Essen und Identität Nahrungsmittel als Ausdruck nationaler Identität und Stereotypisierung am Beispiel der Zuschreibung „Deutsche Kartoffel“
Esskultur, Identität und Stereotypisierung
Seitdem in den letzten Jahren die Debatten um Alltagsrassismus und Diskriminierung zunehmend in der Öffentlichkeit stattfanden, stand – angestoßen von vereinzelten (ultra)konservativen politischen Akteuren – plötzlich auch das Thema Rassismus gegen Deutsche im Raum. Begründet wurden diese Gedanken unter anderem mit der (anscheinend schlecht konnotierten) Zuschreibung „(du) deutsche Kartoffel“ – die eben von diesen Akteuren als Diffamierung gegen Deutsche postuliert wurde. Nach etlichen Zeitungsartikeln zu urteilen, scheint die ‚deutsche Kartoffel‘ eine polarisierende Zuschreibung zu sein. Die Reaktionen darauf sind folglich recht unterschiedlich (vgl. Serrao, 2018 oder Casdorff, 2010). Es soll im Folgenden allerdings nicht darum gehen, zu beantworten ob die ‚deutsche Kartoffel‘ eine rassistische Bezeichnung ist, sondern um die Frage, wie und unter welchen Umständen derartige Zuschreibungen und Verallgemeinerungen zustande kommen und sich als solche etablieren. Wie wachsen sie zu nationalen Stereotypen heran? An weiteren Zuschreibungen wie ‚Makkaronifresser‘, ‚Kümmeltürke‘ oder ‚Froschesser‘ lässt sich bereits ablesen, dass nationale Identitäten des Öfteren mithilfe von Nahrungsmitteln und Essgewohnheiten umschrieben werden; dabei werden Angehörige einer Nation, ihre Mentalität oder ihr Wesen mit einem bestimmten Nahrungsmittel in Verbindung gebracht (vgl. Rath 1984: 229), sodass diese zu einem nationalen Identitätsmerkmal werden.
„Der Mensch ist, was er ißt,“ sagte einst schon der Anthropologe Ludwig Feuerbach (1804-1872) und meinte, dass die Eigenschaften des Gegessenen sich auf den Essenden übertragen würden. Tatsächlich stellt das Essen weit mehr als bloß einen materiellen und physiologischen Vorgang dar, vielmehr ist das „Essen eine kulturell geprägte symbolische Form[…], die für die[...] Identitätsbildung von elementarer Bedeutung ist.“ (Fellmann, 1997: 27f) Ähnlich formuliert dies auch die Literaturwissenschaftlerin Christiane Ott in ihrem kürzlich erschienenem Buch Identität geht durch den Magen – Mythen der Esskultur: „Essen stiftet“ und „Essen ist eine Performance von (sozialer, nationaler, Gender-) Identität; ein Ritual, das soziale Bedeutungen stiftet und perpetuiert.“ (2017: 23 bzw. 33)
Solche Identitätsnarrative anhand von Lebensmitteln sind in unterschiedlichen Diskursen verankert. Sie werden z.B. auch in der Werbung, im Film oder in der Politik benutzt, sodass bestimmte Lebensmittel oder Essgewohnheiten als stereotypisierende Merkmale von ganzen Nationen (re-)präsentiert und verhandelt werden.
Im Folgenden müssen demnach zunächst die Begriffe Esskultur, Identität und Stereotyp geklärt werden und der Frage nachgegangen werden, wie diese Konzepte in einer plausiblen Verbindung zueinander stehen. Seit wann existieren Stereotype in dieser Form und unter welchen Voraussetzungen entstehen sie? Bei der Zuschreibung ‚deutsche Kartoffel‘ muss gleichwohl der Versuch unternommen werden, die Kartoffel und ihre Relevanz für Deutschland bzw. die deutsche Küche nachzuvollziehen. Wie hat sie sich etabliert und wie gelingt in diesem Fall die Übertragung des Lebensmittels auf die deutsche Identität? Oder anders gefragt, warum setzen wir Lebensmittel ein, um (nationale) Identitäten zu beschreiben?
So kann gezeigt werden, dass nicht nur Fakten und Normen über das Lebensmittel für eine Identitätszuschreibung miteinander in Verbindung stehen (vgl. Barlösius/Neumann/Teutenberg 1997: 17), sondern auch Funktion und Bedeutung derartiger Zuschreibungen eine wichtige Rolle spielen. Daher ist auch zu fragen, wem sie nutzen und wem sie schaden, wer kommuniziert, identifiziert und mit Identitätsnarrativen und Stereotypisierungen ein- oder ausgrenzt. An einigen Beispielen aus der öffentlichen Diskussion wird im letzten Teil schließlich untersucht, was genau die Zuschreibung ‚deutsche Kartoffel‘ meint und inwiefern sich das Nahrungsmittel dazu eignet, nationale Identität auszudrücken.
Es ist bemerkenswert, dass der Artikel zu „Esskultur“ in der Brockhaus Enzyklopädie erst in der 21. Auflage (2006) erstmals als eigenständiger Schlüsselbegriff aufgeführt wird (vgl. Königs, 2014: 55). Die Beiträge in den vorausgegangenen Auflagen zu „Ess- und Trinksitten“ sowie „Ernährung und Gesundheit“ geben Hinweise darauf, dass unter diesem Begriff entweder vermehrt Esstraditionen und Rituale subsummiert werden oder aus einer einseitig naturwissenschaftlich ausgerichteten Ernährungsforschung resultieren, in der immerzu nach der „materielle[n] Optimierung der körperlichen Nahrungszufuhr und Abwendung bzw. Heilung von gesundheitlichen Schäden in diesem Zusammenhang gefragt [wird].“ (Barlösius/Neumann/Teuteberg, 1997: 13) Dabei ist die Nahrungsaufnahme für den Ethnologen Marcel Mauss ein ‚soziales Totalphänomen‘, das ebenso „die materiale, biologische, religiöse, ästhetische und mentale als auch soziale Dimension umfasst.“ (Mauss zit. n. Moebius, 2015) Auch nach Alois Wierlacher ist Essen ein „elementares Kulturthema, das in vielen historischen, nationalen, regionalen und individuellen Varianten existiert.“ (zit. n. Königs, 2014: 12) Einen entscheidenden Beitrag, der sich der Komplexität des Themas Esskultur annimmt, liefern die Soziologin Eva Barlösius, der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann und der Historiker Hans Jürgen Teuteberg in ihrem 1997 erschienenen Grundlagenband Essen und kulturelle Identität. In ihren einleitenden Gedanken zum Buch wird nicht nur danach gefragt, wie Identitätsbildung durch Essvorgänge erlebt und repräsentiert werden kann, sondern auch danach, wie und unter welchen Voraussetzungen die Konstruktion und Zuschreibung von Identität als ein bewusster und aktiver Vorgang untersucht werden kann. Insbesondere wird herausgestellt, dass Esskultur „nicht nur regionale, sondern auch personale, ethische, soziale, nationale und wirtschaftliche Räume umgrenzt.“ (Barlösius/Neumann/Teutenberg, 1997: 19). Der Philosoph Ferdinand Fellmann erklärt im darauffolgenden Aufsatz „Kulturelle und personale Identität“ warum Essen und Identität so eng miteinander verbunden sind: Zum einen sind beides Bedürfnisse, auf die der Mensch nicht verzichten kann. Andererseits wird das Essen einer Mahlzeit – im Unterschied zum tierischen Fressen – mit den benötigten Werkzeugen zur kulturellen Inszenierung und zu einer symbolische Form dessen, durch das der „Mensch in seiner sinnlich-körperlichen Tätigkeit [der Nahrungsaufnahme] die naturale Basis transzendiert und somit zu personaler Identität gelangt.“ (Ebd.: 36). Fellmann möchte in diesem Sinne den Satz Feuerbachs korrigiert wissen: Der Mensch ist, wie er isst, weil Essen für den Menschen Kultur voraussetzt. Im Brockhaus wird die ‚Esskultur‘ später – nachdem sie als Ergebnis eines langen historischen Prozesses erkannt wurde – ebenfalls als Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit umschrieben, der von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Ferner wird darauf hingewiesen, „dass das Essen eine Rolle für die Kommunikation und Identitätsbildung spielt und […]den Lebensstil in den Bereichen Familie, Politik und Wirtschaft widerspiegelt. (vgl. Königs, 2014: 52) Wir essen also einerseits um satt zu werden; die Lust nach dem Essen nimmt mit der Sättigung ab – „[d]ie darüber hinausgehende Lust an der symbolischen Form, der Genuss des kultivierten Feinschmeckers hört damit aber nicht auf, sondern wird eher noch gesteigert.“ (Fellmann, 1997: 35). Diese Erklärungen formulieren zwar, dass Essen sehr wohl als Zeichen bzw. als Ausdruck für etwas fungiert, aber sie entbehren der Frage nach den historischen und alltäglichen Prozessen, die solchen Phänomenen ebenfalls und in viel basalerer Form zugrunde liegen.
