Skip to main content

Subkultur(en)

Der Begriff der Subkultur stammt als wissenschaftliches Konzept ursprünglich aus dem Umfeld soziologischer und linguistischer Analysen um Robert Merton und Albert Cohen aus Nordamerika, die sich im Rahmen ihrer Gesellschaftsanalysen vorrangig mit kriminellen Subkulturen, Konfliktsubkulturen und Rückzugssubkulturen der 1920er bis späten 1960er Jahre beschäftigt hatten. Erweitert wurden diese Konzepte auf populäre Jugendkulturen und Medienkulturen dann im Rahmen des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) mit einem zeitlich bedingten Fokus auf die 1970er und 1980er Jahre. Seit den 1990er Jahren und bis heute werden Subkulturen in interdisziplinären Fortführungen und Neuansetzungen (z.B. als Postsubcultural Studies) weiter beobachtet und diskutiert.

Bei Subkulturen handelt es sich um identifizierbare Teile der Gesamtgesellschaft, die sich partiell von dieser unterscheiden, aber dennoch bestimmten Gesetzen und Regeln der Gesamtgesellschaft unterliegen. So können diese Unterschiede insbesondere hinsichtlich  der Verhaltensnormen der Mitglieder der einzelnen Subkulturen herausgearbeitet werden. Sie  sind Ausgangspunkt für die Bildung eines Selbstbewusstseins dieser Subkulturen. Es bietet sowohl die  die Voraussetzung für die Konturierung und Eingrenzung der eigenen Gruppe als auch für die Abgrenzung einer Gruppe gegenüber anderen Gruppen und gegenüber der Gesamtgesellschaft. Subkulturen bezeichnen demnach Kulturen ‚unterhalb’ der vorherrschenden Kultur.

In den frühen Studien wurden u.a. eigene Ausformungen von Umgang miteinander, Handeln und Verhalten und vor allem von Sprache in diesen Gruppen untersucht. Erst danach und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem verstärkten Aufkommen von Jugend- und populären Medienkulturen und deren Kommerzialisierung wurde der Begriff aufgeweicht und auch für spielerische Abweichungen oder Unterwanderungen im Bereich des Stils benutzt.

Ein für unsere heutigen Gesellschaften adäquates, weites und reflexives Verständnis von Kultur ist etwa Kultur als Programm im Sinne gruppenspezifisch geprägter, gleichwohl individuell ausgelegter Interpretationen geteilter Wirklichkeitsmodelle. Auf diese Weise wird Kultur beobachtbar in mannigfaltigen, mal zentralen, mal peripheren Teilkulturen (Kunst, Politik, Religion, Bildung, Sport etc.) und deren Unterscheidungssettings (ästhetisch/nicht-ästhetisch, links/mitte/rechts, Christentum/Islam/Judentum/Buddhismus/etc., Schule/Ausbildung/Hochschule usw.) und Bewertungskategorien. Diese unterliegen ständigen Verwandlungen, Anpassungen und Abgrenzungen und werden durch ihre Handelnden betrieben. Subkulturen können dementsprechend als innerhalb dieser Programm-Ebenen meistens zunächst wenig sichtbar (im Schatten, im Untergrund etc.) operierende irritierende Kulturen aufgefasst werden. Die Vorsilbe ‘Sub’ signalisiert hier eben das Entstehen jenseits des gutbürgerlichen Wohnzimmers oder der allgemeingesellschaftlichen Normen und Werte, nämlich ‘darunter’, im dunklen Kellerraum, sozusagen in den Clubs der noch nicht gentrifizierten City oder auch im virtuellen Raum des Cyberspace. Die Handelnden der Subkulturen weichen auf bestimmten Ebenen gegenüber denen der  Hauptkulturen ab, sind aber nicht zwingend in Gänze gegen diese. Ebenso wenig versuchen sie komplett aus der Kultur auszusteigen, was für gewöhnlich den Einstieg in eine andere Kultur bedeuten würde, denn ein Außerhalb von Kultur ist nach den genannten Modellen für menschliche Beobachter theoretisch nicht vorstellbar.

