. Rezension I Rezension II Kurzbeschreibung
Kulturradio-Moderator Andreas Knaesche im Gespräch mit Ingo Juchler zu "1968 in Berlin" am 23.10.2017
-: Außerschulische politische Lernorte - Amerikaner in Berlin, in: Carl Deichmann/Marc Partetzke (Hrsg.): Schulische und außerschulische politische Bildung. Qualitative Studien und Unterrichtsbeispiele hermeneutischer Politikdidaktik, Wiesbaden 2018, S. 137-158.
- (Hrsg.): Mildred Harnack und die Rote Kapelle in Berlin, Potsdam 2017 (2., verbesserte Auflage 2021).
-: 1968 in Berlin. Schauplätze der Revolte. Berlin 2017.
-: Americans in Berlin. The Historical Guidebook. Berlin 2017.
-: Historisch-politische Bildung an außerschulischen Lernorten, in: Sabine Achour/Thomas Gill (Hrsg.): Was politische Bildung alles sein kann. Einführung in die politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2017, S. 173-184.
-: Amerikaner in Berlin. Der historische Reiseführer. Berlin 2016.
-: Außerschulische politische Lernorte in interdisziplinären Projekten am Beispiel des Bundesfinanzministeriums, in: Ingo Juchler (Hrsg.): Projekte in der politischen Bildung. Bonn 2013, S. 217-231.
Politische Bildung und Theater
Das Theater vereint die demokratieförderlichen Momente des Besuchs eines außerschulischen Lernorts und der Auseinandersetzung mit Narrationen – hier, mit einem Drama. Schon die Entstehungsgeschichte des Theaters in der Antike verweist auf den Zusammenhang von Theaterbesuch und politischer Urteilsbildung. An der politischen Fähigkeit zur angemessenen Urteilsbildung der Bürger, die bei den Volksabstimmungen zum Tragen kommen sollte, entzündete sich bereits damals die Kritik der Gegner dieser ersten Demokratie. Zur Erreichung des didaktischen Ziels der politischen Urteilsbildung eignet sich der Besuch des Theaters in besonderer Weise. Das Theater ist der Ort, an dem die unterschiedlichsten Perspektiven und Handlungsintentionen mit ihren jeweiligen Auffassungen und Interessen aufeinandertreffen, sich aneinander reiben, kollidieren, zusammenfinden etc. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Beschäftigung mit Theaterstücken das Üben der Wahrnehmung von Perspektiven anderer. Die im Theater vermittelte Pluralität von Handlungen gewährt den Zuschauerinnen und Zuschauern eine multiperspektivische Vorstellung unterschiedlichster Meinungen und Lebensvollzüge, die empathisch nachvollzogen, nachempfunden und durchdacht werden können. Die auf diese Weise ermöglichte Übung des Perspektivenwechsels stellt eine allgemein didaktische Aufgabe dar, welche grundsätzlich in jedem Unterrichtsfach durchgeführt werden kann und sollte. Für die politische Bildung stellt die Auseinandersetzung mit verschiedenen Auffassungen über politisch-soziale Gegenstände jedoch eine besondere Herausforderung dar: Das Politische in der Demokratie findet im Modus der Pluralität statt, und die demokratische Regierungsform erfordert die Fähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zur angemessenen Auseinandersetzung mit der vorfindlichen Vielzahl an Meinungen und Interessen. Der Theaterbesuch und die Beschäftigung mit Theaterstücken ermöglicht das Einüben der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur produktiven Auseinandersetzung mit den politischen Auffassungen und Interessen anderer. Durch diese Auseinandersetzung mit den pluralen Perspektiven der Handelnden auf der Bühne des Theaters wird die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung beim Publikum nachhaltig gefördert.
Am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Potsdam werden regelmäßig Seminare zur Thematik angeboten, in deren Rahmen auch Theaterstücke besucht werden.
Ausgewählte Publikationen
Ingo Juchler: Aporien des Rechts: Ferdinand von Schirachs Theaterstücke in der politischen Bildung, in: Zeitschrift für Menschenrechte. Die Aktualität bürgerlicher und politischer Menschenrechte, Jahrgang 15, 2021/2, S. 196-206.
-: Ein Volkskanzler. Didaktische Hinweise und Materialien zum Theaterstück von Maximilian Steinbeis. Bonn 2021. Ein Volkskanzler
-: Außerschulische Lernorte, Narrationen und Theater – Perspektiven der klassischen Vermittlungsarbeit zur Demokratiegeschichte, in: Lars Lüdicke (Hrsg.): Deutsche Demokratie Geschichte II. Eine Aufgabe der Vermittlungsarbeit. Berlin 2021, S. 45-55.-: Theater und Politische Bildung, in: Markus Gloe/Tonio Oeftering (Hrsg.): Politische Bildung meets Kulturelle Bildung. Baden-Baden 2020, S. 59-73.
-: Henrik Ibsens Volksfeind - Politisches Theater in postfaktischen Zeiten, in: Ingo Juchler (Hrsg.): Politik und Sprache. Handlungsfelder politischer Bildung. Wiesbaden 2020, S. 123-137.
-: „Aber gehn Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!“ Das Theater als außerschulischer politischer Lernort, in: Politisches Lernen, 1-2/2020, S. 32-35.
-: Von Wahrheit, Lüge und politischer Mündigkeit - Henrik Ibsens Volksfeind. In: Der Deutschunterricht, H. 5, 2019, S. 12-21.
-: Das Politische im Theater, in: Fokus Schultheater. Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung, 18/2019, S. 8-17.