Zum Schluss noch einige Bemerkungen zum Identitätsbegriff: Identität ist zunächst kein konstanter oder einheitlicher Begriff, sondern variiert in seiner Definition seit seiner Einführung in die Lexika im frühen 19. Jahrhundert (vgl. Nicke, 2018). Identität definiert sich zunächst über die Begriffe Individualität, Kontinuität und Konsistenz. Ersteres meint die Herstellung und Darstellung von Einzigartigkeit, dem eine distinktive Rolle zukommt; Konsistenz meint die gültige Relation zwischen den Bestandteilen der Selbsterfahrung über verschiedene Situationen hinweg; Kontinuität meint schließlich die zeitliche Stabilität identitätsbildender Merkmale. Besonders wichtig für die folgende Arbeit scheint der Begriff der Ich-Identität zu sein, denn die damit verbundene Frage „Wer bin ich?“ liefert nicht nur Aufschluss über den Bewusstheitsgrad der eigenen Ich-Identität, sondern ist ebenso in der Lage das subjektiv empfundene Selbstbild mit den von außen wahrgenommenen und interpretierten Fremdbildern abzugleichen (vgl. Müller, 2009: 85ff.) – die keineswegs immer kongruent zueinander sein müssen. Identität ist kein fester Wesenskern, sondern wird durch unterschiedliche Faktoren wie Erfahrungen, Interaktion, Zugehörigkeit, etc. beeinflusst und verändert (Vgl. Nicke, 2018).
Normen und Regeln von Esskulturen
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches dazu in der Lage ist, über Essen zu reflektieren. Essen stellt ein symbolisches Handeln dar, das Bedeutung generiert und mit dem in besonderer Weise kommuniziert wird. Von Geburt an ist der Mensch auf die Hilfe der Gesellschaft bzw. auf kulturelle Artefakte angewiesen, um seine Nahrungsaufnahme zu gewährleisten. Diese Befriedigung und Reflektion darüber vollzieht er, je nach Kulturkreis und sozialer Stellung, auf unterschiedliche Weise und nach den ihn umgebenden Methoden und Regeln, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Der Nahrungsforscher Ulrich Tolksdorf fasst das folgendermaßen zusammen: „Es sind die Normen und Konventionen einer Gesellschaft, die bestimmen, was als Nahrungsmittel angesehen, was und wie bei welchem Anlass gegessen wird.“ (2001: 239) Solche Regeln sind nach unterschiedlichen Faktoren eingeteilt und dem Wandel der Zeit unterworfen. Diese können wirtschaftliche Voraussetzungen sein, sowie kulturelle Formen und Normen, Geschmack, Religionen oder Weltansichten. Karla Vesenmayer weist in ihrem Aufsatz zum Essverhalten der Deutschen (2012) darauf hin, dass Veränderungen in der Gewohnheit der Nahrungsmittelwahl auf Veränderungen der eben genannten Faktoren zurückzuführen sind. Sie weist zudem auf bestimmte Zubereitungstechniken hin:
„Diese kulturelle Technik besteht aus Komposition und einem Gewürzkomplex, die zusammengenommen die spezifische regionale Küche ausmachen. Grund für eine solch differenzierte Herausbildung sind traditionsbestimmte kulturelle Techniken. Sie sind so stark verankert, dass sogar von der Auswahl und Art der Zubereitung, oder sei es auch nur eines landesspezifischen Nahrungsmittels, Rückschlüsse auf eine bestimmte Kultur gezogen werden, die sich in oft negativ konnotierten und abwertenden Ausdrücken wie ‚Spaghetti-Fresser‘ oder ‚Krauts‘ (2012) widerspiegeln.“
Neben der Lebensmittelauswahl spielen selbstverständlich auch der Umgang mit Essen sowie Ess-Rhythmen eine tragende Rolle, auf die im weiteren Verlauf allerdings nicht weiter eingegangen werden kann. Nahrungsaufnahme stellt demnach Orientierung und Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen sicher. Die Wahrnehmung von bestimmten Individuen und Gruppen verläuft in öffentlichen Diskursen nicht selten über nationale Identitäten und Stereotype, weshalb nachfolgend Überlegungen zu Funktionen und den historischen Anfängen von Stereotypen aufgeführt werden sollen, um später ganz spezifisch nationale Identitätsnarrative nachzuvollziehen, die vor allem in Verbindung mit Lebensmitteln und Essgewohnheiten Zuschreibungen ganzer Nationen verhandeln sollen.
Identitätsfunktion von Stereotypen
„Griechen sind faul, „Polen klauen“, „Deutsche sind immer pünktlich“, diese Liste ließe sich weiter fortführen und erweckt den Eindruck, dass Stereotypen nicht nur populär, sondern äußerst langlebig sind; gleichermaßen sind Stereotype aus der Sprache der Politik oder Medien, also in der Sphäre der öffentlichen Kommunikation, nicht wegzudenken. Zu fragen ist deshalb, was Stereotype sind, wie sie funktionieren und welche Bedeutung sie in einer Gesellschaft einnehmen. Als sozialwissenschaftlicher Begriff taucht er erstmals in Walter Lippman‘s Buch Public opinion (1922) auf, wo er Stereotypen als „pictures in our head“ bezeichnet. Nach dem Historiker und Stereotypforscher Hans Henning Hahn werden Stereotype als
„verallgemeinerte Aussagen bezeichnet, die auf der einen Seite auf menschliche Gruppen oder auf Individuen als Mitglieder solcher Gruppen angewandt werden, und die andererseits als verallgemeinernde Aussagen positive oder negative, von starken Überzeugungen getragene Wertzuschreibungen darstellen. Diese Gruppen können unterschiedlich definiert werden – rassisch, ethnisch, national, sozial, politisch, religiös, konfessionell, nach Genderzugehörigkeit, sexueller Orientierung[…].“ (Hahn, 2017: 141)
Interessanterweise und im Vergleich zu normalen Verallgemeinerungen, stützen sich Stereotype weniger auf ihren Zusammenhang mit der Realität oder ihren tatsächlichen Informationsgehalt, sondern auf emotionale Faktoren, sodass „empirische Erfahrungen [oder kognitive Argumente] nicht in der Lage [sind], herrschende Stereotype zu widerlegen oder grundlegend zu verändern.“ (Ebd.: 142) Fragt man nach der Funktion von Stereotypen, so weist die Fachliteratur häufig auf die Orientierungsleistung hin, die sich auf zwei Ebenen abspielt: die sachbezogene Ebene schafft Orientierung in einer diffus erscheinenden Welt, was gleichzeitig zur Komplexreduktion führt. Die sozialbezogene Ebene schafft eine soziale Orientierung in dem Sinne, dass man Gemeinsamkeiten (oder Gegensätze) mit anderen feststellt und damit sich und seine Umwelt einordnet. Diese Unterscheidung zwischen eigen und fremd, also der Wir-Gruppe (Autostereotyp) und den ‚Anderen‘ (Heterostereotyp), lasse Rückschlüsse auf kollektive Identitätsvorstellungen einer Gesellschaft bzw. einer Gruppe zu (vgl. ebd.: 145). Interessant ist auch, wie Selbst- und Fremdbild zusammenhängen oder sich teilweise bedingen. Hahn stellt dafür folgende Regel auf: „Fast jedes Mal, wenn ein negatives Heterostereotyp benutzt wird, wird gleichzeitig das positive Autostereotyp mitgedacht.“ (Ebd.: 145) Der Krakauer Ethnologe Andrzej Mirga geht noch ein Stück weiter, indem er sagt:
„Das Heterostereotyp verweist uns jeden Mal explizit oder implizit auf das Autostereotyp. Man darf die Behauptung wagen, dass es für eine Gruppe [so] wichtig [ist], sich selbst zu definieren, dass das Heterostereotyp hingegen der Vorwand und die Form ist, um das Autostereotyp zu explizieren.“ (zit. n. ebd.: 146)
