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„Freie Preisgestaltung und Wettbewerbsfreiheit gehören zusammen“ – Prof. Dr. Tobias Lettl an der Universität Potsdam erklärt, was das Kartellrecht leisten kann

Kartellrechtsexperte Prof. Dr. Tobias Lettl
Foto : Sandra Scholz
Kartellrechtsexperte Prof. Dr. Tobias Lettl

Ob Gas, Getreide oder Gold – die Sanktionen gegen Russland als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine beeinträchtigen die Handelswege und die Weltwirtschaft. Vor allem im Energiesektor werden die Abhängigkeiten sichtbar. Preissteigerungen sind die unmittelbare Folge. Doch was steckt noch dahinter? Der Jurist Tobias Lettl forscht zu deutschem und europäischen Wettbewerbs- und Kartellrecht. Für uns Anlass, mit dem Experten die aktuellen Preissteigerungen und Effekte zu analysieren.

Warum ist es so schwer, Preissteigerungen an den Zapfsäulen mit den Mitteln des Kartellrechts zu stoppen?

Das europäische wie deutsche Kartellrecht verbietet zwar Handlungsweisen, die zu Wettbewerbsbeschränkungen führen, durch das sogenannte Kartellverbot: So dürfen Tankstellen ihre Preise untereinander nicht absprechen. Auch eine stille Übereinkunft abends beim Bier, die nicht schriftlich festgehalten wird, aber in der Folgezeit tatsächlich umgesetzt wird, fällt als eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise unter ein solches Verbot. Allerdings lassen sich solche Handlungsweisen häufig kaum nachweisen. Das Bundeskartellamt hat zwar Ermittlungsbefugnisse. Doch das wissen auch die Unternehmen und achten deshalb gut darauf, dass die Ermittler nichts Greifbares wie etwa E-Mails finden, mit denen sich ein Verstoß gegen das Kartellverbot nachweisen lässt. Allerdings gibt es eine Kronzeugenregelung: wenn also ein Insider alles ausplaudert. Dieser Kronzeuge wäre von Sanktionen wie Geldbußen befreit. Doch solange so etwas nicht passiert, haben die Konzerne meist wenig zu befürchten und machen weiterhin gute Geschäfte.

Bei der Preisgestaltung kommt erschwerend hinzu, dass sich der Markt ständig ändert. Und die bloße Beobachtung des Marktes sowie damit verbundene Preisanpassungen sind erlaubt. Denn es ist ein Kernbestandteil freier Marktwirtschaft, dass jeder Unternehmer grundsätzlich selbst entscheiden darf, zu welchem Preis er die von ihm angebotenen Produkte abgibt. Eine Ausnahme davon bildet etwa das Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis für Unternehmen mit kleinen oder mittleren Unternehmen überlegener Marktmacht.

Welchen Stellenwert hat der Wettbewerb?

Freie Preisgestaltung und Wettbewerbsfreiheit gehören zusammen. Jeder Unternehmer ist – wie gesagt – frei darin, den Preis der von ihm angebotenen Produkts selbst zu bestimmen. Das ist ein Grundsatz der freien Marktwirtschaft. Der Unternehmer könnte seine Produkte theoretisch auch verschenken. Dahinter steht der Wettbewerb, von dem die Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren. Aufgabe des Kartellrechts ist es nämlich, die Freiheit des Wettbewerbs zu gewährleisten und insbesondere den Wettbewerbsdruck aufrecht zu erhalten: Die Unternehmen müssen sich dann nämlich anstrengen, besonders günstige Angebote zu machen, damit sie ihre Produkte verkaufen können. Durch Verstöße gegen das Kartellverbot, insbesondere Preisabsprachen, würde dieser Druck wegfallen und der Wettbewerb wäre eingeschränkt.

Ab wann ist ein Preis Wucher?

