Die „öffentliche Verbreitung absichtlich falscher Informationen über die Benutzung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ steht seit einigen Wochen unter Strafe. Die militärische Invasion in der Ukraine darf nicht Krieg genannt werden. Die politische Führung besteht darauf, es sei eine „militärische Spezialoperation“. Es drohen bei Verstößen bis zu 15 Jahre Haft. Ist das eine für Kriegszeiten typische Vorgehensweise in einer Autokratie?
Leider ja.
Wie beurteilen Sie solche Einschränkungen der Pressefreiheit per Gesetz?
Sie zeigen, dass die Kreml-Führung alle Gesetzgebungsorgane steuert und keine Scheu hat, selbst die Wahrheit per Gesetz zu verbieten.
Seit Jahren werden Zeitungen und Fernsehsender in Russland blockiert, verboten oder der staatlichen Meinung „angepasst“. Inzwischen sind auch die letzten unabhängigen russischen, aber auch ausländische Medien, wie die Deutsche Welle oder BBC, nicht mehr zugänglich. Welche Macht hat denn die unabhängige Berichterstattung, könnte sie tatsächlich der „Spezialoperation“ Putins gefährlich werden?
Die restriktive Reaktion der Kreml-Führung zeigt, dass sie die unabhängige Berichterstattung fürchtet. Ob sie gegen die staatliche Medienmacht viel ausrichten kann, ist zweifelhaft, aber ohne sie ist es auch für kritische Bürger kaum möglich, sich objektiv zu informieren.
Die sozialen Medien blieben von diesen Repressionen länger verschont. Nach Kriegsbeginn wurden erst Twitter, dann Facebook und Instagram verboten. Das Gericht begründete die Entscheidung damit, dass der Mutterkonzern Meta extremistisch sei. Nun ist nur noch YouTube zugänglich, und vermutlich nicht mehr lange. Welche Schlupflöcher könnte es für die Bevölkerung noch geben, um sich unabhängig zu informieren?
Soziale Medien und Intermediäre können von jedem in alle Richtungen benutzt und auch manipuliert werden. Wichtiger sind die Quellen und der Umgang damit. Dafür sind seriöse Journalisten wichtig, die Fakten checken und Quellen überprüfen. Das wichtigste noch verbliebene journalistische Kreml-kritische Medium ist das Portal von Meduza, das heute von Riga aus in russischer Sprache Nachrichten für über zehn Millionen Menschen in Russland bereitstellt. Die Webseite ist noch zugänglich, eine Sperre ließe sich mit VPN leicht umgehen.
Die Journalistin Marina Owsjannikowa, die im März 2022 im russischen Fernsehen mit einem Plakat gegen den Krieg protestiert hatte, erwartet eine Geldstrafe von etwa 250 Euro. Wenn man an den Politiker und Aktivisten Alexei Nawalny denkt, auf den ein Giftanschlag verübt wurde und der nun im Straflager eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt – ist das nicht gerade in Kriegszeiten ein überraschend mildes Vorgehen?
Das war Berichten zur Folge nur ein erstes Bußgeld, das eigentliche Strafverfahren steht noch aus.
Sehen Sie Gemeinsamkeiten zur Zensur in China oder Belarus, was die Einschränkung der Pressefreiheit betrifft?
Ja, das Mediensystem und die Unterdrückung unabhängiger Berichterstattung wird immer totalitärer.
Die russische Justiz fällt nicht nur vernichtende Urteile für die Pressefreiheit. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Memorial, die Ende 2021 vom Obersten Gericht Russlands verboten wurde, sind betroffen. Wie schätzen Sie die Unabhängigkeit russischer Gerichte ein?
In politisch wichtigen Verfahren gibt es dort keine Unabhängigkeit der Justiz. Das ist seit den Verfahren gegen den Kreml-Gegner Michail Chodorkowski zu Beginn der Putin-Herrschaft mehr oder weniger offensichtlich.
Irina Scherbakowa, Mitbegründerin von Memorial, sagte in einem Interview sinngemäß: Erst erschafft man Falschnachrichten, dann beginnt man, selbst daran zu glauben. Sehen Sie das auch so?
Die Wahrheit ist manchmal noch komplexer. Es werden oft mehrere unterschiedliche Narrative geschaffen, die sich teils auch widersprechen. Das führt die öffentliche Meinung in die Irre und am Ende weiß man nicht mehr, was man glauben soll und was Propaganda ist.
Wie funktioniert (Kriegs-)Propaganda?
Es werden selektive Fakten mit Unwahrheiten kombiniert, die Schlussfolgerungen zur Förderung der eigenen Position nahelegen und/oder eine zumeist emotionale Reaktion gegen die Position des Gegners hervorrufen sollen.
Eine letzte Frage zur Kriegsberichterstattung. Immer wieder heißt es, dass mögliche Kriegsverbrechen der russischen Armee nicht verifiziert werden könnten. Warum ist die Beobachtung und Einordnung des Geschehens in der Ukraine so schwierig?
Es heißt, das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. An der Front gibt es kaum unabhängige Journalist:innen, daher werden Informationen von den Kriegsparteien zur Verfügung gestellt, die jeweils die eigenen Erfolge – und gegebenenfalls die Verbrechen des Gegners herausstellen.