Das bedeutet, dass versteckt hinter der komparativen Funktion von Stereotypen sie gleichzeitig „immer auf die Identität derjenigen Personen [verweisen], die dieses oder jedes Stereotyp zum Ausdruck bringt, bzw. zur Identität der Gruppe, in der diese Stereotype funktionieren. Stereotype haben also eine deutliche Funktion für die Konstruktion kollektiver Identitäten [und Alterität]. Über Autostereotype und Heterostereotypen bringen wir absichtlich oder meinst unabsichtlich die Inhalte unserer Identität zum Ausdruck[...].“ (Hahn, 2016: 146)
Auch Stereotype sind also keine stabilen Größen, sie können vielmehr u.a. durch Konflikte produziert, vermehrt oder verschärft werden. In einer friedlichen Umgebung hingegen sind sie weniger stark wahrnehmbar. Verändern sich Identitäten, so auch Stereotype, denn „Identität findet ihren Ausdruck in Stereotypen, gleichzeitig sind Stereotype Emanationen von Identität,“ (Hahn, 2017: 150). Ausgeschlossen scheint allerdings die Tatsache, dass sich Stereotype eliminieren lassen, stattdessen lassen sich ihre Rolle, Funktion und Genese, sowie ihr Missbrauch und ihre Verflechtungen erforschen und demnach ihre Wirkung kalkulierbar machen (vgl. Hahn, 2007: 11).
Nationale Stereotype: Anfänge bis heute
Trotz vielerlei Arten wie religiösen, beruflichen, Alters-, oder geschlechtlichen Stereotypisierungen, finden die meisten Wertzuschreibungen in Bezug auf Nationen statt (vgl. Hahn 2016: 140). Allerdings müssen wir einen Schritt zurückgehen und danach fragen, was im Besonderen nationale Stereotype sind und wie sie generiert werden. Der Politikwissenschaftler Hans Manfred Bock sagt, dass eine komplexe Beziehung besteht, zwischen dem, was die (dominante) Selbstauffassung einer Nation angeht und der Wahrnehmung, die in der Öffentlichkeit über sie herrscht (vgl. 2000: 11). Er bezeichnet die Kategorie ‚nationale Identität‘ als eine „politisch-intellektuelle Projektion“, um eine vorgestellte Wirklichkeit, nicht jedoch um einen naturgegebenen Sachverhalt oder eine ‚vorgegebene‘ Wirklichkeit. Die Nation wird als die wichtigste Gruppe, der unbedingt die stärkste Loyalität gebührt, propagiert, und soll gleichzeitig nach innen integrieren und nach außen abgrenzen (vgl. ebd.: 11).
Die Herkunft nationaler Stereotype ist wahrscheinlich schon in der Antike auszumachen, als die sogenannte Humoralpathologie als damals herrschendes Medizinkonzept zur sogenannten Temperamentenlehre zu einer Art Persönlichkeitsmodell ausgeweitet wurde. Den Flüssigkeiten des Körpers wurde je ein Temperament zuordnet. Je nach Überschuss einer der vier Flüssigkeiten (rotes Blut macht den Sanguiniker heißblütig, weißer Schleim den Phlegmatiker schwerfällig, schwarze Gallenflüssigkeit den Melancholiker nachdenklich und die gelbe Gallenflüssigkeit macht den Choleriker reizbar) trat das damit verbundene Temperament besonders hervor (vgl. Boerner, 2015: 8f.). Nach der Historikerin Ulrike Paul sind die ersten Nationalstereotypen in humanistischen Thesauri zu finden, also in Listen von Begriffen, in den nachzulesen ist, wie z.B. Germanen, Engländer oder Franzosen in der Literatur üblicherweise beschrieben werden. Als sich im Zeitalter der Aufklärung der Anspruch einstellte, Wissen und Neuentdeckungen klassenübergreifend weiterzugeben, wurden Enzyklopädien nicht mehr auf Latein geschrieben, sondern in der jeweiligen Nationalsprache (vgl. Korsukéwitz, 2006), sodass Verallgemeinerungen einen ersten und geeigneten Nährboden für Stereotype fanden:
„Wenn jemand auf eine bestimmte Käuferschicht oder Leserschicht spekuliert, antwortet er im Vorhinein auf dessen Interessen. Das heißt, man antizipiert, was der wohl lesen wollen wird. Man will ihn unterhalten und belehren gleichermaßen und das ist das Besondere an diesem Medium und da eben spielen die nationalen Stereotypen als etwas Spezifisches und auch Komik transportierendes eine ganz besondere Rolle.“ (Paul zit. n. Korsukéwitz, 2006)
Hans Henning Hahn führt als Beispiel eine zwischen 1720 und 1730 entstandene Völkertafel aus Österreich an, in der insgesamt zehn Nationen kollektiv zugeschriebene – offensichtlich rein oberflächliche – Charaktereigenschaften zugeordnet werden (vgl. Hahn, 2016: 139). Er geht davon aus, dass es sich dabei um die ersten vergleichenden Quellen von nationalen Stereotypen handelt. Mit der Entstehung der Idee vom Nationalstaat, die in der Französischen Revolution ihren Ursprung findet, werden nationale Bestrebungen virulent in dem Maße, dass Ideen oder Moden anderer Nationen abzulehnen sind – als erste bewusste Abgrenzungsmechanismen. Mit den Befreiungskriegen, mit denen die französische Vorherrschaft in Mitteleuropa beendet wurde, entwickelte sich eine neue Sicht auf die eigene Nation und fand ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus. „Und so wurde aus dem amüsanten, kuriosen Anderen, das feindliche Andere.“ (Paul zit. n. Korsukéwitz, 2006) Auch Hahn/Hahn stellen das 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen, weil dieser Zeitraum „einen qualitativen Sprung dar[stelle], was den Gebrauch, die Verbreitung, die Rolle und Wirksamkeit von Stereotypen angehe.“ (Hahn/Hahn 2002: 52) Insbesondere betont er die zunehmend intensive öffentliche Kommunikation in Form der Presse:
„Seitdem es Massenpresse gibt, versuchen Politiker, sich ihrer zu bedienen; seitdem Politiker der Massen bedürfen, um eine führende Stellung einzunehmen oder zu behalten, benutzen sie in zunehmenden Maße Stereotypen. Historisch gesehen bedeutet also der Demokratisierungsprozess der europäischen Gesellschaften und wohl ebenfalls in der übrigen Welt auch ein Anwachsen des öffentlichen Gebrauchs von Stereotypen.“ (Ebd.: 52)
Neben der Kommunikationsverdichtung sprechen Hahn/Hahn von der oben angeführten Ausbreitung der Idee vom souveränen Nationalstaat, wobei die Nation als die bestimmende Sozialgruppe innerhalb aller sozialen Schichten gesehen wurde (vgl. ebd.). Als dritter Faktor wird das zunehmend agonale Verhältnis internationaler Beziehungen genannt, welches auf die „mächtepolitische Spaltung in konstitutionelle Westmächte und neoabsolutistische Ostmächte (ebd.: 52f.)“ beruhte. Die sozialen Funktionen nationaler Identitätszuschreibungen sind demnach – und dabei muss die Relation von Auto- und Heterostereotypen stets mitgedacht werden – Menschen in die eigene Gruppe zu integrieren oder auszugrenzen (vgl. ebd.: 34), denn sie strukturieren die Zugehörigkeit innerhalb der Gemeinde aber auch die der Außenwelt im Allgemeinen. Das impliziert auch, dass Werte, Anschauungen, Eigenschaften von Gruppen verglichen und abgeglichen werden können, um Gemeinsamkeiten zu schaffen oder Verschiedenheit auszudrücken. Stereotype können deshalb zur Diskriminierung angewendet werden, weil ihnen die Möglichkeit eigen ist, Menschen zu mobilisieren und zwar in dem Sinne, dass xenophobe Stimmungen unter anderem durch schon vorhandene Stereotype mithilfe von Einteilungen von Lagern mit sogenannten Feindbildern weiter angeheizt werden (ebd.: 42). Nationale Identitäten und Stereotype haben demnach gemeinsam, dass sie Komplexes vereinfachen und ein limitiertes und homogenes Narrativ verfolgen. Es sind starke mentale Konstrukte, die sich historisch herausgebildet haben und das Potential besitzen imaginierte Verbundenheit zu evozieren und dabei gleichzeitig Menschen und Gruppen, die andere Überzeugungen, Verhaltensnormen, Sprachen oder Religion pflegen, auszuschließen.
