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„Nur aus Russland heraus kann diesem Alptraum eines Krieges im 21. Jahrhundert wirklich ein Ende gemacht werden“ – Verwaltungswissenschaftler Jochen Franzke über den Krieg in der Ukraine

Das Bild zeigt den Verwaltungswissenschaftler Dr. Jochen Franzke. Das Foto ist von Jochen Franzke.
Foto : Jochen Franzke
Der Verwaltungswissenschaftler Dr. Jochen Franzke arbeitet seit vielen Jahren zu den deutschen Beziehungen nach Osteuropa und Russland.

Die russische Invasion in der Ukraine erschüttert seit mittlerweile fast drei Wochen die Welt. Seit dem 24. Februar werden ukrainische Städte Tag für Tag bombardiert, vor allem im Osten und Süden des Landes sowie rund um die Hauptstadt Kiew wird erbittert gekämpft. Der Verwaltungswissenschaftler Jochen Franzke forscht seit vielen Jahren zu den Beziehungen Deutschlands zu Osteuropa und Russland. Matthias Zimmermann sprach mit ihm über das deutsch-russische Verhältnis, den Blick auf den Krieg in Russland selbst und die Frage, was die Wissenschaftscommunity in Europa nun tun kann und sollte.

Es geht nicht nur um klassische Sanktionen, es geht um mehr – die möglichst vollständige Isolierung des Aggressorstaates Russlands für die Dauer des Krieges, an der sich selbstverständlich auch das demokratische, im Westen verankerte Deutschland beteiligen sollte. Die deutschen Eliten haben viel zu lange versucht, eine Art neutrale Vermittlerrolle zwischen Putins Russland und dem Westen einzunehmen. Dies basierte auf dem historischen Irrtum, Deutschland hätte einen besonderen Zugang zum Putin’schen Kreml. Dies hat sich als gefährliche Illusion herausgestellt, die von russischer Seite und auch von interessierter deutscher Seite seit Jahrzehnten bewusst befördert wurde. Diese Blase ist am Tag der Eröffnung des Angriffskriegs gegen die Ukraine geplatzt. Putin hat die Fassade fallen gelassen und bedroht mittlerweile Deutschland ganz offen mit einem Nuklearkrieg. Da bleibt wenig Raum für normale Beziehungen.

Gleichzeitig war Olaf Scholz als letzter europäischer Staatschef in Moskau, bevor die Invasion begann – und hält bis heute den Kontakt zu Putin aufrecht, um eine diplomatische Lösung zu erreichen. Was macht die deutsch-russischen Beziehungen so besonders?

Die besonderen deutsch-russischen Beziehungen der Ära Schröder und Merkel sind mittlerweile Geschichte. Kanzler Scholz handelt im Rahmen der wieder funktionierenden engen Abstimmung innerhalb der NATO und der EU. Und er handelt richtig, wenn es auch sicher schwer ist, mit einem Kriegsverbrecher und Lügner zu sprechen. Die Gesprächskontakte der westlichen Staatschefs sind wichtig, da gerade im Falle dieses Krieges, in dem die NATO nicht Kriegspartei ist, alle diplomatischen Kanäle genutzt werden müssen. Erst einmal geht es jetzt darum, den Krieg zu beenden. Ob der Kontakt von Bundeskanzler Scholz zum russischen Machthaber Putin dazu einen Beitrag leisten kann, wird sich zeigen.

Warum gelingt es Putin so gut, seinen – für den Rest der Welt offensichtlichen – aggressiven Angriffskrieg innenpolitisch als gerechtfertigte „Militäraktion“ zu präsentieren?

Putin hatte mindestens 15 Jahre Zeit, sich auf diesen Krieg umfassend vorzubereiten. Leider hat der Westen, vor allem aber auch Deutschland, wesentlich dazu beigetragen, da weder auf den Krieg Russlands gegen Georgien 2008 noch auf die russische Annexion der Krim 2014 eine adäquate Antwort erfolgte. Was jetzt an Sanktionen beschlossen wurde, hätte schon 2014 passieren müssen. Dann wäre uns – und vor allem der Bevölkerung der Ukraine – einiges erspart geblieben.

Putin hat – wie andere Diktatoren vor ihm – die Rolle von Propaganda und Volksverdummung erkannt und dieses System sowohl zuhause oder auch im Ausland effektiv ausgebaut und dabei viel investiert. Dabei ist er richtig innovativ geworden. Er hat die Waffe der Beeinflussung demokratischer Wahlen mit modernen Technologien eingesetzt, er braucht nicht mal einen eigenen Propagandaminister, sondern sein gesamtes Machtsystem ist einbezogen.

