Musikwissenschaft
Konzertausstellung "Kosmos Diabelli-Variationen" im Musikinstrumenten-Museum Berlin
EIN INTERAKTIVES WANDELKONZERT
Die Neuauflage der ursprünglich 2020 im Kammermusiksaal des Musikinstitutes konzipierten Ausstellung wurde im Oktober 2022 erfolgreich im Musikinstrumenten-Museum Berlin umgesetzt.
Die Diabelli-Variationen sind, als würde man einen VW-Käfer zerlegen und die Vision eines Bentleys entwickeln“, sagte einmal der österreichische Pianist Rudolf Buchbinder. Sein Vergleich lässt die Dimension und Komplexität der „33 Veränderungen“ erahnen, die Ludwig van Beethoven 1823 zu einem Walzer des Wiener Komponisten und Musikverlegers Anton Diabelli schuf. „Fast eine Stunde Klaviermusik, Variation an Variation gereiht, Wiederholung an Wiederholung und doch überall Differenz, Eigensinn, Poesie und noch nie Gehörtes“, heißt es in der Einführung zu einer Konzertausstellung, die die Uni Potsdam unlängst im Berliner Musikinstrumenten-Museum präsentierte.
In einem Projektseminar hatte Musikwissenschaftler Professor Christian Thorau mit Lehramts-Studierenden versucht, das Werk nicht nur zu analysieren, sondern auch zu visualisieren. Dass das Seminar im Corona-Semester online stattfinden musste, schien nicht zu stören. Im Gegenteil. Hatten die Studierenden doch alle Register der ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Instrumente gezogen, um für die Ausstellung virtuelle Klangräume zu erschaffen und musikalische Strukturen sichtbar zu machen.
Die erste Visualisierung der Musik Beethovens sind die vor 200 Jahren geschriebenen Noten. In einem gemütlichen Sessel sitzend konnten die Besucher der Konzertausstellung ein Faksimile des Autographs gedruckt oder digital durchblättern und dabei die originalen Anmerkungen und Streichungen des Komponisten studieren. Überklebungen, Einlegeblätter, mit roter Tinte geschriebene Korrekturen geben bis heute Einblick in Beethovens Arbeitsweise und seine künstlerischen Intentionen.
Alle weiteren Bilder zu den Diabelli-Variationen entstehen in den Köpfen derer, die sich das Werk aneignen Für ihr Projekt hatten die Studierenden deshalb die sehr verschiedenen Assoziationen berühmter Interpreten in einer Tabelle gegenübergestellt und schließlich ihren Klavierdozenten Detlef Pauligk gebeten, seine eigenen hinzuzufügen. Variation IV zum Beispiel nennt er „widerborstig, stur und stolz“, während der österreichische Pianist Alfred Brendel ihr einmal den Titel „Fleißiger Nussknacker“ gab. Aber auch jene Bilder, die die Zuhörenden in den Variationen „sehen“, wurden von den Studierenden erfragt und als Wortsammlung an die Wand projiziert.
Eine ganz andere Ästhetik entfalteten Bilder, die mithilfe von MIDI, einer digitalen Schnittstelle für Musikinstrumente, die am Keyboard gespielten Töne mit ihren unterschiedlichen Höhen und Längen als kleine schwarze Blöcke sichtbar machen. So entstande Chiffren, die entfernt noch an Noten erinnern. Am Computer verschiedenfarbig unterlegt, ließen die Bilder musikalische Strukturen erkennen – eine andere, eine neue Form, Musik in Zeichen zu setzen.
Doch lässt sich der Computer tatsächlich für die Musikanalyse nutzen? Was kann durch Algorithmen zuverlässig erfasst werden? Oder obliegt es allein dem Zuhörenden, zum Herz eines Musikstücks vorzudringen? Studentin Esther Brauns zeigte in der Ausstellung, mit welchen IT-Methoden Wissen über Musik aus Audiosignalen gewonnen werden kann und wie die Daten analysiert, visualisiert und gedeutet werden. Ihr Kommilitone Oktavian Wojciechowski lud zu einem Rundgang durch sein digitales „Museums der Diabelli-Variationen“ ein, das er mit der von Gamedesignern und Architekten genutzten Software Unreal Engine geschaffen hatte. Darin fanden sich verschiedene Hörbeispiele und all die Analyse- und Darstellungsformen, die im Projektseminar entwickelt worden waren. Ein Ausflug in virtuelle Klangräume.
Doch als sich der Pianist des Abends, Björn Lehmann, inmitten des Museums an den Flügel setzte, konzentrierten sich die Sinne auf das Hier und Jetzt. Mit den Augen konnten die Zuhörenden einem Lichtstrahl folgen, der parallel zur Musik über die an die Balustrade des Obergeschosses gehefteten Variationsbezeichnungen wanderte und anzeigte, an welcher Stelle des Stücks sich der Pianist gerade befand. Gleichzeitig wechselten die Visualisierungen nun koordiniert mit der live erklingenden Musik – die Ausstellung spielte also die Musik mit.
Aufsehen erregten die Transformationen, mit denen Studierende im Konzert an einem zweiten Flügel kontrastierende Zwischentöne setzten, unter anderem mit einer Variation des Komponisten Gösta Neuwirth für präpariertes Klavier und zwei Uraufführungen des Berliner Kompositionsstudenten Cya Bazzaz. Zudem spielte die Cembalistin Li-Chun Su Variationen von Franz Liszt und Franz Schubert.
Auch wenn nicht immer solch herausragende Solisten und ein so perfektes Ambiente wie im Musikinstrumenten-Museum zur Verfügung stehen, kann die Ausstellung doch weiterwandern und zum Beispiel im schulischen Unterricht durch den Beethovenschen Kosmos lenken. Einige der Studierenden, die am Projekt mitwirkten, absolvieren inzwischen ihr Referendariat, so wie Nina Roska, bei der alle organisatorischen Fäden zusammenliefen. Für die Produktionsleitung kam sie noch einmal kurzzeitig an ihre Uni zurück. „Das Projekt begeistert mich nach wie vor, da wir es geschafft haben, Musik auf unterschiedlichste Weise für jeden verständlich zu machen und verschiedene Zugänge für die Analyse zu finden. Genau das mache ich in der Schule jeden Tag – verschiedene Angebote schaffen, sich mit Musik auseinanderzusetzen und dabei nicht nur an der Oberfläche zu kratzen“, sagt Nina Roska, die derzeit Referendarin am Marie-Curie-Gymnasium in Dallgow-Döberitz ist. „Ich kann mir gut vorstellen, in der Zukunft einige der methodischen Ansätze unserer Visualisierungen von der Ausstellung in meinen Unterricht zu integrieren.“
Antje Horn-Conrad (Januar 2023)
Mitwirkende
Björn Lehmann (Klavier), Li-Chun Su (Cembalo, Hammerflügel) und Studierende der Universität Potsdam
Leitung
Prof. Dr. Christian Thorau und Prof. Dr. Conny Restle.
Weitere Informationen und Videos zur Ausstellung aus dem Jahr 2020 finden Sie hier.