Konstruktion von Stereotypen mithilfe von Lebensmitteln
Trotz der Tatsache, dass verschiedene Narrative und Werte zur nationalen Identität eines Landes beitragen, muss das Essen als eine der Hauptkomponenten angesehen werden, denn nach dem Historiker Roman Sandgruber schafft Essen Identität und Kontinuität: „Es schafft ein Zugehörigkeits- und Heimatbewusstsein. Der Einzelne ist an sein Essen gewöhnt. Es kommt zu Gruppenidentitäten.“ (1997: 180) Er beschreibt am Beispiel von Österreich das Zusammenwirken von Nationalspeisen und Identitätsbildung und fragt, ob die österreichische Küche als identitätsstiftendes Merkmal überhaupt existiert. Als die einflussreichsten Akteure der Mythenbildung um nationale Speisen und um das, was als ‚typisch österreichisch‘ bezeichnet wird, nennt Sangbruder das Tourismusmarketing und die Lebensmittelwerbung, welche insbesondere Heimatkomponenten wie Naturnähe und Heimat- und Volksverbundenheit evozieren (vgl. ebd.: 180-183). Stattdessen spiele im realen Alltagsleben der Österreicher (darunter Haushalt, Restaurant, Kantinen) viel mehr das Regionale als das Nationale eine wichtige Rolle, es gehe um typische Landesgerichte einzelner Bundesländer als entscheidende Identitätsmerkmale statt einer „diffuse[n] österreichischen Allerweltsküche.“ (Ebd.: 180)
Erfindung von Tradition
„[D]ie Schärfe des Gulasch habe Ungarn, […], die Spaghetti Italien, die Paella Spanien, der Eintopf die Deutschen, das Fondue die Schweizer [...]geprägt.“ (Sandgruber, 1997: 183) Diese Liste von Zugehörigkeiten verweist auf die Vorstellung, bestimmte Speisen können das Temperament und den Volkscharakter bestimmen. Ebenso kursieren zahlreiche Bezeichnungen nationaler Stereotypen, die Sandgruber zunächst als ‚Symbole und Antisymbole‘ bezeichnet:
„Die Küche ist ein feines Sensorium für Identitäten und ein grober Klotz um sich abzugrenzen: „‘Spaghetti- und Makkaronifresser‘, oder ‚Polentaschlucker‘ für Italiener, ‚Kaskoppen‘, wie Deutsche die Holländer bedenken, ‚Sauerkrautindianer‘ als Name für die Deutschen in den USA und ‚Marmeladinger‘, die Bezeichnung für Reichsdeutsche in der Zeit des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich: ‚Gulaschkanonen‘, ‚Kartoffelpuffer‘, ‚Tunke‘, in solchen Worten kanalisierte sich nationale Antipathie.“ (Ebd.: 183)
Am Beispiel der italienischen ‚Makkaroni-Esser‘ in der Schweiz erklärt der Historiker Jakob Tanner anschaulich, wie das Zustandekommen dieser Stereotype mit der Erfindung von Tradition zusammenhängt. Er zieht eine Verbindungslinie zwischen der Industrialisierung und den daraus resultierenden Migrationsbewegungen, die im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Wachstum zu beobachten waren, sowie dem Ordnungsgefüge der italienischen Esskultur (Tanner 1997: 495). Die Makkaroni, die semantisch wohl seit dem 18. Jahrhundert mit Neapel und seiner neapolitanischen Bevölkerung verknüpft sind, wird im Zuge der Einwanderung der Italiener in die Schweiz, vor allem ab den 1880er Jahren, zum strukturierenden Element gegenseitiger Wahrnehmung (ebd.: 476-480). Gründe dafür liegen nach Tanner in der geringen Integration der sogenannten ‚Italienerquartiere‘ in die städtische oder ländliche schweizerische Gesellschaft:
„Die Italiener lebten zusammen – meist auf so engem Wohnraum, dass Straßen und Plätze in piazzas umfunktioniert und zu beliebten, stark frequentierten Aufenthaltsorten wurden. Diese räumlichen Verdichtungszonen bildeten einen Anziehungspunkt für weitere Landsleute: Lebensmittelhändler, Restaurants, Pensionen, Friseure usw. boten eine Breite von Dienstleistungen an, die ein Gefühl von ‚Heimat‘ vermitteln konnten.“ (Ebd.: 485)
Diese Quartiere wurden immer wieder mit den Ernährungssitten ihrer Bewohner in Zusammenhang gebracht. Das sogenannte core food (nach dem Sozialanthropologen Sidney Mintz der Hauptlieferant von Kohlenhydraten) war in Norditalien vor allem der Mais; im Vergleich dazu, waren im Süden – weil der Maisanbau wegen natürlicher Ursachen beschränkt war – die Makkaroni die Hauptmahlzeit; sie boten sich als abwertende Sammelbezeichnung an (vgl. ebd.: 486):
„Die maccheroni-Kultur [sic!] der Arbeitsimmigranten aus dem südlichen Nachbarland galt in der Schweiz als etwas ‚Fremdländisches‘; sie fungierte als Distinktionsmittel, das es ermöglichte, eine ethnische Grenze zu markieren. Die Identifizierung von Menschen mit ihrer Hauptspeise erwies sich dabei als wirksames Verfahren soziokultureller Stereotypisierung.“ (Ebd.: 488f.)
In der Delokalisierung von Ernährungsgewohnheiten wird die Traditionen (neu) geschaffen, meint Tanner und zwar in dem Sinne, dass die Menschen in einer neuen Umgebung nicht etwas anderes oder Neues tun, sondern
„sie geben vielmehr dem, was sie schon immer getan haben, eine neue Wertschätzung und Bedeutung. In diesem Sinne ist Kontinuität, das ‚Gewohnte‘ gerade das Gegenteil von dem, was es einmal war: Ging es im Herkunftsland um ein Sich-Anpassen an die dominierende Kultur, um soziale Integration, so wird über das Festhalten am Überlieferten in einer veränderten Umgebung gerade ein Unterschied, ein Abstand, eine soziokulturelle Distanz konstituiert .“ (Ebd.: 497).