Die Wirkung in Russland – außerhalb der wenigen regime-kritischen Schichten – ist leider verheerend, da wesentlich die landesweiten Fernsehkanäle, die vor allem von der älteren nicht-urbanen Bevölkerung weiter stark genutzt werden – unter seiner Kontrolle sind. Seit Ausbruch des Krieges ist dies natürlich noch deutlich verstärkt worden.

Aktuell scheint es so, als könne Putin durch den außenpolitischen Konflikt große Teile der russischen Bevölkerung hinter sich versammeln, seine Popularitätswerte scheinen sogar zu steigen. Ein Muster, das es in der Vergangenheit schon öfter gab (etwa 2008 oder 2014). Warum funktioniert das so gut?

Es gibt schon länger keine verlässlichen Umfragen mehr, die die Stimmung unter der Bevölkerung Russlands und sogar die Popularitätswerte von Machthaber Putin wirklich beschreiben. Auch hier wird viel Propaganda in die Welt gesetzt.

Ich wäre daher mit Schlussfolgerungen sehr vorsichtig. Von außen gesehen, lassen sich dennoch einige Trends festhalten. Dabei gilt es, der Realität ins Auge zu sehen und Wunschdenken zu vermeiden, welches die deutsche Politik gegenüber Putins Russland leider viel zu lange geprägt hat. Es gibt aus meiner Sicht mindestens drei Gruppen, auf die sich der Präsident stützen kann: Erstens diejenigen, die am Krieg gegen die Ukraine bewusst mitmachen bzw. davon profitieren wollen. Dazu zählen u. a. der politische Machtapparat, die Repressionsorgane wie Geheimdienste, Polizei, Armee und Gerichte sowie die staatliche gelenkte Wirtschaft. Geschätzt zehn Millionen Personen. Zweitens diejenigen, die große Gruppe der russischen Nationalisten, die weiter den Traum der Wiederherstellung des Russischen Imperiums mit Gewalt träumen. Ich erinnere mich gut daran, dass ich nach der russischen Annexion der Krim 2014 auf den Märkten in Moskau die Shirts mit der russischsprachigen Aufschrift „Endlich hassen Sie uns wieder“ gesehen habe, was die Denkweise dieser Leute gut widerspiegelt. Und schließlich das Viertel der Bevölkerung Russlands, das in den Dörfern lebt, und unter denen die Popularität von Wladimir Putin – trotz der Vernachlässigung dieses Teils Russland – immer sehr hoch war. Ich befürchte, dass diese Gruppen durch noch so scharfe Sanktionen des Westens nicht zu beeindrucken sind.

Die „schweigende Mehrheit“ sind vor allem große Teile der seit den 1990er Jahren wachsenden Mittelschicht sowie die urbane Bevölkerung. Viele davon haben lange vom Putin‘schen Deal „Verzicht auf Demokratie und politische Partizipation gegen wachsenden Wohlstand und Stabilität“ profitiert. Dieser Deal funktioniert aber schon lange nicht mehr, sodass viele aus diesen Schichten dem Regime mittlerweile kritisch gegenüberstehen, dies aber angesichts der gewaltigen Repressionen nicht öffentlich äußern. Ein Exodus aus diesen Schichten ins Ausland hat schon vor dem Krieg eingesetzt und wird sich nun deutlich verstärken.

Schließlich gibt es die kleine Gruppe von Menschen, die bereit sind, sich gegen das Regime und die russische Aggression in der Ukraine öffentlich zur Wehr zu setzen.

Das Bild wird sich sicher in der nächsten Zeit ändern, da Russland nunmehr von der internationalen demokratischen Gemeinschaft fast vollständig isoliert wird, was sich auch in einem Propagandastaat nicht leugnen lässt. Wie schnell dies zu erhöhtem innenpolitischen Druck auf das Regime führen wird, lässt sich im Augenblick nicht sagen. Möglicherweise werden aber die direkten Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine die russische Bevölkerung schneller treffen als die Sanktionen, besonders wenn die Zahl der russischen Kriegstoten weiter wächst und der Krieg als Terror auch auf russische Städte übergreift. Es ist aber so, dass nur aus Russland heraus diesem Alptraum eines Krieges im 21. Jahrhundert wirklich ein Ende gemacht werden machen kann. Niemand kann dem russischen Volk diese für das eigene Überleben notwendige Mission abnehmen.

In den vergangenen Tagen haben sich zahlreiche russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen den Krieg positioniert – bis 5. März haben etwa 7.000 Forschende aus Russland einen offenen Brief unterschrieben, der den Krieg als „unfair und offen gesagt sinnlos“ verurteilt. Haben Sie Stimmen aus der russischen Wissenschaftssphäre gehört?