Unternehmen in der freien Marktwirtschaft haben das Ziel, möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Das ist ganz legitim. Und wenn ein Unternehmen erkennt, dass es die Preise für seine Produkte mit Aussicht auf Erfolg hochsetzen kann, weil es alle anderen auch tun, entsteht eine Art Sog. Zumal es angesichts des Kriegs in der Ukraine und den gestiegenen Ölpreisen nach außen hin ganz gut zu rechtfertigen ist. Als Unternehmer kann ich mir also sagen: Die Öffentlichkeit wird mir die höheren Preise schon abnehmen – ob sie tatsächlich begründet sind oder nicht, sei mal dahingestellt. Auf Grund des Prinzips der Preisgestaltungsfreiheit liegt Wucher nur in sehr seltenen Ausnahmefällen vor.

Warum zögert der Gesetzgeber, in das System der Marktwirtschaft einzugreifen?

In unserer sozialen Marktwirtschaft ist die Freiheit der Preisgestaltung ein Kernbestandteil und damit ein sehr hohes Gut – geschützt durch die Grundrechte der Eigentums- oder Berufsfreiheit. Darum haben wir hier für staatliche Eingriffe hohe Hürden. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel als verfassungswidrig, weil gegen die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes verstoßend, beurteilt. Es können sich aber auch andere nachteilige Folgen durch staatliche Eingriffe in die Preisgestaltungsfreiheit ergeben. Die Debatte um Preisdeckel illustriert das: Wirtschaften erscheint dann nämlich nicht mehr attraktiv, wenn Preise festgeschrieben sind. Die Gefahr ist, dass ganze Branchen abwandern. Fortschritt könnte ebenfalls gebremst werden, da der Anreiz fehlt, Angebote zu verbessern oder Innovationen zu entwickeln. Wenn alle den gleichen Preis erhalten, lohnen sich Investitionen nicht mehr. Das schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland – ein Teufelskreis.

Steuersenkungen, Rabatte – wie sinnvoll sind solche Instrumente?

Mir erscheinen sie nicht sinnvoll. Beispiel Tankrabatt: Die Preise sind erst einmal durch die Decke geschossen, die Förderung durch den Staat wurde von den Unternehmen nicht an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben. Meines Erachtens ist das keine Überraschung. Denn jedes Unternehmen versucht natürlich, möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Jetzt hat der Bundeswirtschaftsminister jüngst angesichts der hohen Benzinpreise mit der Verschärfung des Kartellrechts gedroht – möglicherweise ein Grund, dass die Benzinpreise wieder etwas gesunken sind. In der Sache würde sich allerdings nichts ändern.

Ich sehe den Staat auch nicht in der Funktion, alles aufzufangen, was da kommt. Wir werden uns vermutlich alle mehr und mehr einschränken müssen. In Deutschland geht es vielen offenbar noch viel zu gut, das ist meine These. Denn wenn etwa nur geraten wird, die Zimmertemperatur um ein Grad abzusenken oder beim Duschen das Warmwasser runter zu regeln, um Energie zu sparen, dann gibt es sofort einen Aufschrei. Dabei müssten wir hier viel stärker an einem Strang ziehen, denn nur gemeinsam können wir die gegenwärtigen Krisen bewältigen. Gerade diejenigen, die über hohe Einkommen verfügen, sollten auf die angespannte Situation Rücksicht nehmen. Dementsprechend sollte der Staat nicht mit der Gießkanne einkommensunabhängig Entlastungen gewähren, sondern nur den Menschen, die dringend darauf angewiesen sind.

Sind global vernetzte Handelswege ein Auslaufmodell?

Globale Lieferketten wird es meines Erachtens in der bisherigen Form nicht mehr geben. Was sich momentan abzeichnet, ist, dass die Welt in Blöcke zerfällt. Da haben wir Russland, Indien, China, die uns westliche Demokratien als Gegenmodell sehen, aber untereinander zusammenhalten, wirtschaften und einen erheblichen Anteil der Weltbevölkerung repräsentieren. Europa ist im Vergleich dazu ein Zwerg, der sich erheblich überschätzt. Wir befinden uns außerdem zum großen Teil noch in zu starken Abhängigkeiten. Europa muss zusehen, dass es möglichst wirtschaftlich eigenständig und militärisch wehrhaft wird. Wir sollten die Europäische Union als Wirtschaftsraum weiter stärken. Auf viele Staaten außerhalb Europas können wir uns nicht mehr verlassen.

 

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Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Sabine Schwarz