Die Ursprünge liegen also zum einen im Industrialisierungsprozess, der soziale Strukturen und Menschen in Bewegung bringt, zum anderen in der „esskulturellen Kontinuität“, im der sich Menschen ihre Kultur immer wieder aufs Neue aneignen. Aus Handlungsroutinen werden Traditionen und Tanner deutet an, wie Essen und Identität im Sinne einer esskulturellen Identitätsbildung miteinander verzahnt sind:
„Durch die erneute Aneignung des Gewohnten unter veränderten, verunsichernden Bedingungen gilt es, noch einmal den Lernprozess der normativen Daseinsgestaltung zu durchlaufen […], d.h. Eine Re-Sozialisierung […]. Daraus ergeben sich auch Mythen im Sinne von immer wieder wiederholten sinnstiftenden Erzählungen, mit denen sich […] ganze Gesellschaften in einem kulturellen Universum verorten.“ (Ebd.: 496f.)
Letztlich sei noch erwähnt, dass Stereotypisierungen in beiden Richtungen funktionieren, sowohl als Autostereotype (Selbstzuschreibung), als auch als Heterostereotype. Die ‚Makkaroni‘ ermöglichen demnach einerseits ein intensives Identifikationserlebnis und sind vor dem Hintergrund der Migrationsbewegungen ein Symbol, das Gruppenkohäsion und Heimatgefühle evoziert (vgl. ebd.: 474f.). Gleichzeitig bieten sie, als das offensichtlich ‚Andere‘, was sich insbesondere in der täglichen Essgewohnheit niederschlägt, eine Projektionsfläche, um andere nationale Identitäten zu identifizieren und je nach Situation auch abzuwerten.
„(Deutsche) Kartoffeln“ im historischen und öffentlichen Diskurs
Vor knapp 10 Jahren (2010) hat die damalige Familienministerin Kristina Schröder eine zunehmende Aggression gegen Deutsche ausgemacht, deren Dreh- und Angelpunkt die Beschimpfung „deutsche Kartoffel“ war, die sie nicht nur als ‚Deutschenfeindlichkeit‘ bezeichnete. sondern auch forderte, kriminelle, integrationsunwillige Jugendliche – von denen diese Zuschreibung ausginge – auszuweisen (vgl. Schmoll, 2010). Vor allem im Internet kursierten Presseartikel, die diskutierten, ob die Debatte um Beleidigungen gegen Deutsche nun Rassismus sei oder nicht (vgl. Hobrack, 2018) oder solche, die fragten, was denn so schlimm sei an diesem Ausdruck (vgl. Kemper, 2016). In ihrer taz-Kolumne ‚Habibitus‘ greift die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah gerne und regelmäßig selbst zur ‚Kartoffel‘-Bezeichnung, nicht nur um sich selbst oder ihre deutschen Mitbürger_innen (humorvoll) vorzuführen, sondern auch den Lesern anschaulich zu machen, wie (schädlich) Stereotype wirken und welche Risiken sie bergen: In einem ihrer Artikel „Deutsche schafft euch ab!“ (in Anlehnung an Sarrazin‘s Buch Deutschland schafft sich ab, 2010) bescheinigt sie ‚deutschen Kartoffeln‘ Ignoranz, Kleinlichkeit und Geschichtsverdrossenheit, nachdem diese in einer Online-Umfrage gegen einen muslimischen Feiertag stimmten: „Kartoffeln würden lieber auf einen freien Tag verzichten, als Muslim_innen einmal was zu gönnen.“ (2017) Während zum einen die Qualitäten von Kartoffeln gelobt werden,
„Sie ist anpassungsfähig: Von den Anden aus hat sie es in die ganze Welt geschafft […] und egal wo sie hinkam, […] hatte man das Gefühl, sie habe immer schon dazugehört. Sie ist nicht eitel, es ist ihr egal, wie sie aussieht, sie überzeugt eher inhaltlich. Sie galt lange nicht als besonders cool, sondern wurde eher aus pragmatischen Gründen geschätzt, weil sie die Fähigkeiten hatte, die man halt benötigte – erst jetzt, wo wir sie nicht mehr zum Überleben brauchen, beginnen wir sie zu mögen.“ (Kemper, 2016)
beschwören die anderen eine Diskriminierung gegen Deutsche herauf, wie z.B. der AfD-Abgeordnete Jens Meier, der dafür plädierte, den Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches gegen Volksverhetzung ausdrücklich auch auf Diskriminierungen des deutschen Volkes anzupassen (vgl. Kremplewski, 2016). Die Kartoffel-Zuschreibung findet allerdings nicht nur im Internet oder auf dem Schulhof statt. Die Autorin und Kolumnistin Asli Sevindim schreibt in ihrem autobiographisch anmutenden Roman Candlelight Döner (2005) über alltägliche deutsch-türkische Befindlichkeiten und darüber, wie sie als älteste Tochter türkischer Einwanderer eines Tages ihren deutschen und zukünftigen Ehemann nach Hause bringt:
„[…]denn ich hatte mir Stefan ausgesucht. Eine Kartoffel. So nennen wir Türken manchmal deutsche Erdenbewohner. Weil sie – ganz einfach – ziemlich viele Kartoffeln essen. Manche heißblütigen Türken und Türkinnen wollen damit auch zum Ausdruck bringen, dass Deutsche ungefähr genauso aufregend und sexy sind wie Kartoffeln, nämlich gar nicht. Aber meine Kartoffel ist ganz anders. Knackig, knusprig, würzig.“ (2005: 8f).
Was in diesem Beispiel eher liebevoll anklingt und bereits vorwegnimmt, dass die Bezeichnung ‚Kartoffel‘ in beide Richtungen, also als eine Art Kippfigur funktioniert, wird an anderen Stellen oder auf der Internet-Plattform www.bedeutungonline.de (Stichwort: ‚Deutsche Kartoffel‘) in negativ interpretiert. Demnach meint die Bezeichnung ‚Deutsche Kartoffel‘ eine Beleidigung bzw. Beschimpfung, mit dem Deutsche, insbesondere von Menschen mit Migrationshintergrund herabgesetzt werden sollen. Wie auch Sevindim begründet der Artikel die Interpretation mit der Tatsache, dass Deutsche zum einen viele Kartoffeln essen, zum anderen in allerlei Variationen, z.B. als Pell-, Brat-, Salzkartoffel, Kartoffelbrei, -salat, -klöse oder -puffer. Dem Kulturwissenschaftler und Restaurantkritiker Peter Peter zufolge habe sich das „Vaterland allerhand einfallen lassen, um die Monotonie täglichen Kartoffelkonsums einigermaßen zu lindern.“ (2008: 212)
Wie also ist die Linie zu ziehen zwischen einer harmlos und humorvoll gemeinten Verallgemeinerung auf der einen und einer beleidigenden oder sogar rassistischen Äußerung auf der anderen Seite. Aber kehren wir zurück zur Eingangsfrage: Wie und weshalb verkörpert ausgerechnet ein spezielles Nahrungsmittel eine Vertrautheit oder die Andersartigkeit eines Landes? Oder anders ausgedrückt: Warum ist die Kartoffel geeignet eine nationale Identität zu zum Ausdruck zu bringen? Um diese Frage beantworten zu können, muss die Rolle der Kartoffel in Deutschland historisch betrachtet werden.
Die Rolle der Kartoffel in Deutschland
Was bedeutet die Kartoffel in unserer Gesellschaft bzw. für unsere Identität? Gibt es ähnliche Narrative wie beim italienischen ‚Makkaroni-Esser‘ auch für die ‚deutsche Kartoffel‘? Was soll mit dieser Bezeichnung ausdrückt werden? Dafür ist zu untersuchen, was unter der deutschen Nationalküche zu verstehen ist und wie diese mit den tatsächlichen Essgewohnheiten der Deutschen in Verbindung steht.
Eine kleine Kulturgeschichte der Kartoffel
Der Ursprung der Kartoffel liegt in den südamerikanischen Anden, die dort wahrscheinlich schon seit 8000 Jahren in kargen Hochebenen und in den Bergen angebaut wird (vgl. Krichmayr, 2018). Durch die Eroberung des Inka-Reichs durch die Spanier setzte die Migration der Kartoffel über die Seewege nach Europa ein, wobei der Durchbruch noch zwei Jahrhunderte dauern sollte; zu groß war die Skepsis und das Misstrauen, die Kartoffel würde Krankheiten begünstigen und mit dem Teufel in Verbindung stehen, weil sie unter der Ende wächst (vgl. Krichmayr, 2018).