- / Alexandra Lechner-Amante (Hrsg.): Politische Bildung im Theater, Wiesbaden 2016.
-: Politische Bildung im Dokumentartheater, in: Carl Deichmann/Michael May (Hrsg.): Politikunterricht verstehen und gestalten. Wiesbaden 2016, S. 75-90.
-: Politische Bildung im Theater, in: Ingo Juchler/ Alexandra Lechner-Amante (Hrsg.): Politische Bildung im Theater. Wiesbaden 2016, S. 7-15.
-: Die Finanzkrise im Dokumentartheater: Andreas Veiels Das Himbeerreich, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Themen und Materialien. Ökonomie und Gesellschaft. Bonn 2014, S. 59-98.
Mensch-Tier-Beziehung in der politischen Bildung
Die Praxis der agrarindustriellen Massentierhaltung verweist auf die grundsätzliche Entfremdung des Menschen von seiner eigenen tierlichen Herkunft. Dabei begleiten Tiere den Menschen seit undenklichen Zeiten und prägen unsere Kultur- und Lebensräume – als Tiergötter, Nahrungsmittel, Arbeitstiere, Rohstofflieferanten und Heimtiere. Der Mensch hat sich entfremdet von seinem eigenen Herkommen wie vom Kreislauf der Natur. Die unbedingte Höherstellung des Menschen zeitigt bis heute fatale Folgen für alle anderen Tiere: Der anthropozentrische Blick auf die Fauna ermöglicht eine moralische Differenzierung zwischen Mensch und Tier, die es unserer Spezies erlaubt, Tiere in jedweder Form zu unterwerfen, zu zähmen, zu fesseln, zu opfern, zu essen, zu foltern, zu quälen, auszustellen, lebendig und unbetäubt für Versuche zu nutzen – die Liste ließe sich fortsetzen. Doch wird diese vorsätzliche Blindheit gegenüber dem Umgang mit Tieren allgemein wie deren Leiden in maschinellen Zuchtbetrieben, Schlachthöfen und Versuchslaboren im Besonderen inzwischen vielfach hinterfragt – von sozialen Bewegungen, Tierschutz- und Tierrechtsgruppen, von Verbraucherinnen und Verbrauchern und nicht zuletzt von der Wissenschaft. Hier fand seit Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Disziplinen eine verstärkte Reflektion und Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung statt, die als animal turn bezeichnet wird. So beschäftigen sich auch die vornehmlichen Bezugswissenschaften der politischen Bildung – Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft – intensiv mit Tieren als individuelle Handlungssubjekte. Damit geht auch die Frage von Tierrechten einher, was nicht zuletzt für die politische Bildung von Relevanz ist.
Wie ist es nun um die Präsenz von Tieren in der politischen Bildung bestellt? Tiere kommen im Politikunterricht nicht vor. Zumindest finden sie in den maßgeblichen Lehrplänen keine Erwähnung. In der Grundschule immerhin kommen Kinder noch mit Tieren in Kontakt. So lernen beispielsweise Grundschülerinnen und Grundschüler die Differenzierung von Haustieren in Nutztiere und Heimtiere. Während sich Grundschülerinnen und -schüler im Rahmen des Heimat- und Sachunterrichts aber immerhin mit Tieren in ihren unterschiedlichen Lebensräumen beschäftigen, sind sie in der Sekundarstufe I und in der gymnasialen Oberstufe curricular in der politischen Bildung ein blinder Fleck. Setzt man sich allerdings mit den inhaltlichen Vorgaben des Unterrichtsfaches auseinander, so wird schnell deutlich, dass Tiere als Lerngegenstand durchaus im Lehrplan enthalten sind, wenn auch nicht explizit. So sind etwa die Fachkonzepte für die Sekundarstufe I des Rahmenlehrplans Politische Bildung für Berlin und Brandenburg – Verfassungsprinzipien, Staat, Demokratie, Repräsentation, europäische Integration, internationale Beziehungen, Recht, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Interessengruppen, Markt, Nachhaltigkeit, Legitimation, Macht und Interessen – durchaus auch mit der Mensch-Tier-Beziehung verbunden.[1]
Am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Potsdam werden regelmäßig Seminare zur Thematik angeboten. Darüber hinaus setzt sich seit Juli 2020 die Studiengruppe Perspektiven der Mensch-Tier-Beziehung in der politischen Bildung mit dem Thema auseinander.
[1] LISUM Berlin-Brandenburg 2017: Rahmenlehrplan – Teil C. Politische Bildung, Jahrgangsstufen 7-10, S. 7; bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene/Rahmenlehrplanprojekt/amtliche_Fassung/Teil_C_Politische_Bildung_2015_11_16_web.pdf (Zugriff am 17.01.2021).
Ausgewählte Publikationen
Ingo Juchler: „…die im Dunkeln sieht man nicht“ – Zur Mensch-Tier-Beziehung in der politischen Bildung, in: Steve Kenner/Tonio Oeftering (Hrsg.): Standortbestimmung Politische Bildung. Gesellschaftspolitische Herausforderungen, Zivilgesellschaft und das vermeintliche Neutralitätsgebot. Frankfurt am Main 2021.
-: Von Menschen und anderen Tieren im Berliner Tiergarten, in: Werner Friedrichs (Hrsg.): Atopien im Politischen. Politische Bildung nach dem Ende der Zukunft. Bielefeld 2021 (im Erscheinen).
-: Zur Mensch-Tier-Beziehung in der politischen Bildung, in: Bundesausschuss politische Bildung (Hrsg.), https://profession-politischebildung.de/grundlagen/mensch-tier/(03.11.2020)