Der Begriff der Subkultur ist journalistisch und wissenschaftlich oftmals in Verbindung gebracht oder sogar gleichgesetzt worden mit denen der Gegenkultur, Teilkultur, Jugendkultur oder Pop(ulär)kultur. Diese teilweise unscharfen Verständnisse sind für eine eindeutige Definition wenig hilfreich und stehen für jeweils ganz eigene Konzepte. Gegenkultur bezeichnet einen stets umfassenderen und umwälzenden, deutlich ausgerichteten Prozess gegen eine dominante Kultur, ein sehr deutlich gekennzeichnetes Angreifen dieser Kultur.

Teilkultur hingegen ist nicht zwingend gegen oder unterhalb der dominanten Kultur zu verorten, sondern kann einen Teilbereich des Hauptprogramms bezeichnen, wie etwa die Ess- und nicht die Trinkkultur. Jugendkultur ist an ein bestimmtes Alter ihrer Handelnden gebunden und steht für eine besondere Suche nach sich selbst und dem damit zusammenhängenden Bedürfnis nach Orientierung, Identifikation und Sozialisation. Freilich hat sich diese Lebensspanne vor allem in westlichen Medienkulturgesellschaften auf der einen Seite ausgedehnt, auf der anderen Seite scheinen aber einfach bestimmte, einst nur mit Jugendlichkeit in Verbindung gebrachte Phänomene wie Popmusik mittlerweile generationsübergreifend zu sein. Gleichwohl lassen sich im Laufe der Jahrzehnte von Subkulturbeobachtungen Veränderungen in Form von sowohl Aus- als auch Entdifferenzierungen erkennen.

Pop(ulär)kultur bezeichnet den kommerzialisierten gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert und medial vermittelt, die dann von breiten Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet werden. Erst in diesem kommunikativen Prozess auf Grundlage unterschiedlicher Kulturen und Kultur-Ebenen und der jeweils aktuellen konkreten Verhältnisse zueinander entsteht Pop(ulär)kultur als Programm im oben genannten Sinn. Auch innerhalb mediatisierter Pop(ulär)kulturen lassen sich dementsprechend zu den einzelnen Strömungen oder Genres jeweils eigene Subkulturen beobachten, die Genregrenzen erweitern oder innerhalb der Grenzen progressiv (oder auch regressiv) verändern wollen und sich an den jeweiligen Mainstreams oder Hauptkulturen abarbeiten. Dieses zunächst meist in Kinder- und Jugendjahren im Bereich Freizeit und Hobby (z.B. Musik, Film, Literatur, Kunst, Mode, Lebensstil, Sport, Spiele, Computerspiele) entstandene vergnügliche Spiel zur Identitätskonstruktion und -festigung innerhalb ganz bestimmter Regeln bedeutet oftmals Unterhaltung im Sinne von Kommunikation und vor allem Vergnügen und wurde insbesondere wegen seiner Wirksamkeit, Ästhetisierung und Emotionalisierung frühzeitig kommerzialisiert. Mit den zunehmend in Pop(ulär)kulturen sozialisierten Generationen ist mittlerweile eine abgeschwächte Erweiterung dieses Spiels auf die gesamte Lebenszeit hin zu beobachten, was diese gesellschaftlichen Teilkulturen ökonomisch nur umso attraktiver macht. Dabei sind Hauptkulturen nicht per se konservativ und Subkulturen per se dynamisch (geschweige denn über vermeintlich kollektive Geschmacksbildung per se schlecht oder gut), je nach Bezugnahme können beide Gruppierungen progressiv und regressiv sein, woraus sich ein komplexes und gleichzeitig in Wandlung befindliches sowie stabiles System ständiger Ver- und Aushandlungen konstituiert. Kultur ist Sicherheit und Kontingenz in einem Geflecht und verlangt Verantwortung von den Handelnden, wobei Kultur zunächst eher auf Stabilität, Subkultur eher auf Dynamik ausgerichtet zu sein scheint.