Wie die Kartoffel den Sprung in die deutsche Alltagsküche geschafft hat (zuvor war sie aufgrund ihrer violetten Blüten eher als exotische Zierpflanze in botanischen Gärten gehalten worden), beschreibt Ursula Heinzelmann in ihrem Buch Was i(s)st Deutschland anhand von historischen Tatsachen aus dem 18. Jahrhundert: Zum einen wuchs die deutsche Bevölkerung und die Anzahl von Heimarbeitern nahm zu, zum anderen gab es drastische Preissteigerungen beim Getreide. Die darüber hinaus herrschende Brotknappheit und die dadurch ausgelösten Hungersnöte waren eine katastrophale Folge von Kriegen. Der Preußenkönig Friedrich II. hielt deshalb die Bauern zum Kartoffelanbau an, indem er Saatkartoffeln verteilen ließ. Die anfängliche Skepsis überwand er mit einer List, indem er die Kartoffelernte bewachen ließ, um ihren Wert zu suggerieren Krichmayr fasst die Erfolgsgeschichte der Kartoffeln folgendermaßen zusammen:
„Fest steht, dass die Kartoffel in Kriegs- und Notzeiten die Grundversorgung der europäischen Bevölkerung garantierte und so immer weiter akzeptiert und assimiliert wurde. Vom anfangs exotischen Gewächs wurde sie zum Arme-Leute-Essen, um schließlich die Teller aller Schichten zu erobern.“ (Heinzelmann 2016: 161f.)
Sie merkt weiterhin an, dass ihre Verbreitung am größten war, als sich im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten bildeten, sodass hier der Grund liegen muss, weshalb die Kartoffel in mehreren Ländern Europas einer derartig wichtige Rolle einnimmt. Im Kontext der nationalen Unterschiede wird des Öfteren der deutsche Kunsthistoriker Karl Friedrich von Rumohr und sein Buch Geist der Kochkunst (1822) erwähnt: weil er die französische Küche ablehnte, war Romohr Verfechter einer einfachen, deutschen, bodenständigen Alltagsküche bzw. der sogenannten Hausmannskost, die der überfeinen, adeligen französischen Küche vorzuziehen sei (vgl. Heinzelmann, 2016: 196). In der Malerei haben Kartoffeln bei Van Gogh in dieser Periode als Motiv Eingang gefunden, um das einfache Leben von Bauern zu beschreiben (vgl. Die Kartoffelesser von Van Gogh, 1885).
Zu Zeiten des 1. Weltkrieges waren Kartoffeln das einzige Lebensmittel, das annähernd auf Vorkriegsniveau zur Verfügung stand (vgl. Heinzelmann, 2016: 267) und auch zur Zeit des Nationalsozialismus gab es Anstrengungen, den privaten Konsum von bestimmten Lebensmitteln zu steuern: So gab die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Jahr 1937 sogenannte Reichsspeisekarten heraus, „die die empfohlenen Lebensmittel saisonal auflistete und zum Verzehr von mehr Kartoffeln, Quark, fettarmen Käse […] anhielt.“ (Heinzelmann, 2016: 285)
Aus den Ergebnissen der nationalen Verzehrstudie des Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Zusammenarbeit mit dem Max-Rubner-Institut lässt sich noch heute, z.B. für das Jahr 2008, ableiten, dass Kartoffeln zu den typischen deutschen Grundnahrungsmitteln zählen (vgl. Nationale Verzehrstudie, 2008: 34) Gleichzeitig geht aus der Studie hervor, dass Nahrungsgewohnheiten und die Wahl bestimmter Lebensmitteln enorm von Alter, Geschlecht, sozialem Status und Region abhängen; d.h. je älter die befragten Personen sind, desto mehr Kartoffeln essen sie. Weiter heißt es, dass der pro Kopf-Verbrauch von Kartoffeln seit den 60er Jahren rückläufig ist und so z.B. in Ländern wie Lettland und Polen viel mehr Kartoffeln gegessen werden als in Deutschland (vgl. Goethe-Institut, 2013). Als Gründe werden die tendenziell schlechten Konnotationen mit der Kartoffel genannt – sie sei ‚traditionell, altmodisch und dickmachend‘ (vgl. Vesenmayer, 2012). Die Kartoffel nimmt in Deutschland zwar immer noch eine wichtige Rolle ein, aber ihre einzigartige Bedeutung nimmt im Zuge des Globalisierungsprozesses und der daraus resultierenden Vermischung von Esskulturen tendenziell ab (vgl. Heinzelmann, 2016: 286). Dass die Deutschen ausschließlich Kartoffeln essen, ist demnach ein Mythos, der sich über die Zuschreibung ‚deutsche Kartoffel‘ fortdauernd reproduziert.
Eine Deutsche Nationalküche?
Gibt es eine deutsche Nationalküche bzw. die ‚typisch deutsche‘ Küche mit Kartoffeln als Hauptakteuren? Uwe Spiekermann beschreibt in seinem Buch über europäische Küchen den Begriff der nationalen Küche folgendermaßen: „Nationale Küchen sind in der Regel Konstrukte, die ihre Grundlage im Zeitalter der Nationalstaaten, also zumeist im 19. Jahrhundert haben. Diese Konstrukte halfen, die vielfältigen regionalen Küchen zu bündeln und nach außen, dem Fremden gegenüber, ein mehr oder minder einheitliches Bild aufzubauen.“ (2000: 43)
Die Soziologin Eva Barlösius hat in ihrem Buch Soziologie des Essens, wie auch Sandgruber, festgestellt, dass Nationalgerichte prinzipiell stereotypisierte Speisen sind, die wenig mit der alltäglichen Realität des Essens gemein haben. Auf diese Weise lasse sich ein Nationalgefühl erzeugen, das in Abgrenzung zu anderen Nationen als „ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit“ fungiert oder von außen betrachtet zur abschätzigen Kennzeichnung einer anderen Nation eingesetzt werden kann: „Die Küche ist dann nur Material, um distanzierte Fremdbilder zu erzeugen.“ (Barlösius, 1999:148) Die Nationalküche Deutschlands gibt es nicht, sie teilt sich stattdessen in Regionalküchen auf, wobei es vor allem eine Unterscheidung zwischen der nord- und süddeutschen Küche gibt (vgl. ebd.: 147). „Wer Döner ißt, meint etwas Türkisches zu essen, wer in die Pizza beißt, glaubt sich Italien nahe.“ (Ebd.: 160).“ Kartoffeln werden, wie wir gesehen haben, eben dazu genutzt um Menschen (i.d.F.) aus Deutschland zu kennzeichnen oder ein Selbstbild zu kreieren. Dabei werden die ursprünglichen Narrative nicht mitgedacht, sodass die Bedeutung von Speisen reduziert und zum zentralen Kennzeichen eines Landes erklärt werden. Bestimmte regionale Markenzeichen, wie z.B. das bayrische Bier, erfreuen sich außerhalb Deutschlands ebenso großer Beliebtheit, was, wie schon Sandgruber konstatierte, gut geführten Marketing-Strategien geschuldet ist, die Regionalität als ein nationales Markenzeichen verkaufen. In der Wahrnehmung des Konsumenten wird das Regionale dadurch mit dem Nationalen verwechselt. Barlösius spricht in diesem Zusammenhang von ‚kulinarischer Stereotypenbildung‘ (vgl. ebd.: 162). „Was die Ausländer als ‚deutsche Küche‘ verstehen, ist somit ein artifizielles, vom Marketing beeinflusstes Konstrukt, das sich über die Landesgrenze hinweg auf vereinfachende Weise mit Deutschland in Verbindung bringen lässt und dabei die regionale Eingliederung der Gerichte vernachlässigt.“ (Vesenmayer, 2012)
„Ich/Du deutsche Kartoffel“: Zugehörigkeit und Ausgrenzung