Ich verfolge dies natürlich sehr aufmerksam, einige Unterzeichner kenne ich persönlich. Dieser Protest hat mich menschlich sehr bewegt und ist sehr mutig. Der offene Brief enthält schließlich die klare Feststellung, dass die „Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa allein bei Russland [liegt]“. Schon dieser Satz ist in diesem Orwell‘schen Angststaat nunmehr strafbar. Wer es dennoch wagt, wird entlassen und verfolgt. Wie ich höre, sind auch schon Entlassungen erfolgt.

Auf der anderen Seite hat die Russische Union der Rektoren (RUR) schon am 4. März die Invasion verteidigt, am selben Tag wurden die Mitgliedschaften der entsprechenden Hochschulen in der European University Association (EUA) suspendiert. Europaweit sind die wissenschaftlichen Kontakte nach Russland derzeit weitgehend auf Eis gelegt. Auch die Uni Potsdam, die zahlreiche Beziehungen sowohl nach Russland als auch in die Ukraine unterhält, hat ihre Kooperationen nach Russland „vorerst sistiert“, so Uni-Präsident Prof. Oliver Günther, Ph.D. Ist dieses Vorgehen aus Ihrer Sicht alternativlos?

Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass an russischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ein öffentliches Bekenntnis gegen den Krieg zurzeit praktisch nicht möglich ist. Alle Führungskräfte von Wissenschaftsinstitutionen werden gezwungen, sich öffentlich zum Krieg in der Ukraine zu bekennen. Daher heißt es in der Adresse der Russischen Rektorenvereinigung vom 4. März 2022, die von fast 100 Rektoren russischer Universitäten und Hochschulen unterschrieben wurde, so schön: „Vor unseren Augen spielen sich Ereignisse ab, die jeden Bürger Russlands begeistern… Es ist heute sehr wichtig, unser Land, unsere Armee, die unsere Sicherheit verteidigt und unseren Präsidenten zu unterstützen, der eine notwendige Entscheidung getroffen hat“. Wollen wir uns wirklich mit Personen mit diesen Auffassungen inmitten eines Krieges zusammensetzen und über die neuesten Erkenntnisse der Physik plaudern?

Insofern ist das Vorgehen in der Tat alternativlos. Wir leben in einer Zeitenwende, die alle deutschen Institutionen zwingt, sich unverzüglich, deutlich und unmissverständlich zu positionieren, obwohl natürlich abzusehen ist, dass die nötige außergewöhnlich scharfe Reaktion auch auf deutscher Seite hohe Kosten verursachen wird. Ich bin der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen für die außergewöhnliche Empfehlung vom 25. Februar 2022 sehr dankbar, die wissenschaftliche Kooperation mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf Weiteres einzufrieren. Wir haben leider nicht sehr viele Möglichkeiten, auf Russland mit nichtmilitärischen Mitteln einzuwirken, dieser außergewöhnliche Schritt gehört aber dazu. Es irritiert mich sehr, dass in dieser Situation von Einigen der Mythos der „neutralen“ Wissenschaft ins Feld geführt wird. Wir werden im Umgang mit diktatorischen Regimen im Krieg wohl wieder lernen müssen, dass auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört.

Gleichzeitig sagte er: „Wir werden jedoch sorgfältig darauf achten, den dem Krieg entgegenstehenden Teilen der Zivilgesellschaft, die gerade auch an Hochschulen und Forschungseinrichtungen präsent sind, nicht zu schaden.“ Was kann Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Einrichtungen Ihrer Ansicht nach derzeit tun, um das zu schaffen?

Die Möglichkeiten etwas für unsere russischen Kolleginnen und Kollegen, die sich in irgendeiner Form gegen diesen Krieg gewandt haben, zu tun, sind leider sehr begrenzt. Ich persönlich versuche, die entsprechenden Kontakte – solange dies technisch möglich sein wird – aufrecht zu erhalten und mit ihnen zu diskutieren. Manchmal muss man auch Trost spenden, wenn diese vor Scham über die Handlungen des eigenen Staates nicht mehr weiterwissen. Viele jüngere Kollegen und Freunde haben das Land bereits verlassen oder wollen dies tun. Sie werden unsere Hilfe brauchen, wenn sie ihre wissenschaftliche Laufbahn im Westen fortsetzen wollen.

Aber das Wichtigste, was deutsche Universitäten und Hochschulen jetzt tun können, ist die konkrete Hilfe für unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen sowie die Studierenden, die aus ihrem Land fliehen mussten. Wir sollten uns auch rechtzeitig darauf vorbereiten, der Ukraine, der es hoffentlich gelingen wird, ihre Souveränität zu verteidigen, nach dem Krieg beim Wiederaufbau der zerstörten wissenschaftlichen Infrastruktur zu helfen.

Vielen Dank!

 

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Veröffentlicht

Online-Redaktion

Matthias Zimmermann