Spätestens seit den 1990er Jahren wird diskutiert, ob es in einer transkulturellen, ausdifferenzierten Welt überhaupt noch klar erkennbare Subkulturen und auch deren Gegenüber in Form von dominanten Kulturen geben kann. Deswegen wurde der Begriff der Szene als weniger starres Konzept bevorzugt. Dabei wird jedoch oftmals übersehen, dass sich die medialen Beobachtungsverhältnisse verändert haben und unübersichtlicher geworden sind, dass also etwa viele Subkulturen durch Internetplattformen und vielfältige in unterschiedlichen Graden professionalisierte und institutionalisierte journalistische Formate  sichtbarer geworden sind. Gleichzeitig sind jedoch die Machthabenden durch Verflechtungen und komplexe Strukturen von vor allem Wirtschaft und Politik unsichtbarer geworden. Dementsprechend ist der kulturelle Bedarf an Irritation im Sinne von Hinterfragung gegebener Strukturen nicht weniger geworden, die kontradiktorisch-dynamischen Kulturprogramme laufen durchaus weiter ab, bekommen jedoch schlimmstenfalls Probleme, ihr zu irritierendes Gegenüber zu identifizieren. Zum anderen hat eine gewisse gesellschaftliche Gewöhnung an ‘homöopathisch deviantes’ Verhalten stattgefunden, ja dieses sogar etwa in der Popkultur, Werbung oder Kreativitätsgesellschaft zur Norm werden lassen, wodurch aber keinesfalls der Bedarf nach Abweichung verschwunden ist. Oftmals finden diese Dynamiken in progressiver oder regressiver Form statt und als ständige minimale Irritation oder versuchter Ausstieg aus diesem ernsthaften Kulturspiel.

In Zeiten der Kommerzialisierung und Kommodifizierung der Abweichung sowie der Diffusion populärer Medienkulturen in alle gesellschaftlichen Teilkulturen sind eben auch auf allen diesen Ebenen Hauptkulturen und Subkulturen zu finden. Die eine einheitliche Hauptkultur und sie unterlaufende, subvertierende Subkultur gibt es kaum zu beobachten - weder auf popkultureller noch auf gesamtgesellschaftlicher Programm-Ebene. Diese Unschärfe ermöglicht es Extremismen, Nationalismen, Fundamentalismen und Terrorismen genau in diese Unübersichtlichkeit hinein sozusagen kultur-unsensibel neue, vermeintlich klare und einfache Regeln zu oktroyieren.

Literaturhinweise:

 

Subkultur:

  • Clarke, John; Hall, Stuart; Jefferson, Tony; Roberts, Brian (1979): Subkulturen, Kulturen und Klasse. In: Honneth, Axel; Lindner, Rolf; Paris, Rainer (Hrsg.): Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurt/Main: Syndikat, S. 39-131.
  • Diederichsen, Diedrich (2017): Zehn Thesen zur Subversion und Normativität. In: Gerber, Tobias; Hausladen, Katharina (Hrsg.) (2017): Compared to What? Pop zwischen Normativität und Subversion. Wien: Turia + Kant, S. 53-61.
  • Gelder, Ken; Thornton, Sarah (Hrsg.) (1997): The Subcultures Reader. London und New York: Routledge.
  • Gerber, Tobias; Hausladen, Katharina (Hrsg.) (2017): Compared to What? Pop zwischen Normativität und Subversion. Wien: Turia + Kant.
  • Hebdige, Dick (1987 [1979]): Subculture. The Meaning of Style. London und New York: Routledge.
  • Jacke, Christoph (2004): Medien(sub)kultur. Geschichten – Diskurse – Entwürfe. Bielefeld: Transcript.
  • Jacke, Christoph (2009): John Clarke, Toni Jefferson, Paul Willis und Dick Hebdige: Subkulturen und Jugendstile. In: Hepp, Andreas; Thomas, Tanja; Krotz, Friedrich (Hrsg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies. Wiesbaden: VS,  S. 138-155.
  • Jenks, Chris (2005): Subculture. The Fragmentation of the Social. London u.a.: Sage.
  • Muggleton, David; Weinzierl, Rupert (Hrsg.) (2003): The Post-Subcultures Reader. Oxford und New York: Berg.
  • Pilipets, Elena; Winter, Rainer (2017): Mainstream und Subkulturen. In: Hecken, Thomas; Kleiner, Marcus S. (Hrsg.): Handbuch Popkultur. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 284-293.
  • Schwendter, Rolf (1993) [1973]: Theorie der Subkultur. 4. Auflage. Hamburg: Euro­päische Verlagsanstalt.
  • Wuggenig, Ulf (2003): Subkultur. In: Hügel, Hans-Otto (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, S. 66-73.