Die kulinarische Stereotypisierung anhand der Kartoffel findet allerdings weniger in der Vermarktung von etwas ‚typisch Deutschem‘ statt, als in der sprachlichen Zuschreibung und Verallgemeinerung. Wann genau diese Bezeichnung in die Alltagssprache gefunden hat, kann nicht eindeutig belegt werden. Unter dem Schlüsselbegriff ‚Kulturgeschichte der Kartoffel‘ findet sich bei Wikipedia unter dem Punkt ‚Kartoffel im gesellschaftlichen Diskurs‘ der Vermerk, dass die „Kartoffel“ […] seit Anfang der 2000er Jahre zumeist von migrantischen Jugendlichen als Schimpfwort gegen vermeintlich Deutsche verwendet“ wird. Nach der Journalistin Cigdem Toprak könnte der Begriff aber schon länger in Verwendung sein. In ihrem Artikel, in dem sie sich mit Rassismus und Sprache auseinandersetzt, schreibt sie:
„Das Wort war in Deutschland in den migrantischen Milieus verbreitet, so lange ich denken kann. […] „Kartoffel“ ist vielmehr eine Bezeichnung für alles, was vermeintlich so negativ am Deutschsein ist: Geiz und Herzlosigkeit zum Beispiel. Oder wenn die Deutschen nicht ihr Pausenbrot mit uns teilen wollten. Oder wenn sie gegen ihre Eltern zu stark rebellierten.“ (2018)
Die Zuschreibung betrifft in diesem Fall Charaktereigenschaften: Deutsch-Sein bedeutet hier geizig und herzlos zu sein, gegen die Eltern zu rebellieren und somit impliziert das Gegenteil von dem, was ‚Nicht-Kartoffeln‘ beschreibt: Eine Kultur des Teilens, Temperament und starke Familienstrukturen. „[D]ie „Kartoffel“ als ironische Umdeutung verstanden zu wissen, als geradezu liebevoll neckende Bezeichnung unter eigentlichen Freunden, lässt Toprak nicht gelten, denn für sie ist es ein Begriff um sich abzugrenzen. Die Kartoffel wird als Negativauszeichnung, als rassistischer Begriff verstanden, den sie nicht mehr nutzen möchte (2018):
„Rassismus basiert auf Stereotypen. Und ‚Kartoffel‘ ist ein Stereotyp. Es bezeichnet den unbeholfenen, naiven und weltfremden Deutschen ohne Werte, ohne Haltung, ohne Ehre. Rassismus etabliert immer eine Hierarchie: Das „wir“ fühlt sich den „anderen“ überlegen. Auch das trifft auf den Begriff ‚Kartoffel‘ zu. Ich spreche aus Erfahrung. Ich habe das Wort selbst lange verwendet.“
Interessanterweise bezieht sich diese Beschreibung ebenso auf den Charakter, aber meint doch etwas anderes als im vorangehenden Beispiel. Ganz anders sieht die Perspektive von Autor Johann Voigt aus, der für seinen Artikel „Das Wort ‚Alman‘ ist nicht deutschenfeindlich, … sondern ein Mittel zur Selbstermächtigung von Migranten und ein guter Witz noch dazu“ auch den Kartoffel-Begriff untersucht und dafür Cihan Sinanoğlu, einen Mitarbeiter des Vereins „Türkische Gemeinde in Deutschland“, zu Wort kommen lässt. Für diesen ist der Kontext entscheidend: Sicher gebe es Momente, in denen deutsche Kinder mit Worten wie „Kartoffel“ oder „Alman“ ausgegrenzt werden.
„Wichtig ist es [...]aber, daneben auf die anderen Bedeutungen des Wortes zu schauen. Es geht für Menschen mit Migrationshintergrund um Zugehörigkeit, darum, die eigene Identität zu stärken. Abgrenzung gegenüber einer Gruppe ist eben immer eine Möglichkeit, sich der anderen Gruppe zugehörig zu fühlen. Außerdem sei der Begriff als etwas Ironisches in die Alltagssprache eingeflossen.“ (Zit. n. Voigt, 2018)
Ein Problem sei diese ironische Verwendung nicht. Man diskreditiere sich ja auf eine spaßige Art. So auch der Autor Mathias Lohr, der in dem Begriff vor allem eine „scherzhafte Selbstzuschreibung“ sieht, die vermehrt in Sportvereinen und Schulhöfen gebraucht wird. Der Politikwissenschaftler Maximilian Pichl erläutert in seinem Aufsatz über kritische Denkanstöße zur damaligen Integrationsdebatte und in Bezug auf Kristina Schröders o.g. Äußerungen, dass die argumentierte Deutschenfeindlichkeit die eigentlichen Machtverhältnisse verkenne. Derartige Zuschreibungen seien nicht nach Kulturen einzuordnen, sondern grundsätzlich auf soziale Umstände zurückzuführen, ganz gleich welcher Herkunft (vgl. 2010: 10).
Unter welchen Umständen die ‚deutsche Kartoffel‘ detailliert Eingang in die Alltagssprache von Jugendlichen gefunden hat, kann nicht eindeutig nachgezeichnet werden, allerdings gibt es Hinweise aus dem Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften, die zumindest teilweise Auskunft darüber geben: In seiner Arbeit zu gesellschaftlichen Stereotypen über Migranten in Deutschland beschreibt Nikolai Alber verschiedene Situationen des Umgangs mit stereotypisierenden Zuschreibungen. Einer seiner Gesprächspartner, Onur, der selbst Opfer von beleidigenden Zuschreibungen geworden war, beschreibt eine der Möglichkeiten mit Stereotypisierungen umzugehen: nämlich die, sich aktiv zu wehren, und zwar mit einer Art Gegenwitz: „[M]an hat sich das schon manchmal zu Herzen genommen als man jünger war, aber irgendwann habe ich dann angefangen, Gegenscherze zu machen. Also [...]Kartoffel oder so, geh mal Kartoffelbrei essen’ [...] obwohl ich selber Kartoffelbrei mag.“ (zit. n. Alber, 2012: 22)
Ähnlich wie der pseudowissenschaftliche Eintrag bei ‚Bedeutung-Online‘, der vorschlägt, die Zuschreibung über das Lebensmittel als eine Reaktion auf die Ausdrücke wie ‚Kümmeltürke‘ oder ‚Spaghettifresser‘ zu sehen, beschreibt auch Alber einen Prozess, bei dem die Zuschreibung umgedreht und umgedeutet wird: „Indem er dem ‚Deutschen’ sagt, er solle (‚typisch deutsch’) Kartoffelbrei essen, nutzt er diesen Mechanismus, um sich zu wehren. Damit wird die zuvor ihm zugestandene Zuschreibung ‚Muslim‘, ‚Türke‘, ‚Anderer‘ bzw. ‚Mensch, der nicht hierher gehört‘ besser ertragbar.“ (Ebd.: 22)
Neben charakterlichen Zuschreibungen, die mit der ‚Kartoffel‘ ausgedrückt werden sollen, gibt es etliche, die auf Aussehen und Physiognomie anspielen, wie an einigen Beispielen aus der deutschen Rapszene deutlich wird; z.B. in dem Lied „Die Abrechnung“ (2005) des deutsch-türkischen Rappers Eko Fresh, in dem es heißt: „Und jetzt dieser Fler [ein deutscher Rapper], du fette Kartoffel, komm ein bisschen näher.“ Oder auch von Kollegah [selbst deutscher Rapper] im Lied „Fanpost“ (2009): „Du warst die fette Kartoffel, dann die schlanke Kartoffel“ – dabei geht es eindeutig, wie im (Battle-)Rap im Allgemeinen nicht unüblich, darum, den Gegner sprachlich zu diskreditieren. Anders hört sich ein Lied von Jan Delay aus dem Jahr 2006 „Kartoffeln“ an: „Wir tragen die schlimmsten Klamotten – die Hosen Karotten und Sandalen mit weißen Socken – Kartoffeln!“ Delay nutzt das Stereotyp hier um ein witziges Selbstbild zu schaffen, das auf den angeblichen Kleidungsstil von Deutschen abzielt. Die Funktion dieser Bezeichnung ist eine offensichtlich spielerische.
Schlussbetrachtung
Die Bezeichnung ‚deutsche Kartoffel‘ ist ein Phänomen, das in etwa um die Jahrtausendwende Eingang in die Alltagssprache gefunden hat, vermutlich aber auch schon früher. Seine Präsenz und die entstandene Diskussion wurde erst durch konservative und rechte Akteure, vermutlich mit Erscheinen von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab, ins Zentrum öffentlicher Diskussion gerückt. Medien und Politiker widmen sich seither dem Thema der ‚Deutschenfeindlichkeit‘, die über diese Zuschreibung ins Blickfeld geriet. Allerdings wurde auch gezeigt, dass ‚die deutsche Kartoffel‘ nicht nur in auf politischer Ebene diskutiert wurde, sondern auch auf in der Literatur und Popkultur verhandelt wurde. Wie eingangs erläutert, ging es in dieser Arbeit nicht darum zu analysieren, ob der Ausdruck rassistisch ist oder nicht, sondern darum, eine mögliche Erklärung dafür zu finden, wie sich dieser Stereotyp historisch ableiten lässt, wie er sich verbreitet hat und was mit ihm zum Ausdruck gebracht werden kann.
So konnte werden, dass Essen nicht nur ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens (physiologisch und sozial) ist, sondern auch mit unserer Identität verbunden ist; es prägt unseren Charakter, unsere Vorlieben und Einstellungen. Wir müssen von Geburt an lernen, was und wie gegessen wird. Dieser Konsens über Speisen und Essgewohnheiten ist abhängig von Faktoren wie wirtschaftlicher und geographischer Lage, Religion, Notständen usw.. So wurde auch deutlich, dass die breite Akzeptanz von Kartoffeln in Deutschland (und auch in vielen anderen europäischen Ländern) aus der Not heraus entstanden und vor allem Hungersnöten und Kriegen geschuldet ist. Denn die Knolle ist weder in Deutschland beheimatet, noch wurde sie anfangs geschätzt. Dennoch hat die Kartoffel in der deutschen Küche einen besonderen Stellenwert errungen, vor allem im 19. Jahrhundert. Allerdings hat die Kulturgeschichte der deutschen Kartoffel auch gezeigt, dass ihre Bedeutung in der deutschen Selbstwahrnehmung heute nicht mehr relevant ist. Ebenso wurde deutlich, dass die deutsche Nationalküche als solche nicht existiert, obwohl die Identitätszuschreibung ‚deutsche Kartoffel‘ das Gegenteil impliziert.
Diese Beobachtungen decken sich auch mit den Aussagen von Hahn, dass Stereotyp und Realität keineswegs kongruent sein müssen. Trotz der Tatsache, dass die Bezeichnung sich weniger auf die Realität stützt, haben wir es mit einem kulinarischen Stereotyp zu tun, der eine nationale Identitätszuschreibung vornimmt, weshalb auch zu fragen war, was Stereotype sind, wie sie entstehen und welche Funktionen sie einnehmen. Anhand der theoretischen Ausführungen von Hahn und weiteren historischen Beispielen wie dem italienischen ‚Makkaroni-Esser‘ konnte gezeigt werden, dass derartige nationale Stereotype zunächst als einfache Distinktionsmerkmale dienen, mit denen sich ein- und ausgrenzen lässt, also Gruppenzugehörigkeit und Ausgrenzung verhandelt werden kann. Speisen erweisen sich in diesem Zusammenhang als einfaches und probates Mittel, Differenz zu markieren, eben auch deshalb, weil sie Identität stiften und mit dem Menschen in emotionaler und sozialer Verbindung stehen. Die Soziologin Anne Murcott sieht in ihrem Artikel „food as an expression of national identity“ daher die Verbindungslinie vor allem in der strukturellen Ähnlichkeit von nationalen Identitäten und Nahrungsmitteln bzw. Essgewohnheiten: „[W]e use diet and eating habits to express national identity as a result of the conjunction between the malleable, modular nature of national identity and the flexibility and ubiquity of food as a medium of communication.“ (1996: 69) Damit hebt sie hervor, dass Nahrung und Essgewohnheiten (neben anderen Dingen und Praktiken) nicht nur Bedeutung generieren, sondern wie nationale Identitäten – und damit verbundene Stereotype – als Vehikel und Ausdruck flexibler und sich verändernder historischer Phänomene herhalten können. Der Bedeutungsgrad von nationalen Zuschreibungen schwankt dabei je nach gesellschaftlicher Situation ebenso wie die symbolische und emotionale Relevanz von Lebensmitteln.
Dass derartige Zuschreibungen insbesondere von migrantischen Jugendlichen genutzt werden, deckt sich in großen Teilen mit den Ausführungen von Tanner. Auch hier stehen die Themen Migration und Abgrenzung im Vordergrund: Die Vermischung von Nationalitäten und damit verbunden die unterschiedlichen Esskulturen resultieren vor allem aus Konfliktsituationen durch den Wunsch nach Abgrenzung bzw. Zugehörigkeit. Die Grenzen von Hetero- und Autostereotypen sind dabei fließend: Wer über ein bestimmtes Stereotyp ein starkes Wir-Gefühl erzeugt, grenzt den Anderen aus und andersherum. Stereotypen als verallgemeinernde Aussagen und Wertzuschreibungen stärken demnach kollektive und nationale Identitäten und ermöglichen Vergleiche zwischen dem Wir und den Anderen. Besonders deutlich wurde, dass die ‚deutsche Kartoffel‘ dabei gerade jene Funktion einnimmt, die der Ethnologe Andrzej Migra im o.g. Zitat zu Auto- und Heterostereotypen hervorhebt: Indem jemand ein Heterostereotyp nutzt, werden gleichzeitig Inhalte seiner bzw. ihrer eigenen Identität zum Ausdruck gebracht, was sich auch mit den Ausführungen von Adler und Sinanoğlu deckt: Der Nicht-Deutsche möchte mit der Zuschreibung ‚deutsche Kartoffel‘ seine eigene Identität stärken und sich seiner eigenen Gruppenzugehörigkeit vergewissern. Auffällig ist auch die Tatsache, dass die Zuschreibung keineswegs auf eine einzige Bedeutungsdimension ausgerichtet ist, sondern sehr unterschiedlich ausgelegt wird, in Abhängigkeit vom jeweiligen Nutzer bzw. Rezipienten. Je nach Situation kann mit dieser kulinarischen Stereotypisierung eine Antipathie oder Sympathie verhandelt werden, was sie flexibel und anpassungsfähig macht.
Wie eingangs angesprochen wurde, kann das Stereotyp unter bestimmten Umständen schließlich auch in einer politischen Auseinandersetzung gezielt instrumentalisiert werden, sodass damit Feindbilder und Bedrohungsszenarien heraufbeschworen werden. Diese lassen dann Abwehrhaltungen und -handlungen als gerechtfertigt erscheinen. Auch wenn Stereotype sich generell nur schwer eliminieren lassen, weil sie uns dabei helfen, uns durch Kategorisierung Orientierung in unserer Umwelt zu verschaffen, können wir sie umgehen, wenn wir uns bewusst werden, wie wandel- und austauschbar sie sind. So wie heute keiner mehr von den ‚Krauts‘ spricht, wird morgen auch niemand mehr von der ‚deutschen Kartoffel‘ sprechen.
Lana Kvitelashvili (Studentin des MA Angewandte Kulturwissenschaft und Kultursemiotik)
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Autorin | Lana Kvitelashvili |
Zeitraum | März 2019 |