 

Mainstream:

  • Baker, Sarah; Bennett, Andy; Taylor, Jodie (Hrsg.) (2013): Redefining Mainstream Popular Music. New York und London: Routledge.
  • Holert, Tom; Terkessidis, Mark (Hrsg.) (1996): Main­stream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin und Amsterdam: Edition ID-Archiv.
  • Hügel, Hans-Otto (2007): Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur. Köln: Herbert von Halem.

 

Pop(ulär)kultur:

  • Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
  • Diederichsen, Diedrich (2013): Endlich ohne Männer und Frauen. Pop ist Drag. In: Mania, Thomas; Eismann, Sonja; Jacke, Christoph; Bloss, Monika; Binas-Preisendörfer, Susanne (Hrsg.): ShePOP. Frauen. Macht. Musik! Münster: Telos, S. 181-191.
  • Diederichsen, Diedrich/Jacke, Christoph (2011): Die Pop-Musik, das Populäre und ihre Institutionen. Sind 50 Jahre genug? Oder gibt es ein Leben nach dem Tod im Archiv? Ein Gespräch. In: Jacke, Christoph; Ruchatz, Jens; Zierold, Martin (Hrsg.): Pop, Populäres und Theorien. Forschungsansätze und Perspektiven zu einem prekären Verhältnis in der Medienkulturgesellschaft. Münster u.a.: LIT, S. 79-110.
  • Goer, Charis; Greif, Stefan; Jacke, Christoph (Hrsg.) (2013): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart: Reclam.
  • Hecken, Thomas (2009): Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. Bielefeld: Transcript.
  • Hügel, Hans-Otto (Hrsg.) (2003): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler.
  • Jacke, Christoph (2013): Einführung in Populäre Musik und Medien. 2. Auflage. Münster, Berlin u.a.: LIT.
  • Jacke, Christoph (2017): Popmusikkulturen: Entwicklung und Verständnis. In: Leggewie, Claus; Meyer, Erik (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 67-75.
  • Storey, John (2003): Inventing popular culture. From folklore to globalization. Oxford: Blackwell.

 

Kultur:

  • Baecker, Dirk (2014): Kulturkalkül. Berlin: Merve.
  • Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Orientie­rung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Ko­gnition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/Main: Suhr­kamp.
  • Schmidt, Siegfried J. (2014): Kulturbeschreibung – Beschreibungskultur. Umrisse einer Prozess-orientierten Kulturtheorie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Bionote:


(Kurz-Version)

Dr. Christoph Jacke, Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik der Universität Paderborn. Studiengangsleiter „Populäre Musik und Medien BA/MA“. Chair/Erster Vorsitzender „International Association for the Study of Popular Music“, Branch „D-A-CH (Deutschland/Schweiz/Österreich“. Tätigkeiten als Journalist für u.a. Frankfurter Rundschau, Testcard, Spex, De:Bug, Intro, Rolling Stone und Die Aufhebung sowie bei Plattenfirmen. Aktuelle Publikationen:  siehe Homepage: www.christophjacke.de

Autor Christoph Jacke
Zeitraum November 2017